Главная страница «Первого сентября»Главная страница журнала «Немецкий язык»Содержание №13/2009

Sonderthema

Aus dem Reich der Legende

Wie Stereotype die Sicht auf Johannes Calvin verstellen

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Genfer Akademie

Zahlreiche Stereotype prägen die Rezeption der Person Johannes Calvins – als ernst zu nehmender Gesprächspartner verschwindet er in diffamierenden und zumeist falschen Schubladen. So ist in einem weitverbreiteten Geschichts-Schulbuch die Wirksamkeit Calvins in Genf wie folgt zusammengefasst: «Nach Calvins Lehre sollte an der Abendmahlsfeier nur teilnehmen dürfen, wer ein reines Leben führte. Deshalb meldeten Aufsichtspersonen in Genf die Vergehen und Laster der Gemeindeglieder an die Pfarrer und ‹Ältesten›, die – wenn Ermahnungen nichts halfen – Einzelne bestrafen konnten. ... Ein Hersteller von Spielkarten wurde arbeitslos, weil Calvin jedes Glücksspiel verboten hatte, und deshalb schimpfte er über ihn. Zur Strafe musste er im Sünderhemd mit brennender Fackel durch die ganze Stadt laufen und seine Schuld bekennen. Auch wurden alle Wirtshäuser geschlossen. ... Calvinisten sah man in der Folgezeit besonders fleißig arbeiten, oft mehr als Angehörige anderer Konfessionen. So wurden sie reicher, ohne jedoch verschwenderisch zu leben. Wohlstand und Reichtum wurden für sie zu einem äußeren Zeichen, zu den Aus­erwählten Gottes zu zählen.» (Geschichte und Geschehen A2. Geschichtliches Unterrichtswerk für die Sekundarstufe I, Klett-Verlag Stuttgart 1995 – der 12. Druck der zweiten Auflage erschien 2006).
Und in einer Online-Einführung in die Frühe Neuzeit des Fachbereichs Geschichte der Universität Münster ist über Calvin zu lesen: «1541 nach Genf zurückberufen, legte Calvin dem Rat der Stadt eine auf strenge Gemeindezucht angelegte Kirchenordnung (Ordonnances ecclésiastiques) zur Beschlussfassung vor; sie wurde vom Rat angenommen und in den folgenden Jahren konsequent durchgeführt. ... Genf wurde zum Zentrum der Reformierten und zu einem Vorbild eines nach der göttlichen Offenbarung gestalteten Gemeinwesens, geprägt durch eine äußerst strenge Kirchenzucht (zum Beispiel: Verbot von Tanzveranstaltungen, Würfel- und Glücksspiel). Die ganze Härte der Kirchenzucht zeigte sich an der berühmten Verurteilung des Naturphilosophen Michael Servet (Entdecker des doppelten Blutkreises). Auf der Flucht vor der Inquisition wurde Servet 1553 in Genf erkannt und auf Betreiben Calvins verurteilt und öffentlich verbrannt.»
Damit sind die wichtigsten geschichtsmächtigen Urteile über Calvin in knapper Weise aufgenommen: Calvin hat Genf zu einem Spitzelsystem ausgebaut und dort gleichsam theokratisch regiert. Seiner Gegner (vor allem Servets) hat er sich auf brutale Weise entledigt. Und er ist Ahnherr des Kapitalismus, weil Eigentum als Zeichen göttlicher Erwählung angesehen wird.
Der Zugang zu Calvin wird durch diese und viele vergleichbare Texte, die das Calvin-Bild von Schülern und angehenden Geschichtslehrern beeinflussen oder gar bestimmen, auch im Calvin-Jahr 2009 nicht erleichtert. Sie verbreiten und zementieren ein unzutreffendes Bild des Reformators, einzelne Aspekte werden einseitig überhöht, andere Akzente verdreht. Es wird wichtige Aufgabe des Jubiläumsjahres sein, ein differenzierteres und historisch zutreffenderes Bild Calvins und seiner Zeit zu fördern.

These: «Die Errichtung eines Gottesstaates in Genf»
Zutreffend ist, dass Calvins Rolle in Genf nach 1541 deutlich gewichtiger war als in den ersten Jahren seiner Tätigkeit dort. Aber der Rat der Stadt Genf war keineswegs so durch evangelische Ratsmitglieder dominiert, dass Calvin hier alles hätte durchsetzen können. Vielmehr gab es – zumindest bis 1555 – unsichere und wechselnde Mehrheitsverhältnisse. Viele Wünsche des Reformators, der bis 1559 auch nur Habitant (Einwohner) und nicht Citoyen (Vollbürger) war, wurden vom Rat in Genf nicht genehmigt.
Ein Themenfeld, in dem es zwischen dem Rat und Calvin durchgehend Meinungsverschiedenheiten gab, war die Selbstständigkeit der Kirche. Calvin plädierte vehement für ihre organisatorische Selbstbestimmung, um ihr Gestaltungsfreiheit zu ermöglichen. Die oben angesprochene Kirchenordnung von 1562 hatte deshalb vor allem das Ziel, die Kirchenleitung durch den gegliederten Dienst zu entwickeln: Pastoren, Lehrer, Älteste und Diakone sollten gemeinsam und kollegial die Gemeinde leiten – und nicht der Rat der Stadt Genf.
Und übrigens auch nicht Johannes Calvin. Es gehört also ins Reich der Legende, dass Calvin in Genf irgendwelche gesetz­gebenden Möglichkeiten besessen hätte. Natürlich hatte er zum Beispiel durch Predigten Einfluss und machte diesen auch geltend.

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Kathedrale St. Pierre Genf

These: «Kirchenzucht als Spitzelsystem»
Nicht zu bestreiten ist, dass es im Laufe der Geschichte der Kirche sehr unrühmliche Fälle von Kirchenzucht gegeben hat, die aufgrund von Machtmissbrauch oder rigiden Moralvorstellungen Missstände nicht bekämpften, sondern geradezu begründeten. Aber das, was zur Zeit Calvins in Genf mit dem heute nur schwer verständlichen und gar nicht positiv besetzten Begriff der Kirchenzucht praktiziert wurde, war etwas anderes.
Für Calvin war die jeweils in konkreten Gemeinden existierende Kirche der eine Leib Christi. Diese Einheit sei in Christus gegeben und deshalb zu glauben. Gleichzeitig aber habe der Leib Christi dieser Einheit zu entsprechen zu suchen – im Hinblick auf die weltweite Kirche unternahm Calvin darum größte ökumenische Anstrengungen, sie zu einen. Doch weil eben auch jede einzelne Gemeinde ganz Kirche war, war auch die Einheit in einer Gemeinde ein anzustrebendes Ziel. Die Ordnungen der Kirche sollten dazu dienen, in Frieden leben zu können. Das Konsistorium war das kirchliche Gremium, in dem die Fälle von Unfrieden in der Gemeinde zu besprechen waren. Auf jeden Fall sollten solche Konflikte nicht vor dem Rat der Stadt verhandelt werden, sondern innerhalb der Gemeinde.
Für den eher seltenen Fall, dass eine Einigung nicht möglich war, gab es als letztes Mittel den Ausschluss vom Abendmahl, das als sichtbares Zeichen der Einheit der Gemeinde mit Christus galt. Ein solcher Ausschluss bedeutete aber kein menschliches Urteil über die göttliche Erwählung des Ausgeschlossenen: Gott allein wisse, wer erwählt sei. Letztlich war jeder Ausschluss nur mit dem Ziel der Wiederaufnahme in die Gemeinschaft zu verstehen.
Trotzdem ist die Wirkungsgeschichte der Kirchenzucht kein Ruhmesblatt für die reformierte Kirche, denn sie verselbstständigte sich vielfach und intendierte statt der Einheit der Gemeinde vor allem die Einhaltung einer bestimmten Moral. Und auch Calvin traute aus unserer Sicht dem Instrument der Kirchenzucht vielleicht zu viel zu. Aber gegen Verleumdungen ist er unbedingt in Schutz zu nehmen.

These: «Glücklose Zustände in Genf»
Der Rat der Stadt Genf hatte, wie andere Orte auch, bereits gegen Ende des 15. Jahrhunderts das Glücksspielen mit Würfeln und Karten verboten, weil die Glücksspielsucht die Ursache für den wirtschaftlichen Ruin vieler Menschen gewesen war. Calvin unterstützte diesen Beschluss.
Auch das Calvin zugeschriebene Tanzverbot stammte nicht von ihm, sondern wurde bereits 1539, vor seiner Rückkehr nach Genf, eingeführt – getanzt werden durfte nur auf Hochzeiten. Erst 1549 gab es ein vom Rat der Stadt Genf ausgesprochenes generelles Tanzverbot. Calvin unterstützte diesen Beschluss, weil er in allen ethisch nicht eindeutigen Dingen zu Bescheidenheit und Mäßigung aufrief.
Auch die nur zwei Monate andauernde Schließung von Genfer Wirtshäusern ging auf den Rat der Stadt Genf zurück, der im Vorfeld des Schmalkaldischen Krieges bei zu hohem Alkoholkonsum eine mangelnde Verteidigungsbereitschaft befürchtete – der Widerstand der Genfer Bevölkerung erzwang hier eine baldige Revision.
Es ist schlicht falsch, aus einzelnen Verboten den Schluss zu ziehen, die Genfer Bevölkerung habe damals eingeschüchtert und freudlos gelebt. Vielmehr galt Genf als attraktive Stadt, was die großen Zahlen der nach Genf ziehenden vor allem französischen Flüchtlinge belegen. Außerdem ist festzuhalten, dass sich Calvins Moralvorstellungen von denen seiner Umgebung keineswegs abhoben, seine Haltung im Blick auf Tanz und Glücksspiel entsprach vielmehr der in weiten Kreisen gültigen Moral.

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Refornationsdenkmal

These: «Calvin – der Mörder Servets»
Der Streit um Michael Servet wird häufig so geschildert, als habe Calvin sich mit Hilfe des Rates eines unbequemen Gegners entledigt. Das aber ist eine vereinfachende Darstellung. Der 1511 geborene Michael Servet geriet 1531 in Straßburg und Basel mit den Reformatoren in theologische Auseinandersetzungen. Er veröffentlichte zwei Schriften gegen die traditionelle Trinitätslehre: Nach Servet waren der Sohn und der Geist nur göttliche Wirkweisen, aber nicht Gott selber. Beide Schriften erregten Widerspruch, der Straßburger Rat verbot den Verkauf.
Später studierte Servet Medizin und war ab 1540 in Vienne in der Dauphine Arzt des Erzbischofs. Nebenher schrieb er ein größeres Werk, in dem er das Christentum aufforderte, zu seinen reinen Wurzeln zurückzukehren, da sowohl die Kirchenväter, die römische Kirche als auch die Reformatoren das Evangelium verfälscht hätten – insbesondere polemisierte er gegen die Trinitätslehre und die Kindertaufe.
Der einzige Drucker, den Servet nach einigem Suchen fand, forderte ein Gutachten von Calvin. Dieser riet vom Druck ab und forderte Servet auf, bestimmte Passagen seines Hauptwerks, der Institutio, zu lesen. Aber Servet wollte sich nicht belehren lassen. Er antwortete Calvin und schickte ihm ein von ihm rezensiertes Exemplar der Institutio mit einem beleidigenden Begleitbrief zurück.
Einige Jahre später gelang es Servet dann doch, sein Buch anonym drucken zu lassen. Es gelangte in die Hände Calvins, der Servet als Autor benennen konnte. Als dies bekannt wurde, wurde in Vienne ein Prozess gegen Servet geführt; Calvin steuerte auf Bitten Viennes einige Briefe von Servet als Beweismittel bei. Damit förderte er indirekt den Prozess. Servet floh, in Vienne wurden statt seiner seine Bücher verbrannt. Allerdings reiste Servet nach Genf, wo er auf Verlangen Calvins am 13. August 1553 festgenommen wurde.
Der Rat Genfs ergriff gegen Servet Partei, forderte Gutachten der eidgenössischen Kantone an und stellte die Anklage zusammen. Die eingetroffenen Gutachten rieten einmütig dazu, Servet zum Tode zu verurteilen – was Calvin begrüßte. Allerdings hätte er ihm den Verbrennungstod gerne erspart. Gemeinsam mit anderen Pastoren forderte er eine weniger grausame Hinrichtungsart. Vergeblich. Am 26. Oktober 1555 wurde Servet zum Tode durch Verbrennen verurteilt, am Tage drauf wurde das Urteil vollstreckt.
Calvin hat also am Tode Servets indirekt mitgewirkt, ihn freizusprechen von einer Schuld hieße, Unrecht gutzuheißen. Aber man wird nicht sagen können, dass es ein Verfahren Calvins gegen Servet gewesen sei. Keine andere Stadt hätte anders gehandelt. «Calvin war wie alle anderen Reformatoren davon überzeugt, dass es die Pflicht der christlichen Obrigkeit sei, Gotteslästerer, die die Seele töten, ebenso mit dem Tode zu bestrafen wie Mörder, die den Leib töten.» (F. Wendel, Calvin, Neukirchen 1968, S. 78)
Man kann heute den Stab über Calvin brechen. Das ist leicht. Aber man wird unsere heutigen Maßstäbe nicht direkt auf Calvins Handeln übertragen können; das wäre anachronistisch.

These: «Calvin – der Vater des Kapitalismus»
Die vom Soziologen Max Weber Anfang des 20. Jahrhunderts aufgestellte sogenannte «Calvinismus-Kapitalismus-These» ist längst widerlegt, auch wenn sie populärwissenschaftlich immer noch Urstände feiert. Die These besagt, dass Calvin den «Gedanken der Bewährung des Glaubens im weltlichen Berufsleben» (Max Weber) vertreten hätte, was dazu geführt hätte, dass der göttliche Segen und damit die eigene Erwählung am wirtschaftlichen Erfolg abgelesen werden könnte. Das hätte dazu geführt, die ökonomische Basis zu stärken, um seiner Erwählung gewiss zu werden.
Einmal widerspricht diese Vorstellung der Theologie Calvins, weil sie die Intention seiner Prädestinationslehre ins Gegenteil verkehrt. Denn sie will insbesondere denen, die aufgrund ihres Glaubens in Not sind und deshalb an der Kraft ihres Glaubens zweifeln, deutlich machen, dass Gott alleine erwählt und die Qualität des Glaubens und des Lebens nie Indikatoren der Erwählung sein können.
Und andererseits haben vor allem mentalitätsgeschichtliche Studien darauf hingewiesen, dass im Calvinismus vorhandene Tugenden zu einem schlichten Lebenswandel geführt haben, der mehr Investitionsmöglichkeiten zuließ.
Und schließlich – aber das mehr gegen die sehr vulgäre Fassung der Weber-These gesagt – finden sich frühe kapitalistische Strukturen auch in nicht von Calvinisten geprägten Regionen, etwa in Italien.
Es ist wünschenswert, dass durch eine differenzierte Wahrnehmung der Person Calvins und der Situa­tion in Genf ein deutlich differenzierteres Urteil über Calvin auch in Schulbüchern und anderen Lehrwerken vorbereitet werden kann. Es wäre ein Qualitätsmerkmal historischer Wissenschaft und Wissenschaftspädagogik, würden sie sich auch in dieser Hinsicht einschlägigen Forschungen nicht verschließen. Dadurch wird Calvin noch nicht zu einem Heiligen oder einer Identifikationsfigur. Aber vielleicht zu einem herausfordernden Gesprächspartner, dessen Wahrnehmung sich nicht von der Masse überholter Vorurteile blenden lässt. So wäre schon viel gewonnen.

Georg Plasger

Der Text ist entnommen aus: http://zeitzeichen.skileon.de