Главная страница «Первого сентября»Главная страница журнала «Немецкий язык»Содержание №4/2010

Wissenschaft und Technik

Der Universalmensch

Leonardo da Vinci leistete Außerordentliches als Künstler, Techniker und Wissenschaftler. Der Außenseiter der späten Renaissance war ein Meister des Unvollendeten.

Fortsetzung aus Nr. 03/2010

Nachts seziert er Leichen
Seinen mannigfaltigen Interessen kommen die höchst unterschiedlichen Aufgaben am Mailänder Hof von Herzog Ludovico entgegen. Leo­nardo ist für Ingenieurarbeiten und den Ausbau des Palastes zuständig, aber auch für das Entwerfen von Emblemen und für die Maskenspiele mit ihren Allegorien.
Um Menschen möglichst getreu abzubilden, befasst er sich mit Anatomie. «Derjenige, der nicht weiß, welche Muskeln welche Bewegungen verursachen», schreibt er, werde Muskeln in Bewegung nur «schlecht zeichnen». Sein Interesse an der Anatomie verselbstständigt sich bald. Nachdem die Franzosen im Oktober 1499 Mailand erobert und Herzog Ludovico gefangen haben, geht Leonardo wieder in seine Heimatstadt Florenz, wo er in einem Hospital wohnt.
Nachts seziert er Leichen – dass die Kirche darin eine verwerfliche Störung der Totenruhe sieht, lässt ihn kalt. Obwohl Leonardo sich vor den stinkenden, verwesenden Körpern ekelt, schneidet er nach eigenen Angaben mehr als 30 von ihnen auf, Männer und Frauen jeden Alters. Mit seinen anatomischen Studien ist er, nicht zuletzt dank seiner außergewöhnlichen Fähigkeiten als Zeichner, der Zeit weit voraus.
Leonardo hat schon immer bedächtig gemalt. Zum einen experimentiert er ausdauernd mit Lasuren und Farben, zum anderen hemmen ihn seine extrem hohen Ansprüche. Von der Kunst habe er «eine so erhabene Meinung», sagt ein Schüler über ihn, dass er, «wo andere Wunderwerke erblickten», Fehler finde.
Die Arbeit an seinem grandiosen Abendmahl im Mailänder Kloster Santa Maria delle Grazie hat ein Mönch beschrieben: Manchmal pflegte Leonardo demnach «vom Sonnenaufgang bis zur Abenddämmerung niemals den Pinsel aus der Hand zu legen»; er vergaß gar zu essen und zu trinken. Dann vergingen zwei, drei, vier Tage, in denen er nichts tat, als täglich eine oder zwei Stunden lang das bislang Vollbrachte zu mustern. Er «betrachtete, begutachtete und beurteilte prüfend seine Gestalten». An anderen Tagen tat er schnell ein paar Striche und ging wieder.
Um Geld zu verdienen und dem Malen zu entkommen, tritt Leonardo, obgleich er den Krieg als «bestialische Tollheit» ablehnt, als Militäringenieur in die Dienste des Kriegsherrn Cesare Borgia – und schließt Freundschaft mit dessen Vordenker Niccolò Machiavelli.

Auf vielen Feldern betätigte er sich als produktiver Dilettant
Friedrich Nietzsche hat bei Leonardo einen «überchristlichen Blick» ausgemacht. Er ist in der Tat nicht religiös, sondern setzt als Materialist auf die Naturwissenschaften. Wirkliches Wissen basiert für Leonardo auf sinnlicher Erfahrung. Er argumentiert wie ein moderner Agnostiker: Ob es einen Gott oder eine Seele gebe, darüber ließe sich ewig streiten. Unstrittig aber sei, dass zwei mal drei sechs ist. Bei aller Wertschätzung der Mathematik lernte er allerdings zeit seines Lebens nicht richtig zu dividieren. Anders als der Leonardo-Mythos es will, war er kein Gott.
Der Autodidakt hat sich selbst keineswegs als Universalmenschen gesehen, sondern als «uomo senza lettere», als unbelesenen Mann. Sein Selbstbewusstsein wurde von Selbstkritik ausbalanciert.
Auf vielen Feldern betätigte er sich als produktiver Dilettant. So waren seine militärtechnischen Einfälle zahlreich, aber nicht bahnbrechend. Er entwarf gigantische Armbrüste, die angesichts des schon gängigen Schießpulvers keine Zukunft hatten. Ihm fehlte einfach die Kriegserfahrung, um wirkungsvolle Waffen zu bauen. Seine militärischen Maschinen seien, so der Leipziger Kunsthistoriker und Leonardo-Experte Frank Zöllner, «noch utopischer, als man ohnehin vermutet».
Manche seiner gern gerühmten Erfindungen – eine Art Hubschrauber oder Taucheranzug zum Beispiel – haben andere früher als er ersonnen. Er hat sie allerdings besser gezeichnet.
Bei den meisten seiner Ideen muss Leonardo klar gewesen sein, dass sie nie umgesetzt werden würden. Keine einzige der gezeichneten Wunderwaffen, kein einziges der von ihm entworfenen Gebäude wurde je realisiert.

«Wenig von dem großen Werk begonnen»
Besonders fasziniert war Leo­nardo vom Fliegen. Aber erst nachdem er lange Zeit verschiedene Flugapparate gezeichnet hatte, begriff er, dass die Muskelkraft eines Menschen zu gering ist, um ihn samt einem Vehikel in der Luft zu halten. Weitsichtig waren aber seine Studien von Flügeln, bei denen er sich an Fledermäusen orientierte. Sie ähneln schon den Flügeln, die der deutsche Flugpionier Otto Lilienthal erst Ende des 19. Jahrhunderts baute und bei erfolgreichen Flugversuchen verwendete.
Leonardo kassierte gern Vorschüsse für Kunstwerke, ging aber dann lieber seinen wissenschaftlichen Interessen nach. So klagte ein Mitarbeiter des Florentiner Magistrats, der berühmte Maler habe «eine gute Summe Geldes erhalten und nur wenig von dem großen Werk begonnen».
«Weh mir!», rief Papst Leo X. über Leonardo aus. «Dieser Mann wird nichts zustande bringen, weil er zuerst an das Ende der Arbeiten denkt, bevor er sie überhaupt begonnen hat.» Als es Leonardo 1513 nach Rom verschlug, waren dort Michelangelo und Raffael die gefeierten großen Künstler. Der Mann aus Vinci galt als genialischer Sonderling, nennenswerte Aufträge bekam er nicht.
Leonardos Œuvre als Maler ist überraschend klein. Nur neun Gemälde gelten als seine eigenhändigen Arbeiten. Weitere neun lassen sich ihm zuschreiben; sechs Werke gingen verloren, sodass Leonardo in rund 40 Jahren lediglich zwei Dutzend Gemälde geschaffen oder begonnen hat.
Für unvollendet hielt er in unerbittlicher Selbstkritik sogar das Bild aller Bilder: das Porträt von Lisa del Giocondo, der Gattin eines reichen Florentiner Seidenhändlers, Mona Lisa genannt. Der Auftraggeber erhielt es nie – stattdessen gelangte das 77 mal 53 Zentimeter große Gemälde kurz vor Leonardos Tod in den Besitz des französischen Königs Franz I.

Mona Lisa in Napoleons Schlafzimmer
Zeitweilig zierte das bekann­teste Bild der Welt das Schlafzimmer Napoleons. Heute lockt es im Pariser Louvre im Schnitt 20 000 Betrachter pro Tag an. Der Surrealist Marcel Duchamp hat der Dame mit dem angeblich geheimnisvollen Lächeln ein Bärtchen verpasst; Andy Warhol hat sie in eine Pop-Ikone verwandelt.
Leonardos Bewunderer Franz I. von Frankreich ernannte ihn zum «Ersten Maler und Ingenieur und Architekten des Königs» und überließ ihm einen Herrensitz bei seinem Schloss in Amboise an der Loire, in dem er bis zu seinem Tod im Mai 1519 lebte. Der junge König fand «großen Gefallen» daran, Leonardo «konversieren zu hören», und schätzte ihn als «großen Philosophen».
Das war denn doch übertrieben. Bewundernswert aber ist und bleibt Leonardos Blick auf die Welt. «Er lebt nicht im autoritären Totalwissen», hat der Philosoph Karl Jaspers über ihn geschrieben, «sondern im fragenden und findenden Voranschreiten.»
So repräsentiert Leonardos schöpferische Neugier den Aufbruch aus einer Epoche fragloser Jenseits-Gewissheiten in die moderne Erforschung der Rätsel des Diesseits.
Wer ihn kritisieren will, wirft ihm gern seine Unbeständigkeit vor. Vasari kolportiert eine Anekdote, nach der Leonardo dem König von Frankreich unmittelbar vor seinem Tode gestanden habe, «wie sehr er sich gegen Gott und die Menschen versündigt hatte, indem er seine Kunst nicht so ausgeübt hatte, wie er es hätte tun sollen».
Auch von Leonardo selbst wissen wir, dass er in seiner Vielseitigkeit manchmal ein Problem sah. «Ganz wie ein Königreich in sein Verderben läuft, wenn es sich teilt», schrieb er, «so verwirrt und schwächt sich der Geist, der sich mit zu vielen Themen beschäftigt.» Doch solche gelegentlichen Bedenken stellte er mit gutem Grund wieder zurück. «Durch verworrene und unbestimmte Dinge», hatte er erkannt, «wird nämlich der Geist zu neuen Erfindungen wach.» Angesichts von Leonardos umfassenden Interessen und Forschungen hat Karl Jaspers ihn in positivem Sinn einen «Fragmentarier» genannt.
Leonardo da Vinci, der immer mehr vom Künstler zum Wissenschaftler wurde, hatte verstanden, dass Versuch und Irrtum den Weg markieren, der das Ziel ist.

Von Michael Sontheimer

Der Text ist entnommen aus:
http://www.spiegel.de