Wissenschaft und Technik
Das Erbe des Kanonenkönigs
Spurensuche an den Wurzeln der industriellen Revolution: Wissenschaftler erforschen die Urzelle der einst größten Waffenfabrik der Welt.
Fortsetzung aus Nr. 04/2009
Alfried Krupp von Bohlen und Halbach (1907–1967) vor einem Porträt seines Urgroßvaters Alfred Krupp: Er ging als «letzter Krupp» in die Geschichte ein. Nach dem Zweiten Weltkrieg musste er wegen Ausbeutung fremder Länder und Sklavenarbeit für sechs Jahre ins Gefängnis.
Erst 1853, in einem Kölner Theater, passierte es. Neben dem damals 41-Jährigen saß ein junges Mädchen, 21, für das der Hagestolz umgehend Feuer fing: «Wo ich glaubte, ein Stück Gussstahl sitzen zu haben, ist ein Herz.»
Nach der Heirat war Gattin Bertha den Lärm der Stahlschmiede allerdings bald leid. Immer öfter floh sie mit dem kränkelnden Sohn Friedrich Alfred nach Ägypten und nach Italien, der Kunst wegen. Der Ehemann genoss derweil den Krach seiner Maschinen. Der sei ihm «Musik» genug.
1861 ließ Alfred Krupp «Fritz» bauen, den damals größten Schmiedehammer der Welt. Allein dessen Kopf wog 50 Tonnen. Bei Volllast schlug das «Ungeheuer» (Historiker Gall) so wuchtig auf und nieder, dass in der nahen Krupp-Villa das Geschirr aus dem Schrank sprang.
Auf ihrer Entdeckungsreise in die Frühphase der Stahlzeit sind die Forscher auch in die alte metallurgische Geheimzone Krupps eingedrungen. Entdeckt wurde das «Bessemerwerk 3», wo erstmals auf dem europäischen Kontinent ein von Engländern entwickelter Fließstahl hergestellt und verfeinert wurde.
Und sogar die Fundamente des geheimnisumwitterten «Probirhauses H» kamen zutage. Dort gelang es der Firma 1871 unter strenger Abschirmung erstmals, massenweise Schrott zu Stahl umzuschmelzen.
Angesichts solch findiger Methoden schossen die Gewinne in die Höhe, bis zu 40 Prozent der Waren gingen in den Export. China und Brasilien gehörten zu den Abnehmern. Und immer öfter klopfte das Militär an.
Denn der Fabrik war es gelungen, Geschütze aus Stahl zu gießen. Diese Kanonen schossen weit genauer und vor allem doppelt so weit wie die herkömmlichen Bronzemörser.
Im Rüstungswettlauf der Heere avancierte Krupp zum Königsmacher. Es waren seine neuartigen Waffen, mit denen Bismarck 1864 die dänische Armee und 1871 Frankreich bezwang. Als kurz danach Russland und die Türkei in Streit gerieten, versorgte der Unternehmer gleich beide Seiten mit Kriegsgerät.
War Alfred Krupp skrupellos? Gewiss ist, dass er nie zögerte, mit Waffen Geld zu machen. Und dass er politische Betätigung in seinem Betrieb als Verrat ahndete. Wer nicht gehorchte, flog.
Wer sich dem Diktat fügte, kam allerdings in den Genuss üppiger Wohlfahrt. Die Firma führte früh eine Krankenversicherung ein. Es gab Speiseräume, Köche verteilten Suppen. Zudem zahlte der Boss die höchsten Löhne im Reich.
Sein altmodisches Motto: «Treue gegen Treue».
Als der Patriarch 1887 starb, standen über 12 000 Arbeiter mit schwarzen Fahnen Spalier. Kaiserliche Emissäre aus Berlin eilten herbei. Die Metallschmiede von der Ruhr hatte sich längst zum «nationalen Unternehmen schlechthin» (Gall) entwickelt.
Mit der Thronbesteigung Wilhelms II. im Jahr 1888 wurde die Verbindung zwischen Berlin und Essen noch enger. Unverhohlen machte der neue Kaiser Weltmachtansprüche geltend. Die Krupps unterstützten ihn dabei.
Auf 30°000, 40°000, 50°000 schnellte die Belegschaft hoch. Das Unternehmen stieg in den Brücken- und Hochbau ein. Es erwarb Kohlezechen und Erzhütten. Der Kaiser wollte eine Flotte. Die Krupps halfen sie zu bauen.
Auch aus dieser Hochphase haben die Archäologen Spuren entdeckt. Zutage kamen die Fundamente der alten Hauptverwaltung von 1912 mit ihrem mächtigen Uhrturm. Im Boden lagen unzählige Telefonleitungen, aber auch rostige Tresore, in denen die Kassierer einst das Geld verwahrten.
Das Ende der hitzigen Entwicklung ist bekannt: Im Mai 1945 war ein Drittel des Werks zerbombt. Rund 250 000 Menschen hatten zuletzt in der fauchenden Gluthölle bei Essen geschuftet, um der erdrückenden Übermacht der sowjetischen Kombinate und US-Stahlschmieden zu widerstehen.
Nach dem Zusammenbruch drängten vor allem die Engländer unerbittlich auf die Zerschlagung des Konzerns. 270 000 Tonnen Maschinen und Geräte ließen die Alliierten wegschaffen. Alfried Krupp von Bohlen und Halbach, der Urenkel von Kanonenkönig Alfred, musste wegen Ausbeutung fremder Länder und Sklavenarbeit für sechs Jahre ins Gefängnis. Sein Vater Gustav entging aus gesundheitlichen Gründen einer Strafe.
Es ist eine an Triumphen und Tragödien reiche Firmengeschichte. Über 5000 Fotos haben die Archäologen geschossen, um sie nun mit neuen Details anzureichern. Bodenproben wurden genommen und Funde gesichert. Vieles davon überrascht selbst Experten. Von den Bunkern zum Beispiel, wundert sich Hopp, «war keiner auf den Plänen eingezeichnet».
Die Konzernleitung verfolgt die Spürarbeit mit Wohlgefallen. Besonders freut sie eine Entdeckung in einem der Luftschutzräume. Dort prangt in fetten Lettern: «Für russische Arbeiter».
Hopp nennt die Inschrift ein «bedeutendes Zeitzeugnis». Sie beweist: Krupp ließ seine Zwangsarbeiter nicht ungeschützt im Bombenhagel stehen.
Von Matthias Schulz
Der Text ist entnommen aus: http://www.spiegel.de
Rauchgasabzug der Gussstahlfabrik: Bei den Ausgrabungen stießen Archäologen
auf überraschende Spuren aus der Frühzeit der industriellen Revolution.
die Abschirmung, -, -en: защита, прикрытие, ограждение; экранирование
bezwingen: побеждать (противника); покорять, подчинять; укрощать
Feuer fangen: загореться (каким-л. чувством), увлечься
der Hagestolz, -es, -e: старый холостяк
herkömmlich: обычный, традиционный
der Mörser, -s, -: мортира
der Schrott, -(e)s, -e: скрап, лом; отбросы [отходы] производства
verfeinern: рафинировать
wuchtig: тяжелый; тяжеловесный, увесистый; мощный; сильный, богатырский