Главная страница «Первого сентября»Главная страница журнала «Немецкий язык»Содержание №11/2008

Das liest man in Deutschland

Gott und die Welt

Vor 200 Jahren ist Goethes «Faust» erschienen, der uralt, sehr modern und ganz aktuell ist.

Plötzlich, wie über Nacht, ist der Frühling gekommen. Das will etwas heißen: Wenn das Eis endlich schmilzt, kann der Fluss die Stadt mit Waren versorgen, dann wird der stinkende Dreck aus den engen Straßen gespült, dann ist mehr Waschwasser da, die Mühlen nehmen ihren Betrieb wieder auf. Frisch gewaschen kann man sich näher kommen. Und wie aus dem getauten Boden geschossen sind Spaziergänger aller Art, Bettler, Handwerker, Bürger, Dienstmädchen, im Freien vor der Stadt unterwegs. Als Sehnsüchtige sind sie jetzt gleicher als sonst. Man hat frei, fühlt sich auch so, jedenfalls vom Eise befreit, es ist Ostern!

«Jeder sonnt sich heute so gern», sagt da wie beseelt ein Spaziergänger zu seinem Begleiter, «Sie feiern die Auferstehung des Herrn, / Denn sie sind selber auferstanden, / Aus niedriger Häuser dumpfen Gemächern, / Aus Handwerks- und Gewerbes-Banden, / Aus dem Druck von Giebeln und Dächern, / Aus der Straßen quetschender Enge, / Aus der Kirchen ehrwürdiger Nacht / Sind sie alle an’s Licht gebracht.»

So viel Ostern kann einen etwas misstrauisch machen
Frühling, Übergangszeit, Sattelzeit: So klingt das aufgeklärte Deutschland um 1800. Ans Licht! Auferstehung buchstabiert sich hier weltlich, die fällige Befreiung aus Dumpfheit, Enge, Druck und Dunkelheit bringt zwar keine politische Revolution, aber immerhin ein naturchristlicher Frühling; und Bildung plus etwas Liebe tun das Ihrige zur Freiheit dazu. Statt der französischen gewalttätigen Umstürze findet hier friedlich ein ständeübergreifender Osterspaziergang statt, nach deutscher, ziemlich protestantischer Art, kirchenfern, naturfromm, es wird lieber nicht politisiert, sondern stattdessen gewandert. Und ein gelehrter Interpret des Geschehens hat sich unter den Spaziergängern auch gefunden, der vertont also, den Pudel schon auf den Fersen, die Auferstehung neu.

Das ist der Faust. Goethes Faust, Doktor einiger Künste, der allerdings wenige Stunden vor diesem Osterspaziergang noch des Lebens so müde war, dass er das tödliche Gift schon an die Lippen gesetzt hatte. Bis plötzlich in tiefer Nacht ein Chor der Engel erklang, «Christ ist erstanden», dessen heller Ton «mit Gewalt» den Lebensmüden am Selbstmord gehindert hat. Vom Tod zum Leben, wie es zur Osternacht passt: Das könnte den Leser oder Zuschauer christlich erbauen, läge diesem Faust ein bekennendes Christentum nicht ebenso fern wie Goethe, seinem Autor, das ist ja bis in alle Parodien bekannt: «Die Botschaft hör’ ich wohl, allein mir fehlt der Glaube.» Das kann einen etwas misstrauisch machen.

Warum also ist so viel Ostern um diesen Faust, der vor genau 200 Jahren erschien? Sein aufgeklärt naturgläubiger Autor hatte schon im Juli 1797 geschrieben, der Faust werde bald zu des Publikums «Verwunderung und Entsetzen wie eine große Schwammfamilie aus der Erde wachsen». Es hat länger gedauert, bis Ostern 1808, da erschien Faust. Eine Tragödie zur Buchmesse, als Band 8 der Werkausgabe bei Cotta. Und darin waren nun erstmals, anders als in Goethes sogenanntem Urfaust der 1770er Jahre, anders auch als in seinem Faust-Fragment von 1790, die wiederbelebende Osternacht, der Osterspaziergang und das österlich motivierte Auftauchen Mephistos enthalten.

Dies alles hatte Goethe sich etwa zehn Jahre nach der Französischen Revolution ausgedacht, wie überhaupt die metaphysische Einbettung der Handlung. Auch den Prolog im Himmel nebst Gott dem Herrn hat Goethe erst um 1800 ins Stück eingebaut; genauer gesagt, er hat Gott und den gefallenen Engel Mephisto vor Beginn des Stücks, bevor also die Gelehrten-Tragödie, dann die Gretchen-Tragödie ihren Lauf nehmen, im Himmel über den Faust debattieren lassen. Mephisto will es schaffen, den Gottesknecht Faust von seinem «Urquell» abzuziehen, das nennt er Wette. Die nimmt Gott zwar nicht an, aber er lässt den Mephisto zuversichtlich gewähren, als sei’s ein Spiel, das ein liberaler Vater gewährt.

Das biblische Buch Hiob liefert die Vorlage für diesen Prolog, der die existenzielle Frage nach der Zukunft der Menschlichkeit aufwirft, aber gegenüber dem Original an Unterhaltungswert kräftig gewinnt: Der Herr wird vom Autor zugleich verbürgerlicht und als Schöpfer, als allmächtiger Ursprung gewürdigt. Hier weist Goethe die Plätze an: Die Faust-Figur, zuerst Stoff eines deutschen Volksbuchs des 16. Jahrhunderts, wird jetzt sichtbar zum modernen Bühnenexempel gemacht. Der Übermensch Faust hängt von Anfang an als Puppe an den Fäden seiner Regisseure, des Autors zuallererst, aber eben auch Gottes.

So beginnt das Drama, das lange als das deutscheste galt, obwohl es doch das Gesicht der europäischen Moderne zeigt: die Tragödie des rastlosen männlichen Individuums, das sich grenzenlos selbst vergöttert und dabei nach und nach alles zerstört, Wissenschaft, Geliebte und eigenes Kind, dann die Natur, also die Zukunft. Weil heute jeder ein Kind dieser maßlosen Moderne ist, die seit gut 200 Jahren rücksichtslos die Lebensgrundlagen verschlingt, lässt einem dieses Stück keine Ruhe.

Warum aber derart viel Ostern in das Spiel hineinkam, das über Tausende von Versen so tödlich verläuft, lässt sich nicht kurzerhand sagen. Man muss einen Umweg nehmen. Der Faust ist nichts für Leser, die es eilig haben. Die Angelegenheit lässt sich aber auch bündig wiedergeben. Teil I: Ein Mann ist als Gelehrter von seinem Wissen tief enttäuscht, er lässt sich mit dem Teufel ein, verliebt sich rasend und hinterlässt dabei drei Tote und eine Wahnsinnige. Teil II: Der Mann weitet mit dem Teufel sein rastloses Projekt aus zur Neuschöpfung der Zivilisation, jetzt umfasst die Handlung ein paar Tausend Jahre von der Antike bis in die Zukunft, und am Ende steht das Schlussbild einer natur- und menschheitsverschlingenden Moderne, einer Wüstenei des kapitalistischen Fortschritts. Der Glückssucher Faust ist zum Glück endlich tot. Zurück bleibt die Utopie des Ewigweiblichen, einer umfassenden Naturmütterlichkeit.

Dieser Epochenbefund kam auch nicht kurzum oder eines Tages zur Welt. Fast 60 Jahre hat Goethe am Faust gearbeitet, von etwa 1773 an, da war der Student 24 Jahre alt. Zur Ostermesse 1833, ein Jahr nachdem Goethe 82-jährig gestorben war, erschien der Faust II. Uraufgeführt wurde der erste Teil, wenngleich gekürzt und zensiert, erst 1829, der zweite Teil kam erst 1854 auf die Bühne, beide Teile zusammen 1876, da war der Urfaust nicht mal veröffentlicht. Der Faust ist unter anderem eine Jahrhundertaufgabe für Philologen gewesen.

Selbst das Erscheinungsdatum 1808 täuscht, denn fertiggestellt und abgeschickt hat Goethe das Manuskript bereits im April 1806, zu Ostern; der Druck hat sich nur wegen des napoleonischen Kriegs, der im Herbst 1806 auch nach Weimar kam wie später Napoleon selbst, um zwei Jahre verschoben. So tritt zu allem Komplizierten, das dieser Faust in sich hat, noch hinzu, dass er seinem Publikum erscheinen konnte wie eine deutsche titanische Antwort auf den Siegeszug des Titanen Napoleon. Dabei war, als die französische Version der Moderne über Weimar hereinbrach, der Faust ja längst fertig.

Aber was heißt bei diesem Stück fertig? Einschüchterung durch Klassizität hat Bertolt Brecht seine Anmerkungen zum unnahbaren Monument Faust überschrieben. Inzwischen aber, ein paar Entmythologisierungen später, kann einen die fortwährende Baustelle des Großunternehmens Faust eher anziehen als einschüchtern. Was für eine Hexenküche, in der Goethe da jahrzehntelang rührt, pfeffert und feuert! Wie eine Werkstatt steht das Werk heute jedem offen, der zusehen will, wie hier ein sehr skeptischer, sehr realistischer, sehr mütterlichkeitsgewisser Dichter und Naturforscher die europäische Moderne mit ihrem schwindelerregenden Welt- und Naturzerstörungsprogramm zu gestalten versucht. Das Werk verwandelt sich fortwährend, wie der Verwandlungsgott Proteus persönlich, und bleibt dabei doch ein Werk, ein Zusammenhang.

Um 1800 hat Goethe noch Gretchen im Kopf. Und schon Helena
Wer das Material dieser Textwerkstatt zeitsparend vereindeutigen will, scheitert. Goethe soll das Werk als «Kollektivwesen» bezeichnet haben, und das Wort trifft schon formal: Das Drama umfasst, gegen die Regeln der Tragödie, das gesamte kulturgeschichtliche Inventar an Reimen vom deutschen Knittelvers über den italienischen Madrigalvers und Shakespeares Blankvers bis zu den Freien Rhythmen und zudem fast alle Dramenformen der europäischen Theatergeschichte – vom Puppenspiel über die mittelalterlichen Mysterien- und Osterspiele bis zur antiken Tragödie, der Komödie und dem Bürgerlichen Trauerspiel steckt alles drin, alle Sorten, alle Epochen, alle Tonlagen. Auch für die Wissenschaftsgeschichte lässt sich das zeigen, von der Alchemie bis zu Wöhlers Harnstoff-Synthese hinterlässt alles Spuren im Faust, von Schellings Naturphilosophie bis zu Hufelands medizinischer Heilkunst. Von der Bibel noch ganz zu schweigen.

Und in einer weiteren Hinsicht ist diese Werkstatt sehr eigentümlich: Bis 1801 hat Goethe zwar den Faust I weitgehend in Form gebracht, aber auch schon viele der Helena-Verse und Schlusspassagen des II. Teils, die erst 30 Jahre später erschienen. Er hat also dreierlei gleichzeitig im Kopf gehabt: erstens die Gegenwart seiner Arbeit; zweitens die fast drei Jahrzehnte zurückliegende Vergangenheit, in der er für den Urfaust das so erdenwirklich liebende Gretchen erfunden hatte; und drittens die Zukunft der virtuellen Idealfrau Helena. In der Gegenwart um 1800 lebte Goethe selbst gegen jede Konvention unverheiratet mit Christiane zusammen, der geliebten Mutter seiner fünf Kinder, die bis auf einen Jungen Jahr für Jahr starben.

Zugleich hat er noch Schellings Naturphilosophie aufgenommen und mit Schiller über zukünftige Kunst nachgedacht, doch während der Arbeit an der Endfassung des Faust 1805/06 hat Goethe besonders an einer Reihe von Physikalischen Vorträgen gesessen, die klingen, als handelten sie von Faust und Mephisto: «Dualität der Erscheinung als Gegensatz. Wir und die Gegenstände. Licht und Finsternis. Leib und Seele. Zwei Seelen. Geist und Materie. Gott und die Welt». Andere Faust-Partikel dieser Zeit hat Goethe vorbeugend selbst zensiert, moralisch zu anstößig. So ist manche Passage der Tragödie erst vor ein paar Jahren gedruckt worden: 2000 Seiten umfasst die von Albrecht Schöne edierte Frankfurter Ausgabe von 1994, die besteht aus einem Textband und einem schon heute klassischen, über tausendseitigen Kommentar. Und, verrückt, weniger als das sollte man zum Faust auch nicht lesen.

Fortsetzung folgt

Der Text ist entnommen aus: http://www.zeit.de/2008/13/L-Faust-Ostern?page=all