Главная страница «Первого сентября»Главная страница журнала «Немецкий язык»Содержание №21/2008

Literatur

Hans Joachim Schädlich
Irgend etwas irgendwie

Es steht ihm frei, heißt es, beliebig Worte zu benutzen. Niemand fragt danach. Gänzlich frei von den Gesetzen der gebundenen Rede. Oder der Zensur. Oder des Marktes. Nur die Regeln der Syntax beachten. Aber viele! Woher käme manchmal selteneren Eindrucks Eindruck, sonst? (Die Musik, die ihn aufschreckt, kommt aus dem ersten Fenster von rechts im vierten Stock des linken Hinterhauses.)
Bloß keine Erwägungen über Schprahche! Es gibt Universitäten, Institute, Wissenschaftler. Beachtenswert die Tonnen einschlägiger Abhandlungen, nur gerechnet das Jahr 1981.
Welches Wort an den Anfang? Auch hier freie Wahl: Vor.
Vor Tagen. (Es waren vier.) Vor vier Tagen. Klingelte das Telefon auf der Kommode im Korridor der Wohnung Vorderhaus zweite Etage links. Einer hörte es auf der Matratze im Hinterzimmer, bäuchlings, mit geschlossenen Augen, deutlich. Da sprang Einer auf, fand die Brille nicht, die neben dem Kopf lag, ging vorsichtig, aber schnell zu dem Telefon. Das hätte ich nicht gedacht, sagte Einer. Daß du mich anrufst. Also er nannte den zweiten Grund der Verwunderung zuerst. Den ersten sogleich: Daß du weißt, wo ich bin. Jaha, sagte die Anruferin, den tieferen Ton auf der ersten Silbe, den Ton der zweiten aus gewisser Höhe absenkend, aber nicht bis zur Tiefe der ersten. Was tust du, fragte sie. Schreibst du was auf? Einer erinnerte sich genau, daß es vor vier Tagen war. Seit siebzehn Tagen hatte niemand angerufen, und niemand hat angerufen seit vier Tagen.
Der (die), der (die) nicht weiß, wer Einer (Einer?) ist, wo er wohnt, warum er, wo er wohnt, wohnt, bei wem er (wieso bei wem) wohnt, weshalb ihn kaum jemand anruft, weshalb er kaum jemanden anruft, und zufällig hört, was er sagt, der (die) mag Antwort wollen auf Fragen: wer der ist, wo der wohnt und­soweiter, ehe weiterhin Interesse vielleicht aufgebracht wird für dessen Sätze. (Nein.)
Ja, antwortete Einer. Manchmal.
Einer dachte daran, daß er fünf Tage zuvor einen Brief geschrieben hatte an die Ortskrankenkasse:
Bitte um Übernahme der Restkosten für Zahnersatz.
Die Behandlung war langwierig. Provisorische Kronen auf abgeschliffenen Zähnen hielten gewöhnlich einen Tag. Entweder sie rutschten ab, Einer mußte eine provisorische Krone aus einem Brotstück lutschen, das er eben abgebissen hatte, und zwar in Gesellschaft zweier Esser, eines (einer) Erwachsenen und eines Kindes, vor denen er das Ungeschick verbergen wollte aus der Scheu, mit Daumen und Zeigefinger (Linkshänder) in den Mund zu langen, die Krone, scheinbar ein Zahn, wäre gesehen worden in seiner Hand während der Mahlzeit (es nimmt einer beim Kauen Zähne aus dem Mund), und wohin damit? Es blieb ihm, die Zungenspitze in das aufgeweichte Stück Brot zu bohren, Krone und Brotbrei zu trennen, die Krone zu verstecken unter der Zunge. Die Blicke der anderen auf seinem Mund, in welchem ungewohnte Bewegungen abliefen! Wie weiteressen.
Oder die provisorischen Kronen zerbrachen, blieben aber, zerbrochen, auf den abgeschliffenen Zähnen stecken. Kantige, scharfe Hindernisse, und ständig das Gefühl körperlichen Defekts!
Ihm fiel ein, daß er auch seinen Namen geschrieben hatte. Auf einen Fragebogen bei Zahnarzt Helm.
Aber den Brief an die Ortskrankenkasse und die Unterschrift auf dem Fragebogen erwähnte Einer nicht. Aus Scham vor der Besorgtheit und Hoffnung der Anruferin. Immerhin hätte sie zufrieden sein können mit einem Brief und einer Unterschrift. Das war viel. Nach allem. (Wie?) Aber Einer wußte, sie durfte nicht zufrieden sein. Auch nicht mit der Versicherung, er würde demnächst aufschreiben, daß er einen Brief geschrieben habe und seine Unterschrift. Einer hätte sich selber gefragt und fragt sich, wer interessiert sich für Sätze über Zähne.

Fortsetzung folgt

Aus: Hans Joachim Schädlich: Ostwestberlin. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1987. S. 81–98.


Hin|ter|haus, das: a) Haus im Hinterhof eines an die Straße grenzenden Hauses: sie wohnten in der Fasanenstraße im dritten H.; b) hinterer Teil eines größeren an der Straße gelegenen Hauses.

Er|wä|gung, die; -, -en: prüfende Überlegung: -en über etw. anstellen; aus gesundheitlichen -en; in der E. dessen, was er gesagt hat; nach reiflicher E.; etw. in E. ziehen (erwägen).

ein|schlä|gig <Adj.> [zu veraltet einschlagen = hineinreichen, -wirken]: zu einem bestimmten Gebiet od. Fach gehörend, dafür zutreffend: die -e Literatur; e. (wegen eines ähnlichen Deliktes) vorbestraft sein.

bäuch|lings <Adv.> [mhd. biuchelingen]: auf dem, den Bauch: sich b. auf den Boden werfen.

lang|wie|rig <Adj.> [spätmhd. lancwirig, 2. Bestandteil zu währen, eigtl. = lange während; schon ahd. langwirigi = (Fort)dauer]: lange Zeit beanspruchend u. dabei meist mühselig, Schwierigkeiten bereitend: eine -e Arbeit, Krankheit.

lut|schen <sw. V.; hat> [lautm.]: a) [saugend] im Mund zergehen lassen [u. auf diese Weise verzehren]: Bonbons, ein Eis l.; b) an etw., was in den Mund gesteckt worden ist, saugen: am Daumen l.

Un|ge|schick, Un|ge|schick|lich|keit, die; -, -en: 1. <o. Pl.> Mangel an Geschicklichkeit: der Schaden ist durch seine U. entstanden. 2. ungeschickte Handlung, ungeschicktes Verhalten: sich für eine U. entschuldigen.

dem|nächst <Adv.>: in nächster Zeit, bald, in Kürze: das wird sich d. ändern; d. in diesem Theater (nach Voranzeigen in Filmtheatern; auch ugs. scherzh.: bald, in Kürze [an dieser Stelle]).


Hans Joachim Schädlich
(* 8. Oktober 1935 in Reichenbach im Vogtland) ist ein deutscher Schriftsteller. Er ist der Sohn eines Kaufmanns. Er besuchte die Volksschule in Reichenbach und höhere Schulen in Bad Saarow und Templin. Von 1954 bis 1959 studierte er Germanistik und Linguistik an der Humboldt-Universität zu Berlin und an der Universität Leipzig. 1960 wurde er in Leipzig mit einer sprachwissenschaftlichen Arbeit promoviert. Von 1959 bis 1976 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter der Akademie der Wissenschaften der DDR in Ost-Berlin.
Schädlich begann Ende der Sechzigerjahre mit dem Verfassen von Texten, deren hohe literarische Qualität zwar von Lektoren durchaus gewürdigt wurde, deren Veröffentlichung jedoch wegen der unverhohlenen Kritik, die Schädlich in seinen Arbeiten an den Zuständen in seinem Land übte, von der DDR-Zensur verhindert wurde. Nachdem er im Dezember 1976 den Protest von DDR-Autoren gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns mit unterzeichnet hatte, wurde Schädlich seines Postens bei der Ost-Berliner Akademie enthoben; er war zudem zunehmenden Schikanen durch staatliche Stellen ausgesetzt. Seinen Lebensunterhalt konnte er sich nur noch als freiberuflicher Übersetzer verdienen.
Im August 1977 erschienen Schädlichs regimekritische Texte im westdeutschen Rowohlt Verlag unter dem Titel Versuchte Nähe; der Band wurde von der westdeutschen Literaturkritik begeistert aufgenommen und begründete Schädlichs hohes Ansehen als Autor. In der DDR wurde der Druck auf ihn noch stärker; von Seiten des Schriftstellerverbandes der DDR wurde ihm «staatsfeindliche Hetze» und eine «Herabwürdigung» der DDR vorgeworfen. Im Dezember 1977 wurde Schädlichs Ausreiseantrag stattgegeben, und er konnte mit seiner Familie in die Bundesrepublik Deutschland übersiedeln. Dort lebte er zuerst in Hamburg und in Dahlenburg; seit 1979 ist er in West-Berlin ansässig.
Hans Joachim Schädlich ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt; aus dem P.E.N.-Zentrum Deutschland trat er 1996 aus.

Auszeichnungen: 1977 Rauriser Literaturpreis, 1979 Förderpreis zum Andreas-Gryphius-Preis, 1986 Marburger Literaturpreis, 1992 Heinrich-Böll-Preis, 1996 Kleist-Preis, 1998 Schiller-Gedächtnispreis, 2003 Lessing-Preis des Freistaates Sachsen, 2004 Hoffmann-von-Fallersleben-Preis, 2007 Großer Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, 2007 Literaturpreis der Stadt Bremen.

Werke: Versuchte Nähe (1977), Der Sprachabschneider (1980) (zusammen mit Amelie Glienke), Irgend etwas irgendwie (1984), Mechanik (1985), Tallhover (1986), Ostwestberlin (1987), Deutsche im deutschen Exil? (1988), Kriminalmärchen und andere Geschichten (1991), Schott (1992), Über Dreck, Politik und Literatur (1992), Mal hören, was noch kommt. Jetzt, wo alles zu spät ist (1995), Der Kuckuck und die Nachtigall (1996), Vertrauen und Verrat (1997), Trivialroman (1998), Gib ihm Sprache (1999), Zwischen Schauplatz und Elfenbeinturm (2001), Anders (2003), Der andere Blick. Aufsätze, Reden, Gespräche (2005), Vorbei – drei Erzählungen (2007).