Wissenschaft und Technik
Tanzende Gedanken
Forscher streiten: Entstehen neue Ideen im Gehirn durch Zufall, oder ist Kreativität ein rein logischer Prozess, den bald auch Computer beherrschen können?
«Kreativität ist eine Eigenschaft des Lebendigen, eine alltägliche Aufgabe und eine dämonische Kraft», beschwört der Heidelberger Medizinprofessor und Psychotherapeut Rainer Holm-Hadulla sein Forschungsthema. Der Immunologieprofessor Peter Krammer vom Deutschen Krebsforschungszentrum sieht im Aushecken neuer Theorien gar einen «Ausdruck von Todesangst und Todesabwehr». Bei der Frage, woher neue Ideen kommen, geraten selbst Experten ins Schwärmen.
Sogar der strenge Wissenschaftsphilosoph Karl Popper vermutete hinter jeder Entdeckung ein «irrationales Moment», eine «schöpferische Intuition». Er konnte sich dabei auf den wissenschaftlichen Star-Kreativen Albert Einstein berufen. Laut Einstein führt zu den großen Geheimnissen der Natur «kein logischer Weg, sondern nur die auf Einfühlung in die Erfahrung sich stützende Intuition».
Solchen geistigen Höhenflügen setzt der amerikanische Kreativitätsforscher Dean Keith Simonton nun eine provozierende These entgegen: Geniale Ideen sollen schlicht ein Geschenk des Zufalls sein. Simonton kann sich derartige Ketzerei leisten. Der Psychologe ist «Distinguished Professor» an der University of California in Davis, hat etliche Preise gewonnen und neun Bücher sowie über 260 kürzere Publikationen veröffentlicht.
Genialität beginnt laut Simonton banal. Während des Studiums und auch später noch verinnerlicht ein Wissenschaftler die Ideen seines Fachgebiets. Er lernt die bekannten Fakten und Forschungsmethoden. Aber auch die Denkweisen, großen Themen und offenen Fragen werden ihm vertraut.
Natürlich inhaliert nicht jeder genau die gleichen Ideen wie seine Fachkollegen – schon hier spielt Glück eine gewisse Rolle. Entscheidend wird es in der nächsten Phase. Die verinnerlichten Ideen schwirren nun im Kopf herum und werden beständig neu kombiniert. Manchmal passen zwei zusammen – und die Kombination ergibt eine neue, vielleicht grandiose Idee. Bei den meisten Forschern passiert dies freilich nie, und auch bei den Auserwählten vergehen bis dahin manchmal viele Jahre.
Der Grundgedanke geht auf den französischen Mathematiker Henri Poincaré zurück, der selbst etliche Entdeckungen machte. Poincaré hatte den Eindruck, dass in seinem Kopf Ideen wie Gasmoleküle herumtanzten und «kollidierten, bis Paare sich verbanden». So erinnerte er sich Anfang des vergangenen Jahrhunderts.
Wie der Zufall durch die Wissenschaft spukt, lässt sich am Beispiel der Post-it-Zettel zeigen. Diese gelben Papierschnipsel dienen heute in zahllosen Büros dazu, Akten schnell mit Anmerkungen für die Kollegen zu versehen. Sie existieren, weil vor 30 Jahren im Kopf eines US-amerikanischen Chemie-Ingenieurs namens Art Fry just während des Sonntags-Gottesdienstes zwei Ideen zusammenstießen: ein momentanes Problem und ein Wissensfragment.
Wieder einmal flatterten Fry die Lesezeichen davon, die im Gesangbuch die Seiten mit den zu singenden Liedern markierten. Während der offenbar nicht allzu aufregenden Predigt sann der Ingenieur auf Abhilfe: Ein Lesezeichen musste her, das auf den Seiten klebte, aber natürlich auch wieder spurlos abging. Plötzlich kollidierte dieses Problem in seinem Gehirn mit der Erinnerung an einen Fehlschlag seines Kollegen Spencer Silver Jahre zuvor.
Silver hatte einen Superkleber entwickeln wollen. Doch das Kunststoffgemisch, das er zusammenrührte, ließ Papier zwar an Oberflächen haften, aber man konnte es leicht wieder abheben – ein Superkleber war das nicht gerade. Jahrelang suchte Silver eine Anwendung für seine Chemikalie. Alles was ihm einfiel, war eine Art schwarzes Brett, auf das man Zettel heften und wieder ablösen konnte. Der Bedarf für dergleichen erwies sich jedoch als äußerst gering.
Erst Fry kam auf die nur scheinbar nahe liegende Idee: Man muss statt einer Tafel das Papier selbst klebrig machen – dann hat man einen Notizzettel, der sich leicht wieder entfernen lässt. Am Tag nach seiner Erleuchtung im Gottesdienst marschierte Fry zum Kollegen Silver. In den Labors ihres Arbeitgebers 3 M wartete nun noch eine Menge Feinarbeit, um die Zettel marktreif zu machen. Doch am Ende verkauften sie sich so gut wie kaum ein anderes Produkt des Konzerns.
Ein anderes Beispiel für das zufällige Zusammentreffen von Ideen liefert der Biochemiker Kary Banks Mullis, der 1993 den Nobelpreis für Chemie abholen durfte. Er hatte die Polymerase-Kettenreaktion erfunden, mit der sich kleinste Mengen DNA im Labor beliebig vervielfältigen lassen.
Diese Methode verdankte er nach eigenem Bekunden einem Geistesblitz. Der ereilte ihn 1983, als er mit dem Auto zu seiner Hütte in den Mammutbaumwäldern von Kalifornien fuhr – «bei Nacht, unterwegs auf einer mondbeschienenen Bergstraße». Als er das Lichterspiel von aneinander vorbeigleitenden und abbiegenden Autoscheinwerfern betrachtete, kam ihm «aus einem unglaublichen Zusammentreffen von Zufall, Naivität und glücklichem Irrtum plötzlich die Eingebung».
Der deutsche Physiknobelpreisträger Klaus von Klitzing ist ebenfalls überzeugt, dass viele große Entdeckungen zufällig gemacht wurden. Deshalb wendet er sich gegen Versuche von Wissenschaftsmanagern, für Forscher Projektpläne aufzustellen, «was man nach drei Jahren abliefern soll». Klitzing meint verärgert: «Was in der DDR abgeschafft wurde, wird jetzt wieder eingeführt.»
Doch nicht alle Kreativitätsforscher mögen die Vorstellung, dass neue Gedanken einschlagen wie der Blitz aus heiterem Himmel. «Dass das Zufallselement den Kern der Innovation ausmacht, ist eine dicke Illusion», kommentiert Gerd Graßhoff, Professor für Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte an der Universität Bern. Graßhoff gehört zur Gegenfraktion von Simonton. Vertreter seiner Strömung sehen so viel Logik hinter Innovationen, dass sie sogar Computerprogramme schreiben, die solche Durchbrüche nachvollziehen sollen.
Graßhoff hat dies am Beispiel einer frühen Entdeckung des späteren Medizinnobelpreisträgers Hans Adolf Krebs versucht. Krebs fand 1932 heraus, wie der Körper Harnstoff bildet. Graßhoffs Computerprogramm ahmt den Entdeckungsprozess nach: Es bildet systematisch Hypothesen zu möglichen chemischen Reaktionen, prüft sie und verwirft die meisten. Laut Graßhoff machte sein Modell am Ende den entscheidenden Gedankenschritt, welche Aminosäuren wie reagieren, «kunstgerecht und historisch adäquat».
Vielleicht genügt für manche wissenschaftlichen Großtaten tatsächlich systematisches Probieren. Allerdings ist bisher keine Entdeckung bekannt geworden, die ein Computer nach diesem Rezept eigenständig gemacht hätte. Bei Rekonstruktionen schon bekannter Entdeckungen aber besteht immer die Gefahr, dass die Schöpfer dem Programm an entscheidenden Stellen auf die Sprünge helfen. Graßhoff selbst wirft genau dies dem Nobelpreisträger Herbert Simon vor. Der hatte zusammen mit
Deepak Kulkarni ebenfalls ein Computerprogramm den Harnstoffzyklus entdecken lassen wollen.
Zufallsverfechter Simonton hält ein weiteres Gegenargument bereit: Wenn es nur genügend wissenschaftlichen Sachverstand und Methodenkenntnisse bräuchte, um ein bestimmtes wissenschaftliches Problem zu lösen, müsste dies mit schöner Regelmäßigkeit mehreren Wissenschaftlern gleichzeitig gelingen – es gibt ja genügend Forscher. Tatsächlich hatten immer wieder zwei Wissenschaftler fast gleichzeitig denselben Gedanken. So ersannen Newton und Leibniz unabhängig voneinander die Differenzialrechnung, Darwin und Wallace das Prinzip der natürlichen Auslese.
Aber solche zeitgleichen Mehrfach-Entdeckungen sind keineswegs die Regel. Nach einer Untersuchung dauert es in jedem dritten Fall über zehn Jahre, bevor der Nächste den gleichen Einfall hat. Statistisch betrachtet folgt die zeitliche Verteilung von Mehrfach-Entdeckungen genau dem Muster, das zu erwarten ist, wenn viele Wissenschaftler Ideen nach dem Zufallsprinzip hervorbringen.
Es kann denn auch sehr lange dauern, bis es zu einer Entdeckung kommt, nachdem alle nötigen Fakten bekannt sind. Der Biochemiker Archer Martin erhielt den Nobelpreis, weil er 1944 die Papierchromatographie erfand. Später meinte Martin, die Methode hätte schon ein Jahrhundert in Gebrauch sein können, wenn nur jemand in die richtige Richtung gedacht hätte.
Der Text ist entnommen aus: http://www.bild-der-wissenschaft.de