Literatur
Helga Schubert
Mein Vater
Am fünften Dezember denke ich an ihn, jedes Jahr. Früher mußten sie mich noch an das Datum erinnern. Meine Mutter, meine Großmutter sagten dann: Heute ist der fünfte Dezember.
Aber in den letzten Jahren kommen die Gedanken an ihn ganz von selbst, schon einige Tage vorher.
Ende November, die Straße bleibt den ganzen Tag feucht, wenn es morgens nieselt. Das Abendbrot schon bei Lampenlicht, die Wärme beim Eintreten in die Wohnung, der warme Kachelfußboden im Bad morgens. Es wird Winter. Außerhalb der Stadt soll es schon geschneit haben.
Anfang Dezember. Die kurzen Tage. An diesem Tag war er also achtundzwanzig Jahre alt. Achtundzwanzig Jahre, drei Monate und einen Tag genau.
Alles an diesem Tag läuft minutiös für mich ab. Wie in einem Film seh ich ihn vor mir und hab ihn doch nicht gesehn. Keiner, der es mir erzählt hat, hat es mit eigenen Augen gesehen. Und doch denke ich, sie wissen es besser. Hab sie immer wieder gefragt.
Er steht also in einer Reihe mit anderen Männern, die Brille mit dem runden Horngestell. Ein Mann tritt vor und befiehlt ihm, im Wald dahinten Menschen zu suchen, aufzuspüren, die Gegend von ihnen zu säubern, mit einigen anderen.
Aber ist es ihm überhaupt befohlen worden? Er wollte doch Offizier werden, das habe ich in seinen Briefen gelesen. Er wird sich doch nicht freiwillig gemeldet haben? Er wird doch Angst gehabt haben.
Die Beförderung, ja, aber die tödlichen Waffen der anderen, die Gefangenschaft?
In der Nähe ein Friedhof, dort lagen schon Kameraden. Sie hatten noch ein Grab bekommen, jeder ein eigenes Grab. Die Erde ließ sich noch ausheben.
Er lief also mit den anderen über das Eis, über einen toten Arm der Wolga, mit Lederstiefeln, in der Sommeruniform, eine Zielscheibe.
Ein Eindringling, ein Feind, vor dem man das Land schützen mußte, dachten die Männer im Wald und warfen eine Handgranate. Auf ihn gezielt. Sie mußten mit Munition sparen.
Bemerkte er sie, während er ängstlich in eine andere Richtung sah? In den undurchdringlichen Wald?
Wie sollte er dort Menschen finden, in Erdlöchern. Menschen, die den Wald kannten, jedes Versteck? Wie sollte er dort einen einzigen Menschen finden, in diesem fremden Land, zu Hause...
Auf die Handgranate hat er sich direkt geworfen. Und war sofort tot. Am fünften Dezember neunzehnhunderteinundvierzig. An diesem Tag begann die sowjetische Gegenoffensive.
Was weiß ich von ihm?
Er hat mich noch im Frieden gezeugt. Hitlerzeit, aber Frieden. Januar neunzehnhundertvierzig minus neun gleich April neunzehnhundertneununddreißig. Da war noch Frieden.
Als meine Mutter wußte, daß sie schwanger war, gab es immer noch keinen Krieg. Denn es war erst Juni, als sie es sicher wußte. Ihr erstes Kind. Und ihr einziges.
Aus: Helga Schubert: Schöne Reise. Geschichten.
Aufbau-Verlag, Berlin und Weimar 1988. S. 54–66, 113–117.
Der Abdruck folgt dem Original von 1988 und entspricht damit nicht den heute gültigen Rechtschreibregelungen.
nie|seln <sw. V.; hat; unpers.>: leicht, in feinen [dicht fallenden] Tropfen regnen: es nieselt.
mi|nu|ti|ös, minuziös <Adj.> [frz. minutieux, zu: minutie = (peinliche) Genauigkeit < lat. minutia, zu: minutus, Minute] (bildungsspr.): 1. peinlich genau: eine -e Schilderung; etw. m. darstellen. 2. (veraltet) kleinlich.
Ge|stell, das; -[e]s, -e [mhd. gestelle = Gestell, Aufbau; Gestalt, ahd. gistelli = Gestell; Lage, Standort, eigtl. = Zusammengestelltes, zu Stall, heute auf stellen bezogen]: 1. Aufbau aus Stangen, Brettern o. Ä., auf den etw. gestellt od. gelegt werden kann: die Flaschen liegen auf einem G. 2. Unterbau, fester Rahmen (z. B. einer Maschine, eines Apparats): das G. des Bettes ist aus Messing; Ü zieh dein G. ein! (salopp; nimm deine Beine weg!). 3. (salopp) Person mit einem dürren Körper. 4. (Jägerspr.) schneisenartig ausgehauenes Waldstück. 5. kurz für Brillengestell.
auf|spü|ren <sw. V.; hat>: durch intensives Nachforschen, Verfolgen einer Spur entdecken, ausfindig machen, finden: eine Fährte, das Wild a.; einen Verbrecher a.; Ü die Ursache a.
Mu|ni|ti|on, die; -, -en [frz. munition (de guerre) < lat. munitio = Befestigung, Schanzwerk, zu: munire = aufmauern; befestigen, verschanzen]: aus Schießpulver, Geschossen, Sprengladungen o. Ä. bestehendes Schießmaterial für Feuerwaffen, Bomben o. Ä.: scharfe M.; seine M. verschossen haben; Ü seinen Kritikern M. liefern.
Ver|steck, das; -[e]s, -e [aus dem Niederd. < mniederd. vorstecke = Heimlichkeit, Hintergedanke]: Ort, an dem jmd., etw. versteckt ist, an dem sich jmd. versteckt hält; Ort, der sich zum Verstecken, Sichverstecken eignet: ich weiß ein gutes V.; wir holten das Heft aus unserem V.; er blieb in seinem V.; *V. spielen (Verstecken spielen): die Kinder spielten im Garten V.; V. [mit, vor jmdm.] spielen (seine wahren Gedanken, Gefühle, Absichten [vor jmdm.] verbergen).
Helga Schubert (Pseudonym bzw. Geburtsname von Helga Helm, * 7. Januar 1940 in Berlin) ist eine deutsche Psychologin und Schriftstellerin.
Helga Schubert ist die Tochter einer als Bibliothekarin tätigen Volkswirtin und eines 1941 gefallenen Gerichtsassessors und wuchs in Ost-Berlin auf. Sie legte 1957 ihre Reifeprüfung ab und arbeitete anschließend ein Jahr lang in einem Berliner Industriebetrieb am Band. Von 1958 bis 1963 studierte sie Psychologie an der Humboldt-Universität und erwarb den Grad einer Diplom-Psychologin. Sie war von 1963 bis 1977 im Hauptberuf und von 1977 bis 1987 nebenberuflich als klinische Psychologin tätig: Bis 1973 wirkte sie in der Erwachsenen-Psychotherapie, von 1973 bis 1977 war sie wissenschaftlich – mit dem Ziel einer Promotion – an der Humboldt-Universität tätig. Sie hat diese Promotion nicht vollendet. Von 1977 bis 1987 wirkte sie an der Ausbildung von Gesprächstherapeuten und in einer Eheberatungsstelle in Berlin mit. Seit 1977 ist sie freie Schriftstellerin. Von Dezember 1989 bis März 1990 war sie parteilose Pressesprecherin des Zentralen Runden Tisches in Ost-Berlin. Die Autorin lebt heute gemeinsam mit dem Maler und früheren Professor für Klinische Psychologie Johannes Helm in Neu Meteln bei Schwerin.
Helga Schubert, die bereits in den Sechzigerjahren mit dem Schreiben begann, veröffentlichte in der DDR neben einer Reihe von Kinderbüchern Prosatexte, in denen auf stilistisch ungewöhnlich präzise Art Schicksale aus dem DDR-Alltag geschildert werden. Daneben verfasste Schubert Theaterstücke, Hörspiele, Fernsehspiele und Filmszenarien. Nach der Wende wurde sie vor allem durch ihr dokumentarisches Werk Judasfrauen bekannt, das auf der Grundlage von Aktenstudien das Thema «Denunziantinnen im Dritten Reich» behandelt.
Helga Schubert, die seit 1976 dem Schriftstellerverband der DDR und seit 1987 dem PEN-Zentrum der DDR angehörte, aus dem sie 1991 zum PEN-Zentrum der Bundesrepublik Deutschland überwechselte, erhielt u. a. folgende Auszeichnungen: 1982 den Drehbuchpreis auf dem 2. Nationalen Spielfilmfestival der DDR für Die Beunruhigung, 1983 den Heinrich-Greif-Preis, 1986 den Heinrich-Mann-Preis und 1993 den Hans-Fallada-Preis.
Werke: Lauter Leben (1975), Bimmi und das Hochhausgespenst (1980), Bimmi und die Victoria A (1981), Die Beunruhigung (1982), Bimmi und der schwarze Tag (1982), Das verbotene Zimmer (1982), Bimmi und ihr Nachmittag (1984), Blickwinkel (1984), Anna kann Deutsch (1985), Und morgen wieder ... (1985), Schöne Reise (1988), Über Gefühle reden? (1988), Gehen Frauen in die Knie? (1990), Judasfrauen (1990), Bezahlen die Frauen die Wiedervereinigung? (1992), Bimmi vom hohen Haus (1992), Die Andersdenkende (1994), Das gesprungene Herz (1995), Die Welt da drinnen (2003).