Главная страница «Первого сентября»Главная страница журнала «Немецкий язык»Содержание №5/2007

Reisebericht

Eine Stunde in einem Kinderheim

Zum ersten Mal hatte ich von diesem Kinderheim im November 2006 gehört und damals auch erfahren, dass «das Heim von zwei Schützenpanzerwagen bewacht wird ... und Ruslan dort Direktor» sei. Ruslan?! Eben der Ruslan, den ich schon vorher ein paarmal gesehen hatte? Den wollte ich unbedingt besuchen! Und der Wunsch wuchs und wuchs und wurde so stark, dass er Angst und Befürchtung überdeckte.

Das Kinderheim ist im Dorf Gwardejskoje, in der Tschetschenischen Republik, und was da so Tag für Tag geschieht, das weiß man ja aus den Medien.

Neujahr ist ein Fest, mit dem man die Erfüllung von Wünschen verbindet. Mein dringendster Wunsch für das neue Jahr ist schon am 5. Januar in Erfüllung gegangen, als ich im Urlaub bei Verwandten im Kaukasus war.

Früh am Morgen wurde ich wach, habe Licht gemacht, «Brüder Karamasoff» aufgeschlagen und bin zum x-ten Mal bei dem Satz hängen geblieben: «Kinder kann man auch in der Nähe lieben, sogar schmutzige, sogar hässliche... (Übrigens finde ich, dass kleine Kinder nie hässlich sind...)» Die Klammern da stören mich. Warum klammert Dostojewski das ein??? Das muss großgeschrieben oder fett oder kursiv gesetzt werden! Vielleicht wollte der Autor, dass ich aufmerksam, ohne Eile lese.

Ich lese weiter, sehr langsam, diese grauenvollen Zeilen und denke: «Gott sei Dank, das ist nicht über unsere Zeit und nicht über uns geschrieben...»

Bei Tagesanbruch konnten wir, mein Bruder und ich, uns auf den Weg machen. Wir haben zuvor noch auf dem Markt in Mosdok Obst gekauft und fuhren dann los. Mosdok – die Kalinin-Siedlung, dann durch die Dörfer Terskaja und Oktjabrskoje und schon sind wir in Tschetschenien, es geht noch durch Bratskoje und – das nächste Dorf ist Gwardejskoje. Der ganze Weg war zirka 30 Kilometer. Zwischen den Dörfern waren schreckenerregende Milizposten, aber komischerweise waren die Milizsoldaten höflich, sie kontrollierten die Papiere und Ausweise und wünschten uns gute Reise.

Ein heller, sonniger Tag, mit spärlichem Schnee bedeckte Felder, scharfe Bergumrisse in der Ferne. Da ist Bratskoje! Es ist sehr ruhig hier, keine Schüsse, keine Militärtechnik, nichts! Ein ruhiges friedliches Leben! Eine Frau mit einem kleinen Kind, das kaum noch gehen kann, die große Moschee aus Ziegeln, kleine Geschäfte, ein Markt. Was sofort auffällt: die guten Straßen, sehr glatt und ohne Schlaglöcher und zahlreiche neu gebaute bzw. wiederaufgebaute Wohnhäuser. Warum werden in relativ alten Dörfern auf einmal so viele neue Häuser gebaut – ... weil die alten zerstört worden sind... Als ich dem Bruder sagte, dass eines der ewigen, unlösbaren Probleme in Russland (schlechte Straßen) für diese Strecke nicht gilt, antwortete er: «Du hättest diese Straße vor ein paar Jahren sehen sollen. Da konnte man kaum vorwärts kommen, maximal 15–20 Kilometer pro Stunde. Es war kein Asphalt, lauter tiefe Mulden und Schlaglöcher.»

Und dann lag Gwardejskoje vor uns, in einem tiefen Tal. Ein sehr großes Dorf. Wir wussten nicht, wohin wir uns wenden sollten, wie die Institution genau hieß, wussten wir auch nicht und Ruslans Familiennamen? ...auch den kannten wir nicht.

Ruslan mit den KindernDa wurde ich mir plötzlich der eigenen Dummheit bewusst, denn diese spontane Fahrt war nichts als eine große Dummheit, genau im Sinne der beliebten russischen Märchengestalten: Gehe hin, ich weiß nicht wohin, und bring das, was ich nicht weiß... Als ich das dem Bruder sagte, lächelte er verschmitzt: «Du sagst, die werden von zwei Schützenpanzern bewacht? Da müssen wir zuerst die Panzer suchen und das Heim ist dann irgendwo in der Nähe.» Und nach einer Pause: «Wo ist das Problem? Wir können fragen, wo das Kinderheim ist.» Ich erwiderte: «Fragen können wir schon, aber wer wird mit uns sprechen? Unbekannte, wildfremde Leute, das Auto mit ossetischen Nummernschildern… Die werden bestimmt Angst vor uns haben und nicht mit uns sprechen.» Der Bruder lachte: «Die Leute hier haben viel erlebt und durchgemacht. Die werden sich durch Autos mit ossetischen Kennzeichen nicht einschüchtern lassen! Da steht eine Frau, frag sie.» Ich stieg aus, fragte die Frau, wo das Kinderheim sei, wie man hinfahren könne und dass wir die Kinder besuchen möchten. Sie erschrak nicht, was ich eigentlich gedacht hatte, sondern lächelte freundlich, bedankte sich (!!!) und sagte: «Noch ein Stück weiter geradeaus, dann nach links, können es nicht übersehen.»

Und wirklich, das Kinderheim war gleich hier in der Nähe.

Das Tor stand weit offen, vor dem Eingang ein Wachposten, wir fragten, ob Ruslan da wäre. «Nee, noch nicht da, kommt bisschen später.» Und dann rief er an und sagte ihm, dass Besuch da sei. Etwas später hielt vor dem Heim ein weißer Wolga, Ruslan stieg aus. Freundlich lächelnd bat er uns hinein.

«Das war mal ein Kulturhaus. Hier waren Ruinen. Wir haben es selbst wiederaufgebaut, Erwachsene und Kinder.» Im Heim war es sehr gemütlich, sauber und hell. An den Wänden ist die neuste Geschichte Tschetscheniens dargestellt. Auf einem Foto dasselbe Gebäude, aber noch als Ruine. Auf einem anderen Foto – der Wiederaufbau, was für eine Arbeit! Ein Junge mit einem Hammer, sehr geschickt. Und weiter: Frieden, Gäste zu Besuch bei den Kindern, die Kinder in Moskau, in Rostow, Wjoschenskaja…

Aus Ruslans Kommentaren zu den Fotos wurde besonders klar, dass Krieg und Frieden, Leben und Tod Hand in Hand gehen. Viele Leute, die von den Fotos herablächeln, gibt es nicht mehr.

In der Sporthalle stand noch ein riesengroßer Neujahrsbaum, in der Aula roch es nach Farbe und Lack. Neue Möbel, neue Technik, digitale schnurlose Mikrofone bis hin zu Synthesizern: Die Kinder müssen doch lernen!

Vor Ruslans Arbeitszimmer bin ich stehen geblieben und habe das Schild gelesen: «Direktor Jussupow Ruslan Katajewitsch». Nun wusste ich endlich, wie er richtig heißt!

Ruslans Arbeitsplatz hat mich sehr beeindruckt. Nicht der moderne Computer oder die Kopiergeräte und weitere Technik, sondern eine Gitarre, die da auf einem Stuhl lag, die vielen Diplome und Urkunden an der Wand und die Papierberge auf dem Schreibtisch. Sofort versteht man, dass Ruslan nicht viel Zeit an seinem Schreibtisch verbringt. Und dann waren da noch die Arbeiten der Kinder: Zeichnungen, Stickereien – wahre Meisterstücke. Was Krieg ist, wissen die hiesigen Kinder nicht aus den Büchern, sondern aus ihrem eigenen Leben. Sie sind müde vom Krieg und sehnen sich nach Frieden. Sie wissen ein friedvolles Leben zu schätzen. Der Wunsch nach Frieden, nach einem ruhigen Leben, nach Sicherheit und Geborgenheit spiegelt sich in den Kinderarbeiten wider. Alle Arbeiten, die ich gesehen habe, stellen das alltägliche ruhige Leben dar, sei es eine gestickte Katze mit ihrem kleinen Kätzchen oder ein Turm in den Bergen, der Hof vor dem Kinderheim...

Diese Arbeiten hier sind bereits in Moskau ausgestellt worden und sie werden auf einer Ausstellung von Arbeiten tschetschenischer Kinder auch in Straßburg/Frankreich, der Stadt mit dem Sitz des Europarates, gezeigt werden.

Ruslan kennt seine Kinder sehr gut. Er hat uns in seinem Arbeitszimmer Fotos gezeigt und sehr zurückhaltend, ja knapp von ihnen erzählt: «Die Mutter dieses Jungen war im Gefängnis», «Der Vater dieses Mädchens ist ermordet worden», «Die hat weder Vater noch Mutter». Bei dem Satz «Hier wird der Muttertag gefeiert» brach ich in Tränen aus. Schon immer ist die Mutter der wichtigste Mensch im Leben der Tschetschenen. Das spiegelt sich in zahlreichen Sagen und Epen wider: Vor dem Kriegszug leistet der Held seiner Mutter einen Tapferkeitseid. Dann gibt es für ihn keine Möglichkeit zu Mutlosigkeit, es gibt für ihn kein Zurück mehr. Und der höchste Lohn für seine Heldentaten ist die Anerkennung der Menschen und der Stolz der Mutter auf ihren tapferen, heldenhaften Sohn.

Wer wird diesen Kindern Misserfolge überwinden helfen, wer wird stolz sein auf ihre Erfolge, wenn die Mütter fehlen?

Alles war sehr rührend. Ich musste ab und zu die Zähne zusammenbeißen, um nicht nochmals zu weinen. Wie könnte ich ruhig bleiben, als uns Ruslan den von «seinen» Kindern gestifteten Orden der Güte zeigte? Die Kinder lernen und lehren die Erwachsenen, das Böse durch das Gute zu überwinden. Deswegen – Orden der Güte, weil in der Gesellschaft ausgerechnet an Güte mangelt. Dieser Orden wird denjenigen verliehen, die die Kinder für ihre besten Helfer halten. Bekommen haben ihn schon W. Spiwakow,
J. Solomin, L. Roschal, O. Deripaska, insgesamt 18 Personen, von denen vier nicht mehr leben.

Es war sehr still im Heim, für ein Kinderheim zu still. Ich habe Ruslan gefragt, wo die Kinder wären und ob ich sie sehen dürfe. «Na klar!», meinte er. «Es wohnen hier insgesamt 46 Kinder, aber zurzeit sind nur elf da. Die anderen sind bei Verwandten oder bei Erziehern.» Elf Kinder haben also niemanden und wissen auch nicht, wohin sie gehen könnten.

Die Kinder waren im Fernsehraum und sind zu uns gekommen. Größere und kleinere, schwarz- und rothaarige, sauber gekleidet, schüchtern, zurückhaltend, sanft lächelnd. Mit erwachsenem Blick. Mit traurigen Augen. Sie streckten uns nicht die Hand entgegen zur Begrüßung, diese Art von Begrüßung schienen sie nicht zu kennen. Umarmung – das ist die Begrüßung, die sie kennen. Für jedes Kind hat Ruslan ein gutes Wort, jedes Kind hat er gelobt: «Der ist der Klügste», «Das ist ein sehr gutes Mädchen». Und über das kleinste Mädchen: «Sie ist die Schönste.»

Orden der GüteIch wollte die Kinder nicht mehr länger aufhalten und habe sehr schnell ein Foto im Foyer gemacht, mich bedankt und hinzugefügt: «Vor einer halben Stunde konnte ich mir nicht mal vorstellen, dass es hier so ruhig und friedlich ist.» Die Erzieherin meinte daraufhin: «Na ja, hier ist es ruhig und nicht gefährlich. Sie brauchen hier keine Angst zu haben. Wir haben Angst, wenn wir nach Moskau kommen und von Milizionären zur Passkontrolle angehalten werden. Und wenn die sehen, dass wir aus Tschetschenien sind, dann wollen sie von uns unbedingt Geld haben. Nach Moskau zu fahren, das ist für uns ein echtes Problem.» Ich wollte vor Scham in die Erde versinken. Ruslan kam zu Hilfe: «Zwei Kinder haben sich zum Islam bekehrt. Räume reichen hier nicht aus, aber wir haben für Kinder ein Gebetszimmer eingerichtet. Möchtest du es sehen? Schau hinein.» Während ich «hineinschaute», blieben die Kinder in der Halle stehen. Ich als Ältere und als Besucherin musste ihnen sozusagen offiziell erlauben, zu gehen. Ohne Erlaubnis durften sie nicht gehen, denn das gilt als sehr unhöflich.

Wir mussten zurückfahren. Im Hof hat Ruslan uns viele junge kleine Bäume gezeigt: «Jedes Kind hat einen eigenen Baum, den es gießt und um den es sich kümmert. Das sind Obstbäume. Ich will nicht, dass die Kinder in fremde Höfe hineinschauen und von fremden Bäumen Äpfel pflücken. Sie müssen wissen, dass sie alles hier, in ihrem Zuhause, haben. Es herrscht nun eine Art Wettkampf, wessen Baum am schnellsten wächst...»

Auf dem Rückweg habe ich gedacht, dass mir während des Besuchs, der nicht mal eine Stunde dauerte, zahlreiche Assoziationen durch den Kopf schossen. Der Junge mit dem Hammer auf dem Foto – als ich ihn sah, dachte ich an Trümmerfrauen. Trümmerfrauen, die nach dem Zweiten Weltkrieg die zerstörten Städte wiederaufbauten. Trümmerkinder, die nach dem Zweiten Tschetschenischen Krieg ihr Heim wiederaufbauten...

Ruslan hat gesagt: «In Tschetschenien gibt es gegenwärtig über 330 Vollwaisen.» Über 330 Gräber sind auf dem neuen – wie er noch genannt wird – Schulfriedhof oder Kinderfriedhof in Beslan. Seit Ende Dezember sind da über 330 Gräber und noch ein Grab. Eine 33-jährige Frau, die Schulbibliothekarin, ist an Herzversagen gestorben. Zwei Jahre und drei Monate hat sie nach der Tragödie mit Splittern im Körper gelebt, die nicht rausgeholt werden konnten…

Am Eingang im Hof, wird ein neues Kinderheim gebaut, ein neues zweistöckiges Gebäude. Die Wände und das Dach sind schon da, aber noch keine Fenster. Von diesem neuen Gebäude musste ich mich immer zwanghaft abwenden, denn ich habe extreme Angst vor Häusern und Gebäuden ohne Fenster. In dieser berüchtigten Beslaner Schule Nr. 1 gibt es keine Fensterscheiben mehr. Sie steht stumm und schaut die Besucher mit hohlen Augen an, zerreißt ihnen den Verstand und die Seele und lässt keine Hoffnung...

Das neue Gebäude des Kinderheims «Wir haben einen kleinen Bus geschenkt bekommen... Früher hatten wir auch einen ‹Niwa›. Aber das Ministerium für Soziale Fürsorge hat ihn uns weggenommen... Es brauche ihn, die Kinder kämen irgendwie ohne den ‹Niwa› aus.» Diese Klage von Ruslan hat sich mir eingeprägt. Seltsamerweise musste ich an Makarenko denken: Am fürchterlichsten finde ich in seinem «Pädagogischen Poem» die Stellen, wo Behörden und Behördchen, Personen und Persönchen ihn bei der Arbeit in der Gorki-Kolonie stören, sei es durch Geldentzug oder durch unzählige Hospitationen. Lauter Hindernisse wurden ihm in den Weg gelegt; Störtätigkeit anstelle von Hilfe. Viele Jahre sind vergangen und im Grunde genommen hat sich nichts verändert...

Was das Leben für diese armen Kinder bereithält, weiß ich nicht. Eines Tages, sehr bald, sind sie erwachsen und fragen, welche «höchste Harmonie» sie mit ihren Tränchen bezahlt haben. Ich habe Angst vor der Frage. Ich weiß keine Antwort. Ich will die Last der Verantwortung und der Schuld von mir abwerfen, aber das gelingt mir nicht.

Ich finde es schade, dass ich mich nicht getraut habe, um eine der Kinderarbeiten zu bitten, und dass ich Ruslan nicht gefragt habe, wo denn die beiden Schützenpanzerwagen wären...

Marianna Busojewa