Literatur
Ralf Rothmann: Messers Schneide
Nachmittags hatte es geregnet, Wind wühlte in den Pfützen, unter dem tiefgrauen Himmel kreischten Möwen, die herübergeflogen waren vom nahen Kanal. Ein Wirt in Lederschürze drängte einen Betrunkenen aus dem Lokal, hielt ihn sich vom Leib mit einem umgekehrten Stuhl. In den Blumenläden gab es die ersten Astern, kleine schwarze Plastiktöpfe auf Paletten aus Styropor, Berge von Weintrauben überall, fließendes Wollzeug über den Körpern, kaum noch ein offener oberer Knopf. Man sah keine Schlendernden mehr, in den Gesichtern, über Nacht, kamen alte Falten wieder, Farben schwanden. Es wurde zusehends früher dunkel, schwärzer standen die Häuser vorm Himmel, friedlicher strahlte die Reklame. Als ginge ein Besinnen durch alle Formen, als wären sie nachgezeichnet worden mit neuer Gedankenkraft, schienen die Umrisse schärfer.
Manfred Assen, der gelegentlich Taxi fuhr, weil er vom Schreiben nicht leben wollte, parkte seinen Wagen in der Grunewaldstraße und knipste die Leuchtschrift aus. Er fühlte eine Übelkeit, wie er sie als Kind oft durchlitten hatte nach verhängnisvollen Streichen oder Untaten – etwa, wenn er einmal mehr dem prügelnden Lehrer davongelaufen war oder die Unterschrift seiner Eltern gefälscht hatte und nun, am Küchenfenster sitzend, auf die Bestrafung wartete. Seine Mutter putzte noch im Bad, sie summte ein Lied, doch das Schimmern der Gläser im Glasschrank, der Chrombeschläge am kalten Kohleherd, der Glanz des peinlich sauberen Spülsteins und der polierten Äpfel, die sich in der Fensterscheibe spiegelten – das alles war ihm schon das Funkeln ihrer Wut. Er sah die anderen Kinder im Garten besonders einmütig miteinander spielen, und obwohl eines, auf eine Birke kletternd, sein voraussichtliches Gejammer nachäffte und die anderen breit grinsten: die Spielgefährten schienen sich in einem Zustand paradiesischer Unschuld zu befinden, aus dem er sich für alle Zeit vertrieben sah – ohne sich eigentlich schuldig zu fühlen. Er hörte, wie seine Mutter Fläschchen und Sticks auf die Glasablage stellte; es gab keinen Ausweg. Oder sollte er sich ein Stück Pappe in den Hosenboden schieben, wie er es in Schulwitzen gehört hatte. Sie würde es beim ersten Schlag bemerken und nur fürchterlicher wüten. Die Spielgefährten, am Ende des Gartens, sprangen in die Kiesgrube, wobei sich ihre Jacken blähten. Am Nachmittagshimmel schon, ein zu fernes Mausloch, der Mond. Es roch nach Nagellackentferner, und da erinnerte er sich, daß er einmal ohne Prügel davongekommen war, weil seine Mutter die frischlackierten Fingernägel nicht ruinieren wollte. Aber nun stand sie bereits in der Küche und kramte einen Holzlöffel aus der Schublade.
Beim ersten Schlag verlor Assen etwas Urin. Jeder Schrei wollte die Mutter erweichen und machte sie doch nur rasender. Als das Holz schließlich zersplitterte, blickte sie rasch auf den spitzen Rest in ihrer Faust, dann auf ihn. Mit einem Laut, der verzweifelt klang und wütend zugleich, griff sie ihm in die Haare und schlug seinen Kopf an den Spülstein. Ein Zahn brach aus. Sofort ließ sie ihn los und wischte das Blut vom Becken.
Die Macht, die Iris jetzt über ihn hatte, war eigentlich nur quälend, weil sie keinen Gebrauch davon machte, weil sie ihn alleinließ mit seiner Furcht davor. Er sah sie hantieren in dem Haus in Bacchereto, das ihrer Schwester gehörte, sich umsichtig einrichten für alles weitere. Sie fuhr mit dem Solex ins Dorf, um einen kleinen Topf zu kaufen und eine Zündkerze. Sie dichtete die Fenster ab gegen den Winter, kratzte Moos aus der Dachrinne, hackte Holz und trieb das feststeckende Beil weiter, indem sie mit einem Ziegel daraufhieb. Die Frauen des Ortes waren ausdrücklich auf ihrer Seite. Sie wurde versorgt mit Wollsachen und einem Thermometer für das Badewasser, man zeigte ihr Hochzeitsfotos, Bilder von Kindern und Kindeskindern, und die Männer vor dem Café sahen weg, wenn sie kam, zupften sich am Ohr. Nachts schob sie den Küchentisch vors Haus, trank ein wenig Wein und sah hinab auf die Lichter von Prato, ein ständig bewegtes Strahlen, wie Gesang.
schlen|dern <sw. V.; ist>: a) gemächlich, mit lässigen Bewegungen gehen: wenn wir so schlendern, kommen wir zu spät; b) sich schlendernd irgendwohin begeben: durch den Park, die Straßen, zum Hafen s.
zu|se|hends <Adv.>: in so kurzer Zeit, dass die sich vollziehende Veränderung [fast] mit den Augen wahrgenommen werden kann: z. abnehmen; sich z. erholen; ihre Stimmung hob sich z.
be|sin|nen <st. V.; hat> [mhd. besinnen = nachdenken, refl. = sich bewusst werden]: 1. <b. + sich> nachdenken, überlegen: sich kurz, eine Weile b.; ich habe mich anders besonnen (meine Meinung geändert); sie hat sich endlich besonnen (ist zur Vernunft gekommen); er musste sich erst einmal b.; <subst.:> nach kurzem/ohne langes Besinnen. 2. <b. + sich> a) sich an jmdn., etw. erinnern: ich kann mich nicht mehr auf sie, auf ihren Namen b.; sie besann sich dessen nicht mehr; jetzt besinne ich mich wieder (jetzt fällt es mir wieder ein); wenn ich mich recht [darauf] besinne, war er schon einmal hier; b) sich bewusst werden: sie besann sich endlich auf sich selbst; (geh.:) wir besannen uns der Würde des Ortes; (geh.:) endlich besann sie sich ihrer Situation. 3. bedenken, über etw. nachsinnen: er besann sich der Märchen, die ihm die Großmutter erzählt hatte; ich hatte einiges zu b.
Ralf Rothmann |
Aus: Ralf Rothmann: Messers Schneide. Erzählung. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1986. S. 7–17.