Главная страница «Первого сентября»Главная страница журнала «Немецкий язык»Содержание №11/2010

Hauslektüre im Deutschunterricht

Didaktisierungsvorschlag zum Buch «Momo» von Michael Ende

Erstellt von Dr. Dana Bartosch, Ruth-Ulrike Deutschmann, Natalia Koslowa

Fortsetzung aus Nr. 01, 02, 03, 04, 05, 07, 08, 09, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17, 18/2009, 1, 2, 3, 4, 5, 7, 8, 10/2010

Lesetext
Einundzwanzigstes Kapitel

Das Ende, mit dem etwas Neues beginnt

Momo hatte sich mit dem Buchstabieren der Warntafel aufgehalten.
Als sie nun durch das Tor schlüpfte, war auch von dem letzten grauen Herren nichts mehr zu sehen. Vor ihr lag eine riesige Baugrube, die wohl zwanzig, dreißig Meter tief sein mochte. Bagger und andere Baumaschinen standen umher. Auf einer schrägen Rampe, die zum Grunde der Grube hinunterführte, waren einige Lastwagen mitten in der Fahrt stehen geblieben. Da und dort standen Bauarbeiter, reglos in ihren jeweiligen Haltungen erstarrt. Aber wohin nun? Momo konnte keinen Eingang entdecken, den der graue Herr benutzt haben mochte. Sie schaute auf Kassiopeia, aber diese schien auch nicht weiterzuwissen. Keine Buchstaben erschienen auf ihrem Panzer.
Momo kletterte auf den Grund der Baugrube hinunter und schaute sich um. Und nun sah sie plötzlich nochmal ein bekanntes Gesicht. Da stand Nicola, der Maurer, der ihr damals das schöne Blumenbild an die Wand ihres Zimmers gemalt hatte. Natürlich war auch er reglos, wie alle anderen, aber seine Haltung war seltsam. Er stand da, eine Hand an den Mund gelegt, als ob er irgendwem etwas zuriefe und mit der anderen Hand zeigte er auf die Öffnung eines riesenhaften Rohres, das neben ihm aus dem Boden der Baugrube ragte. Und es ergab sich gerade so, dass er dabei Momo anzublicken schien.
Momo überlegte nicht lang, sie nahm es einfach als ein Zeichen und kletterte in das Rohr hinein. Kaum war sie drin, geriet sie ins Rutschen, denn das Rohr führte steil abwärts. Es machte allerlei Windungen, sodass sie wie auf einer Rutschbahn hin und her geschleudert wurde. Hören und Sehen verging ihr beinahe bei der rasenden Fahrt, tiefer und tiefer hinunter. Manchmal trudelte sie um sich selbst, sodass sie mit dem Kopf voran dahinsauste. Aber sie ließ dabei weder die Schildkröte noch die Blume los. Je tiefer sie kam, desto kälter wurde es.
Einen Augenblick dachte sie auch daran, wie sie wohl je wieder hier herauskommen könne, aber noch ehe sie recht dazu kam, sich Gedanken zu machen, endete die Röhre plötzlich in einem unterirdischen Gang.
Hier war es nicht mehr finster. Es herrschte ein aschengraues Halblicht, das von den Wänden selbst auszugehen schien.
Momo stand auf und lief weiter. Da sie barfuß war, machten ihre Schritte kein Geräusch, wohl aber die des grauen Herrn, die sie nun wieder vor sich hörte. Sie folgte dem Klang.
Von dem Gang zweigten nach allen Seiten andere Gänge ab, ein unterirdisches Aderngeflecht, das sich, wie es schien, unter dem ganzen Neubau-Viertel hinzog.
Dann hörte sie Stimmengewirr. Sie ging ihm nach und lugte vorsichtig um eine Ecke.
Vor ihren Augen lag ein riesiger Saal mit einem schier endlosen Konferenztisch in der Mitte. Um diesen Tisch saßen in zwei langen Reihen die grauen Herren – oder vielmehr, das Häuflein, das von ihnen noch übrig war. Und wie armselig sahen diese letzten Zeit-Diebe jetzt aus! Ihre Anzüge waren zerfetzt, sie hatten Beulen und Schrunden auf ihren grauen Glatzen und ihre Gesichter wirkten verzerrt von Angst. Nur ihre Zigarren brannten noch.
Momo sah, dass ganz hinten an der Rückwand des Saales eine riesige Panzertür ein wenig offen stand. Eisige Kälte wehte aus dem Saal. Obwohl Momo wusste, dass es nichts half, kauerte sie sich nieder und wickelte die nackten Füße in ihren Rock.
«Wir müssen», hörte sie nun einen grauen Herrn sagen, der ganz oben am Konferenztisch vor der Panzertür saß, «sparsam mit unseren Vorräten umgehen, denn wir wissen nicht, wie lange wir mit ihnen auskommen müssen. Wir müssen uns einschränken.»
«Wir sind nur noch wenige!», schrie ein anderer. «Die Vorräte reichen auf Jahre hinaus!»
«Je eher wir zu sparen beginnen», fuhr der Redner ungerührt fort, «desto länger werden wir durchhalten. Und Sie wissen, meine Herren, was ich mit sparen meine. Es genügt völlig, wenn einige von uns diese Katastrophe überstehen. Wir müssen die Dinge sachlich betrachten! So, wie wir hier sitzen, meine Herren, sind wir zu viele! Wir müssen unsere Zahl beträchtlich verringern. Das ist ein Gebot der Vernunft. Darf ich Sie bitten, meine Herren, nun abzuzählen?»
Die grauen Herren zählten ab. Danach zog der Vorsitzende eine Münze aus der Tasche und erklärte: «Wir werden losen. Zahl bedeutet, dass die Herren mit den geraden Zahlen bleiben, Kopf bedeutet die mit den ungeraden.»
Er warf die Münze in die Luft und fing sie auf.
«Zahl!», rief er. «Die Herren mit den geraden Zahlen bleiben, die mit den ungeraden werden ersucht sich unverzüglich aufzulösen!»
Ein tonloses Stöhnen lief durch die Reihe der Verlierer, aber keiner wehrte sich.
Die Zeit-Diebe mit den geraden Zahlen nahmen den anderen ihre Zigarren fort und die Verurteilten lösten sich in Nichts auf.
«Und nun», sagte der Vorsitzende in die Stille hinein, «dasselbe noch einmal, wenn ich bitten darf.»
Die gleiche schauerliche Prozedur erfolgte ein zweites, ein drittes und schließlich sogar ein viertes Mal. Zuletzt waren nur noch sechs der grauen Herren übrig. Sie saßen sich zu drei und drei am Kopfende des endlosen Tisches gegenüber und sahen sich eisig an.
Momo hatte den Vorgang mit Schaudern beobachtet. Sie bemerkte, dass jedes Mal, wenn die Zahl der grauen Herren geringer wurde, die fürchterliche Kälte merklich nachließ. Im Vergleich zu vorher war es schon beinahe erträglich.
«Sechs», sagte einer der grauen Herren, «ist eine hässliche Zahl.»
«Genug jetzt», antwortete einer von der anderen Seite des Tisches, «es hat keinen Zweck mehr, unsere Zahl noch weiter zu verringern. Wenn es uns Sechsen nicht gelingt, die Katastrophe zu überdauern, dann gelingt es Dreien auch nicht.»
«Das ist nicht gesagt», meinte ein anderer, «aber falls es nötig sein sollte, können wir ja immer noch darüber reden. Später, meine ich.»
Eine Weile war es still, dann erklärte einer: «Wie gut, dass die Tür zu den Vorratsspeichern gerade offen stand, als die Katastrophe begann. Wäre sie im entscheidenden Augenblick geschlossen gewesen, dann könnte sie jetzt keine Macht der Welt öffnen. Wir wären verloren.»
«Leider haben Sie nicht ganz Recht, mein Bester», antwortete ein anderer. «Indem das Tor offen steht, entweicht die Kälte aus den Gefrierkellern. Nach und nach werden die Stunden-Blumen auftauen. Und Sie alle wissen, dass wir sie dann nicht mehr daran hindern können, dorthin zurückzukehren, wo sie hergekommen sind.»
«Sie meinen», fragte ein dritter, «dass unsere Kälte jetzt nicht mehr ausreicht, die Vorräte tiefgekühlt zu halten?»
«Wir sind leider nur sechs», erwiderte der zweite Herr, «und Sie können sich selbst ausrechnen, wie viel wir ausrichten können. Mir scheint, es war ziemlich voreilig unsere Anzahl derartig rigoros zu vermindern. Wir werden nichts dabei gewinnen.»
«Für eine von beiden Möglichkeiten mussten wir uns entscheiden», rief der erste Herr, «und wir haben uns entschieden.»
Wieder entstand eine Stille.
«So werden wir also nun vielleicht jahrelang sitzen und nichts tun, als uns gegenseitig bewachen», meinte einer. «Ich muss gestehen – eine trostlose Vorstellung.»
Momo dachte nach. Hier nur zu sitzen und weiter zu warten, hatte gewiss keinen Sinn. Wenn es keine grauen Herren mehr gab, dann würden die Stunden-Blumen also von selbst auftauen. Aber vorläufig gab es die grauen Herren ja noch. Und es würde sie immer weiter geben, wenn sie nichts tat. Aber was konnte sie tun, da die Tür zu den Vorratsspeichern ja offen stand und die Zeit-Diebe sich nach Belieben Nachschub holen konnten?
Kassiopeia strampelte und Momo schaute sie an.
«DU MACHST DIE TÜR ZU!», stand auf ihrem Panzer.
«Das geht nicht!», flüsterte Momo. «Sie ist doch unbeweglich.»
«MIT DER BLUME BERÜHREN!», war die Antwort.
«Ich kann sie bewegen, wenn ich sie mit der Stunden-Blume berühre?», wisperte Momo.
«DU WIRST ES TUN», stand auf dem Panzer.
Wenn Kassiopeia es vorauswusste, dann musste es wohl auch so sein. Momo setzte die Schildkröte vorsichtig auf den Boden. Dann steckte sie die Stunden-Blume, die inzwischen schon ziemlich welk war und nicht mehr sehr viele Blütenblätter hatte, unter ihre Jacke.
Ungesehen von den sechs grauen Herren gelang es ihr, unter den langen Konferenztisch zu kriechen. Dort lief sie auf allen Vieren weiter, bis sie das andere Ende des langen Tisches erreichte. Nun saß sie zwischen den Füßen der Zeit-Diebe. Das Herz klopfte ihr zum Zerspringen. Leise, leise zog sie die Stunden-Blume hervor, nahm sie zwischen die Zähne und krabbelte zwischen den Stühlen hindurch, ohne dass einer der grauen Herren es bemerkte.
Sie erreichte die offen stehende Tür, berührte sie mit der Blüte und schob gleichzeitig mit der Hand. Die Tür drehte sich geräuschlos in ihren Angeln, drehte sich wirklich und fiel donnernd ins Schloss. Der Hall löste ein vielfaches Echo im Saal und in den tausend unterirdischen Gängen aus.
Momo sprang auf. Die grauen Herren, die nicht im Entferntesten damit gerechnet hatten, dass außer ihnen noch irgendein anderes Wesen vom völligen Stillstand ausgenommen sein könnte, saßen vor Schreck erstarrt auf ihren Stühlen und stierten das Mädchen an.
Ohne sich zu besinnen, rannte Momo an ihnen vorbei auf den Ausgang des Saales zu. Und nun rafften sich auch die grauen Herren auf und jagten hinter ihr drein.
«Das ist doch dieses schreckliche kleine Mädchen!», hörte sie einen rufen. «Das ist Momo!»
«Das gibt es nicht!», schrie ein anderer. «Wieso kann sie sich bewegen?»
«Sie hat eine Stunden-Blume!», brüllte ein dritter.
«Und damit», fragte der vierte, «konnte sie die Tür bewegen?»
Der fünfte schlug sich wild vor den Kopf: «Dann hätten wir das ja auch gekonnt! Wir haben doch genügend davon!»
«Gehabt, gehabt!», kreischte der sechste, «aber jetzt ist die Tür zu! Es gibt nur noch eine Rettung: Wir müssen die Stunden-Blume des Mädchens kriegen, sonst ist alles aus!»
Inzwischen war Momo schon irgendwo in den Gängen verschwunden, die sich immer wieder verzweigten. Aber hier wussten die grauen Herren natürlich besser Bescheid. Momo jagte kreuz und quer, manchmal lief sie einem Verfolger fast in die Arme, aber immer wieder gelang es ihr zu entwischen.
Und auch Kassiopeia beteiligte sich auf ihre Art an diesem Kampf. Sie konnte zwar nur langsam krabbeln, aber da sie ja immer im Voraus wusste, wo die Verfolger laufen würden, erreichte sie die Stelle rechtzeitig und legte sich so in den Weg, dass die Grauen über sie stolperten und sich auf dem Boden über kugelten. Die Nachkommenden fielen über die Liegenden und so rettete die Schildkröte mehrmals das Mädchen vor dem fast schon sicheren Gefasstwerden. Natürlich flog sie dabei selbst oft, von einem Fußtritt getroffen, gegen die Wand. Aber das hielt sie nicht ab, weiterhin das zu tun, wovon sie eben vorherwusste, dass sie es tun würde.
Bei dieser Verfolgung verloren einige der grauen Herren – besinnungslos vor Gier nach der Stunden-Blume – ihre Zigarren und lösten sich, einer nach dem andern, in Nichts auf. Schließlich waren nur noch zwei von ihnen übrig.
Momo war in den großen Saal mit dem langen Tisch zurückgeflohen. Die beiden Zeit-Diebe verfolgten sie rund um den Tisch, konnten sie aber nicht einholen. Dann teilten sie sich und liefen in entgegengesetzten Richtungen.
Und nun gab es für Momo kein Entrinnen mehr. Sie stand in eine Ecke des Saales gepresst und blickte den beiden Verfolgern angsterfüllt entgegen. Die Blume hielt sie an sich gedrückt. Nur noch drei schimmernde Blütenblätter hingen daran.
Der erste Verfolger wollte eben die Hand nach der Blume ausstrecken, als der zweite ihn zurückriss.
«Nein», schrie er, «mir gehört die Blume! Mir!»
Die beiden fingen an sich gegenseitig zurückzureißen. Dabei schlug der erste dem zweiten die Zigarre aus dem Mund und der drehte sich mit einem geisterhaften Wehlaut um sich selbst, wurde durchsichtig und verschwand. Und nun kam der letzte der grauen Herren auf Momo zu.
In seinem Mundwinkel qualmte noch ein winziger Stummel.
«Her mit der Blume!», keuchte er, dabei fiel ihm der winzige Stummel aus dem Mund und rollte fort. Der Graue warf sich auf den Boden und grapschte mit ausgestrecktem Arm danach, konnte ihn aber nicht mehr erreichen. Er wandte Momo sein aschengraues Gesicht zu, richtete sich mühsam halb auf und hob zitternd seine Hand.
«Bitte», flüsterte er, «bitte, liebes Kind, gib mir die Blume!»
Momo stand noch immer in die Ecke gepresst, drückte die Blume an sich und schüttelte, keines Wortes mehr mächtig, den Kopf.
Der letzte graue Herr nickte langsam. «Es ist gut», murmelte er, «es ist gut –, dass nun – alles – vorbei – ist – – –»
Und dann war auch er verschwunden.
Momo starrte fassungslos auf die Stelle, wo er gelegen hatte. Aber dort krabbelte jetzt Kassiopeia, auf deren Rücken stand: «DU MACHST DIE TÜR AUF.»
Momo ging zu der Tür, berührte sie wieder mit ihrer Stunden-Blume, an der nur noch ein einziges, letztes Blütenblatt hing und öffnete sie weit.
Mit dem Verschwinden des letzten Zeit-Diebes war auch die Kälte gewichen.
Momo ging mit staunenden Augen in die riesigen Vorratsspeicher hinein. Unzählige Stunden-Blumen standen hier wie gläserne Kelche aufgereiht in endlosen Regalen und eine war herrlicher anzusehen als die andere und keine war einer anderen gleich – Hunderttausende, Millionen von Lebensstunden. Es wurde warm und wärmer wie in einem Treibhaus.
Während das letzte Blatt von Momos eigener Stunden-Blume abfiel, begann mit einem Mal eine Art Sturm. Wolken von Stunden-Blumen wirbelten um sie her und an ihr vorüber. Es war wie ein warmer Frühlingssturm, aber ein Sturm aus lauter befreiter Zeit.
Momo schaute wie im Traum umher und sah Kassiopeia vor sich auf dem Boden. Und auf ihrem Rückenpanzer stand in leuchtender Schrift: «FLIEGE HEIM, KLEINE MOMO, FLIEGE HEIM!»
Und dies war das Letzte, was Momo von Kassiopeia sah. Denn nun verstärkte sich der Sturm der Blüten ganz unbeschreiblich, wurde so gewaltig, dass Momo aufgehoben und davongetragen wurde, als sei sie selbst eine der Blumen, hinaus, hinaus aus den finsteren Gängen, hinauf über die Erde und hinauf über die große Stadt. Sie flog dahin über die Dächer und Türme in einer riesigen Wolke aus Blumen, die immer größer und größer wurde. Und es war wie ein übermütiger Tanz nach einer herrlichen Musik, in dem sie auf und nieder schwebte und sich um sich selbst drehte.
Dann senkte sich die Blütenwolke langsam und sacht hernieder und die Blumen fielen wie Schneeflocken auf die erstarrte Welt. Und wie Schneeflocken, so lösten sie sich sanft auf und wurden wieder unsichtbar, um dorthin zurückzukehren, wohin sie eigentlich gehörten: in die Herzen der Menschen.
Im selben Augenblick begann die Zeit wieder und alles regte und bewegte sich von neuem. Die Autos fuhren, die Verkehrsschutzleute pfiffen, die Tauben flogen und der kleine Hund am Lichtmast machte sein Bächlein.
Davon, dass die Welt für eine Stunde still gestanden hatte, hatten die Menschen nichts bemerkt. Denn es war ja tatsächlich keine Zeit verstrichen zwischen dem Aufhören und dem neuen Beginn. Es war für sie vorübergegangen wie ein Wimpernschlag.
Und doch war etwas anders geworden als vorher. Alle Leute hatten nämlich plötzlich unendlich viel Zeit. Natürlich war darüber jedermann außerordentlich froh, aber niemand wusste, dass es in Wirklichkeit seine eigene gesparte Zeit war, die nun auf wunderbare Weise zu ihm zurückkehrte.
Als Momo wieder recht zur Besinnung kam, fand sie sich auf einer Straße wieder. Es war die Seitenstraße, wo sie vorher Beppo gefunden hatte und wirklich, dort stand er noch! Stand mit dem Rücken zu ihr, auf seinen Besen gestützt und schaute nachdenklich vor sich hin, ganz wie früher. Er hatte es auf einmal gar nicht mehr eilig und konnte sich selbst nicht erklären, wieso er sich plötzlich so getröstet und voller Hoffnung fühlte.
Vielleicht, dachte er, habe ich jetzt die hunderttausend Stunden eingespart und Momo freigekauft.
Und genau in diesem Augenblick zupfte ihn jemand an der Jacke und er drehte sich um und die kleine Momo stand vor ihm.
Es gibt wohl keine Worte, die das Glück des Wiedersehens beschreiben können. Beide lachten und weinten abwechselnd und redeten fortwährend durcheinander und natürlich lauter dummes Zeug, wie das eben so ist, wenn man vor Freude wie betrunken ist. Und sie umarmten sich immer wieder und die Leute, die vorübergingen, blieben stehen und freuten sich und lachten und weinten mit, denn sie hatten ja nun alle genügend Zeit dazu.
Endlich schulterte Beppo seinen Besen, denn es versteht sich wohl von selbst, dass er für diesen Tag nicht mehr ans Arbeiten dachte. So wanderten die beiden Arm in Arm durch die Stadt, heimwärts zum alten Amphitheater. Und jeder hatte dem anderen unendlich viel zu erzählen.
Und in der großen Stadt sah man, was man seit langem nicht mehr gesehen hatte: Kinder spielten mitten auf der Straße und die Autofahrer, die warten mussten, guckten lächelnd zu und manche stiegen aus und spielten einfach mit. Überall standen Leute, plauderten freundlich miteinander und erkundigten sich ausführlich nach dem gegenseitigen Wohlergehen. Wer zur Arbeit ging, hatte Zeit, die Blumen in einem Fenster zu bewundern oder einen Vogel zu füttern. Und die Ärzte hatten jetzt Zeit, sich jedem ihrer Patienten ausführlich zu widmen. Die Arbeiter konnten ruhig und mit Liebe zur Sache arbeiten, denn es kam nicht mehr darauf an, möglichst viel in möglichst kurzer Zeit fertig zu bringen. Jeder konnte sich zu allem so viel Zeit nehmen, wie er brauchte und haben wollte, denn von nun an war ja wieder genug davon da.
Aber viele Leute haben nie erfahren, wem das alles zu verdanken war, und was in Wirklichkeit während jenes Augenblicks, der ihnen wie ein Wimpernschlag vorkam, geschehen ist. Die meisten Leute hätten es wohl auch nicht geglaubt. Geglaubt und gewusst haben es nur Momos Freunde.
Denn als die kleine Momo und der alte Beppo an diesem Tag ins alte Amphitheater zurückkamen, waren sie alle schon da und warteten: Gigi Fremdenführer, Paolo, Massimo, Franco, das Mädchen Maria mit dem kleinen Geschwisterchen Dedé, Claudio und alle anderen Kinder, Nino, der Wirt, mit Liliana, seiner dicken Frau und seinem Baby, Nicola, der Maurer und alle Leute aus der Umgebung, die früher immer gekommen waren und denen Momo zugehört hatte. Dann wurde ein Fest gefeiert, so vergnügt, wie nur Momos Freunde es zu feiern verstehen und es dauerte, bis die alten Sterne am Himmel standen.
Und nachdem der Jubel und das Umarmen und Händeschütteln und Lachen und Durcheinanderschreien sich gelegt hatte, setzten alle sich rundherum auf die grasbewachsenen steinernen Stufen. Es wurde ganz still.
Momo stellte sich in die Mitte des freien runden Platzes. Sie dachte an die Stimmen der Sterne und an die Stunden-Blumen.
Und dann begann sie mit klarer Stimme zu singen.

Im Nirgend-Haus aber saß Meister Hora, den die zurückgekehrte Zeit aus seinem ersten und einzigen Schlaf erweckt hatte, auf seinem Stuhl an dem kleinen zierlichen Tischchen und schaute Momo und ihren Freunden lächelnd durch seine Allsicht-Brille zu. Er war noch sehr blass und sah aus, als sei er eben von einer schweren Krankheit genesen. Aber seine Augen strahlten.
Da fühlte er, wie etwas ihn am Fuß berührte. Er nahm seine Brille ab und beugte sich hinunter. Vor ihm saß die Schildkröte.
«Kassiopeia», sagte er zärtlich und kraulte sie am Hals, «das habt ihr beide sehr gut gemacht. Du musst mir alles erzählen, denn diesmal konnte ich euch ja nicht zusehen.»
«SPÄTER!», stand auf dem Rückenpanzer. Dann nieste Kassiopeia.
«Du hast dich doch nicht etwa erkältet?», fragte Meister Hora besorgt.
«UND WIE!», war Kassiopeias Antwort.
«Das wird durch die Kälte der grauen Herren gekommen sein», meinte Meister Hora. «Ich kann mir denken, dass du sehr erschöpft bist und dich erst einmal gründlich ausruhen möchtest. Also ziehe dich ruhig zurück.»
«DANKE!», stand auf dem Panzer.
Dann hinkte Kassiopeia davon und suchte sich einen stillen und dunklen Winkel. Sie zog ihren Kopf und ihre vier Glieder ein und auf ihrem Rücken, für niemand mehr sichtbar als nur für den, der diese Geschichte gelesen hat, erschienen langsam die Buchstaben:

ENDE

Kurzes Nachwort des Verfassers
Vielleicht wird manch einer meiner Leser nun viele Fragen auf dem Herzen haben. Aber ich fürchte, ich werde ihm da nicht helfen können. Ich muss nämlich gestehen, dass ich diese ganze Geschichte aus dem Gedächtnis so niedergeschrieben habe, wie sie mir selbst erzählt worden ist. Persönlich habe ich weder die kleine Momo noch einen ihrer Freunde je kennengelernt. Ich weiß nicht, wie es ihnen weiterhin ergangen ist und wie es ihnen heute geht. Und auch was die große Stadt betrifft, bin ich selbst nur auf Vermutungen angewiesen.
Das Einzige, was ich noch dazu bemerken möchte, ist Folgendes: Ich war damals gerade auf einer großen Reise (und bin es immer noch), als ich eines Nachts mein Eisenbahnabteil mit einem merkwürdigen Passagier teilte. Merkwürdig insofern, als es mir völlig unmöglich war, sein Alter zu bestimmen. Anfangs glaubte ich, einem Greis gegenüberzusitzen, doch bald sah ich, dass ich mich getäuscht haben musste, denn mein Mitreisender erschien mir plötzlich sehr jung. Doch auch dieser Eindruck erwies sich bald wieder als Irrtum.
Jedenfalls erzählte er mir während der langen Nachtfahrt diese ganze Geschichte.
Nachdem er damit zu Ende war, schwiegen wir beide ein Weilchen. Dann fügte der rätselhafte Passagier noch einen Satz hinzu, den ich dem Leser nicht vorenthalten darf.
«Ich habe Ihnen das alles erzählt», sagte er nämlich, «als sei es bereits geschehen. Ich hätte es auch so erzählen können, als geschehe es erst in der Zukunft. Für mich ist das kein so großer Unterschied.»
Er muss dann wohl an der nächsten Station ausgestiegen sein, denn ich bemerkte nach einer Weile, dass ich allein im Abteil war. Leider bin ich dem Erzähler seither nicht wieder begegnet.
Aber falls ich ihn zufällig noch einmal treffen sollte, dann möchte ich ihn vieles fragen.

Fortsetzung folgt

(Aus: Michael Ende: Momo. K. Thienemanns
Verlag, Stuttgart 2002)

 

Didaktisierungsvorschlag

Leseverstehen – selektives Lesen

1. Schauen Sie noch einmal ins Kapitel 19 und ergänzen Sie die Tabelle:
Was muss Momo laut Meister Hora alles tun, um die grauen Herren zu besiegen?

Aufgaben

Erledigung

– Momo muss den grauen Herren zu den Zeitvorräten folgen
– Momo muss die geraubte Zeit befreien

– Momo nahm ...

2. Wie erfüllt Momo diese Aufgaben? Ergänzen Sie die Tabelle.


Kontrolle Leseverstehen – detailliertes Lesen

3. Ist das richtig [R] oder falsch [F]? Kreuzen Sie an.

 

R

F

1. Als Momo auf den Grund der Baugrube hinunterkletterte, sah sie Nicola.

           

2. Nicola zeigte auf den anderen Maurer, der neben ihm stand.

   

3. Momo sah die Öffnung eines riesenhaften Rohres und kletterte in das Rohr hinein.

   

4. Als Momo sich schon in einem unterirdischen Gang befand, sah sie viele kleine Tischchen, an denen die grauen Herren saßen.

   

5. Die grauen Herren mussten ihre Zahl beträchtlich verringern, um die Katastrophe zu überstehen.

   

6. Mehrmals hatten die grauen Herren gelost. Zuletzt waren nur noch sieben der Grauen übrig.

   

7. Die Tür zu den Vorratsspeichern stand offen.

   

8. Die grauen Herren hatten Angst davor, dass ihre Kälte nicht mehr ausreichte, die Vorräte tiefgekühlt zu halten.

   

9. Momo hat die Tür zu den Vorratsspeichern mit Hilfe der Stunden-Blume zugemacht.

   

10. Als Momo die Tür geschlossen hatte, lösten sich fast alle grauen Herren in Nichts auf.

   

11. Die Reste der grauen Herren jagten hinter Momo her.

   

12. Kassiopeia konnte Momo überhaupt nicht helfen und beteiligte sich an diesem Kampf gar nicht.

   

13. Als der letzte der grauen Herren auf Momo zukam, fiel ihm der winzige Stummel aus dem Mund. Er war auch verschwunden.

   

14. Mit dem Verschwinden des letzten Zeit-Diebes war auch die Kälte gewichen.

   

15. Während das letzte Blatt von Momos eigener Stunden-Blume abfiel, begann mit einem Mal ein Sturm aus lauter befreiter Zeit.

   

16. Als der Sturm begann, schlief Momo sofort ein.

   

17. Als Momo wieder recht zur Besinnung kam, sah sie ihre Freunde.

   

18. Im alten Amphitheater warteten Momos Freunde auf sie, um ein großes Fest zu feiern.

   

 

Leseverstehen – selektives Lesen

4. «Und doch war etwas anders geworden als vorher.»

Was hat sich in der Stadt verändert, nachdem Momo den Menschen die gestohlene Zeit zurückgebracht hatte? Notieren Sie.
1. Alle Leute hatten nämlich plötzlich unendlich viel Zeit.
2. ____________________________________
3. ____________________________________
...

 

Sprechen

5. Lesen Sie in Kapitel 6 nach, wie die Stadt und das Leben nach Ankunft der grauen Herren aussah. Vergleichen Sie mit Ihren Notizen oben und beschreiben Sie die Veränderungen. Nutzen Sie die Redemittel des Vergleichs:
Im Vergleich zu .../Anders als.../Im Gegensatz zu ...

 

Wortschatz

6. Markieren Sie die Wörter aus der Wortliste im Text und überprüfen Sie, ob Sie ihre Bedeutung kennen. Wenn Sie ein Wort nicht kennen, schauen Sie im Wörterbuch nach und notieren Sie die Bedeutung.

7. Übersetzen Sie die Sätze ggf. ins Russische.

8. Bilden Sie Beispielsätze mit den Wörtern der Wortliste.

 

Lernwortschatz

  1. unterirdisch
  2. abzählen
  3. losen
  4. sich wehren
  5. nachlassen
  6. die hässliche Zahl
  7. auftauen
  8. entwischen
  9. der Stillstand
  10. jmdm. etw. verdanken
  11. hinken
  12. Arm in Arm
  13. genesen