Literatur
Rolf Hochhuth: Bismarck, der Klassiker
«Bismarck empfing den Kaiser im Rollstuhl ... Wir gingen gleich zu Tisch ... Der Fürst versuchte, politische Gespräche anzuspinnen ... Zu meinem größten Bedauern ging der Kaiser auf diese Gespräche nicht ein, sondern es wurde die an der kaiserlichen Tafel häufige Anekdötchenunterhaltung geführt. Immer wenn Bismarck von Politik anfing, vermied es der Kaiser, darauf zu achten. Moltke flüsterte mir zu: ‹Es ist furchtbar›; wir fühlten den Mangel an Ehrfurcht vor einem solchen Manne. Da sprach Bismarck aus irgendeinem Zusammenhange heraus ein Wort, das sich uns in seiner prophetischen Schwere eingrub: ‹Majestät, solange Sie dies Offizierskorps haben, können Sie sich freilich alles erlauben; sollte das nicht mehr der Fall sein, so ist das ganz anders.› An der scheinbaren Nonchalance, mit welcher das herauskam, als ob nichts darin läge, zeigte sich eine großartige Geistesgegenwart; daran konnte man den Meister erkennen.»
TIRPITZ: Letzter Besuch des Kaisers in Friedrichsruh, 15. Dezember 1897.
Die Erzählung, die unser Motto ist, wurde zu Ende geführt von Bismarcks Schwiegertochter: Während ihr Mann, Graf Herbert Bismarck, den Kaiser zum Bahnhof Friedrichsruh geleitete, sagte, ihnen nachblickend, der Rollstuhlfahrer: «Zwanzig Jahre nach dem Tode Friedrichs des Großen kam mit Jena-Auerstedt das Ende für Preußen; zwanzig Jahre nach meinem Tode – kommt das Ende für den!» Die exakteste Prophezeiung der Weltgeschichte, Bismarck «irrte» um ganze drei Monate: er starb am 30. Juli 1898, Wilhelm entwich ins Exil am 8. November 1918 ...
Noch bevor er am 2. August 1898 mit einem Kranz für 25 Minuten haltgemacht hatte in Friedrichsruh, um «nachzusehen, ob Bismarck auch wirklich tot sei», wie ein Höfling witzelte, doch der Sarg war schon zugeschraubt, hatte eine Zeitbombe, exakt auf Bismarcks Ableben eingestellt, den Kaiser am Vortag schwer angeschlagen: die Veröffentlichung des Entlassungsgesuchs von 1890. Im Auswärtigen Amt verurteilte Holstein, der als Mitarbeiter Bismarcks seit 1860 ihm nähergestanden hatte als jeder andere außer Sohn Herbert, daß einer die Fahne «auf halbstock» gesenkt habe: «Dieses demonstrative Zeichen der Trauer werde im liberal denkenden Bürgertum, noch mehr in den Arbeitermassen allgemeines Mißfallen und überdies, was das Bedenklichste wäre, den Zorn Seiner Majestät auf das AA lenken ...»
Exzellenz hatte nicht vergessen, daß keine zwei Jahre zuvor der Kaiser Bismarck wegen «Landesverrat» noch nach Spandau hatte verbringen lassen wollen, als der alte Mann – was im Reichstag auch der linksliberale Eugen Richter als Landesverrat begeiferte – in den ‹Hamburger Nachrichten› bekanntgab, bis zu seiner Entlassung habe zwischen Rußland und Deutschland ein geheimgehaltener «Rückversicherungsvertrag» bestanden, der beide Länder zur Neutralität verpflichtete für den Fall, eines von ihnen werde angegriffen.
Die Nichtverlängerung des Vertrags durch Berlin, klagte der Amtsenthobene an, habe Petersburg zu einer Allianz mit Paris «genötigt». Tatsächlich war nur einen Tag nach Bismarcks Amtsenthebung der russische Botschafter aus der Wilhelmstraße fortgeschickt worden ohne die Zusage, daß der ablaufende Vertrag verlängert werde. Bismarck rechtfertigte seine ebenso gesetzwidrige wie verantwortungsvolle Indiskretion: Er lasse die «Geschichtsfälschung der klerikal-liberalen Presse, die die Regierung Kaiser Wilhelms I. und seines Kanzlers für alles Unheil verantwortlich mache», nicht auf sich liegen ...
Noch eindrücklicher veranschaulicht wird die Verurteilung Bismarcks zur Unperson durch das offizielle Deutschland mit der Weigerung des Reichstages – dem 1895 nur 44 Sozialdemokraten angehörten –, dem Gestürzten zum 80. Geburtstag zu gratulieren: Mit 163 gegen 143 Stimmen wurde dank des Votums der «Herren Abgeordneten Singer, Richter und Graf Hompesch» der Antrag abgelehnt. Vergleichszahl: nur 26 Unterhausabgeordnete zahlten keine Spende zu Sutherlands Churchill-Porträt, das alle anderen Churchill zum 80. Geburtstag kauften, doch gefeiert wurde er von allen, auch von Kommunisten, obgleich er – was ihn selber fassungslos machte – «noch nicht einmal zurückgetreten war»!
Deutsche Parlamentarier dagegen konnten noch fünf Jahre nach Bismarcks Sturz in ihrer Mehrheit ihm nicht verzeihen, daß es ihn gegeben hatte. Und da Bismarck nicht aufhörte, der Regierung jenes Mannes, «der am liebsten jeden Tag Geburtstag hätte», offen seine Verachtung zu zeigen, so sagte schon 1892 der Zentrumsführer Lieber: «Er soll die Hände lassen vom Ruhme deutscher Macht und Herrlichkeit. Schmach und Schande, daß es in unserem Vaterlande solche Menschen gibt!»
Das Unmaß des Hasses, das noch als Greis, noch in der Gruft der Mann auslöste, dessen Seufzer: er habe nicht geschlafen, denn er habe «die ganze Nacht gehaßt», berühmt geworden war, mag dazu beitragen, daß bis heute eine Kritik der Bismarck-Kritik nie geschrieben wurde. Daß Bismarcks Kritiker so oft recht hatten mit ihrem Urteil, hat sie immunisiert gegen die Frage, wieweit sie auch das Recht hatten zu einem Urteil.
Denn abgesehen davon, daß der intensive Selbstquäler Bismarck alle Kritik an seiner Arbeit, auch vernichtende, schon selbst und oft vorweggenommen hatte (so sprach er vom «Traum der deutschen Einheit, den neben mir noch zwanzig andere Schwindler auch gehabt haben»): Linke wie Rechte haben längst weitgehend dank dessen, was sie selber seit Bismarcks Abgang in der deutschen Politik angerichtet und hingerichtet haben, allen Wind aus den Segeln verloren, der sie jahrzehntelang antrieb und noch heute dazu antreibt, Bismarck haftbar zu machen sogar für Geschehnisse, die ein Viertel-, ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod seine Hinterlassenschaft liquidierten. Wobei komischerweise zumeist die gleichen Personen, die Bismarcks nur «klein»-deutsche Lösung kritisierten – als hätten sie selber eine großdeutsche Einigung inklusive Österreichs zuwege zu bringen gewußt –, auch die sind, die ihm nachrechnen, seine Reichsgründung habe einen für außerdeutsche Europäer unerträglichen Machtklotz auf den Kontinent gewälzt.
Mögen die Linken den Schneid aufbringen, Bismarcks Sozialpolitik zu kritisieren, die sogar noch 1943 der Kommunist Heinrich Mann als ohne Vergleich fortschrittlich feierte, da er sechzig Jahre nach Bismarcks Erlassen selbst im Amerika des sozialen Franklin Roosevelt noch Bismarcks 1881 begonnene Krankenversicherungen, Unfallversicherungen, Alters- und Invalidenversicherungen vermißte.
Will man Bismarck im Sozialen Böses nachsagen, so mit vollem Recht, daß Reichskanzler Bülow mit berechtigtem Stolz schreiben konnte, 1883 seien etwa 173 000 Deutsche ausgewandert und so fast jährlich: 1892 noch 116 339 – jedoch ab Bismarcks Todesjahr nur noch jährlich etwa 22 000! Demnach habe dann Deutschland 55 Millionen Einwohnern bessere Existenzbedingungen gegeben als zur Zeit des Gründers, der 1871 nur 41 Millionen Untertanen gehabt hat: Bismarck, kein ausgeprägter Nationalist, hatte tatsächlich nicht das Gefühl, er müsse sich um Ausgewanderte ebenso kümmern wie noch fünfzig Jahre früher jene deutschen Fürsten, die (nach Wolfgang Stammler) im Texas-Verein versucht haben, den Ausgewanderten einen transatlantischen eigenen Staat zu schaffen, vor der Annexion von Texas durch die USA, Februar 1845.
Werner Richters ‹Bismarck› schildert dramatisch den Prozeß, wie der Deutsche Reichstag dem Kanzler dessen durchaus bis zum «Staatssozialismus» vorangetriebene Gesetzes-Entwürfe dermaßen zerredete und verwässerte und immer wieder zurückwies, daß Bismarck schließlich diese seine bleibende, am längsten nachwirkende Tat als so verfehlt einschätzte, daß er sie in ‹Gedanken und Erinnerungen› mit keinem Buchstaben erwähnte.
Eugen Richter verwarf im Reichstag die von Bismarck vorgebrachten (und bis heute noch nicht verwirklichten) Pläne, jedermann durch den Staat sein «Recht auf Arbeit» gesetzlich zu garantieren und den Unternehmern ein Eingriffsrecht des Staates bei Entlassungen ebenso zuzumuten wie den Gewerkschaften staatliche Eingriffsrechte gegen den Streikzwang, als «nicht nur mehr sozialistisch, sondern kommunistisch»!
Dieser machtvolle, redelustige Linksliberale hat sogar Bismarcks Vorschlag eines Leistungszuschusses zu den Versicherungskosten mit Erfolg verworfen. Bismarck resignierte, sagte aber: «Der Staat muß die Sache in die Hand nehmen, nicht als Almosen, sondern als Recht auf Versorgung, wo der gute Wille zur Arbeit nicht mehr kann. Wozu soll nur der, welcher im Kriege erwerbsunfähig geworden ist oder als Beamter durch Alter Pension haben und nicht auch der Soldat der Arbeit? Diese Sache wird sich durchdrücken. Sie hat ihre Zukunft. Es ist möglich, daß unsere Politik einmal zugrunde geht, wenn ich tot bin. Aber der Staatssozialismus paukt sich durch.» 1881 sagte er das!
Unangenehm, aber wahr: «Indem die deutsche Sozialdemokratie ihre höchsten politischen Ziele auf die Internationale einstellte, isolierte sie sich und verschärfte durch die unduldsame Betonung des sogenannten proletarischen Klassenbewußtseins, das nichts anderes als eine besondere Form deutschen Kastengeistes war» (Bülow), den Kampf der Regierung gegen sie. Der Franzose Jaurès hat nie begriffen, daß sein Freund Bebel als «Inhaber» der mitgliederstärksten Arbeiterpartei irreal keinen Anteil an der Staatsmacht anstrebte, weil in Deutschland der vierte Stand ebenso dünkeldumm mit seinem – ihm von Professoren eingeredeten – «proletarischen Bewusstsein» auf Adel und Bürger blickte wie die auf ihn. Wahr ist aber auch, was Gustav Mayer (Schwager von Jaspers, erster Historiker der Arbeiterbewegung, der an der Berliner Universität einen Lehrstuhl erhielt) in seinen Memoiren erzählt: daß der alte Bebel rot wurde vor Verlegenheit, als er kurz vor seinem Tode 1914 und nach langer Krankheit auf einem Flur des Reichstages von Kanzler Bethmann-Hollweg mit den Worten begrüßt wurde: «Wieder gesund, Herr Bebel, wie geht es?» – und dann zu Mayer sagte, dies sei nach über vierzigjähriger parlamentarischer Tätigkeit das erste Mal in seinem Leben gewesen, daß ein Mitglied der Regierung sich herabgelassen habe, ein persönliches Wort an ihn zu richten!
Fortsetzung folgt
Non|cha|lance, die; - [frz. nonchalance, nonchalant] (bildungsspr.): [liebenswürdige] Lässigkeit, Ungezwungenheit, Unbekümmertheit: jmdm. mit gespielter N. entgegentreten.
wit|zeln: a) witzige Anspielungen machen; spötteln: über jmdn., sich selbst w.; b) witzelnd (a) äußern: «Er steht unter ständigem Mutterschutz», witzelten die Stammtischbrüder.
Miss|fal|len, das; -s: Unzufriedenheit, Nichteinverstandensein mit einem Vorgang, einer Verhaltensweise o. Ä.
AA = Auswärtiges Amt.
be|gei|fern (auch für beschimpfen). gei|fern <sw.V.; hat> [mhd. geifern]: 1. Speichel aus dem Mund fließen lassen: das Kind geifert. 2. (geh. abwertend) gehässige, wütende Worte ausstoßen: gegen seine Feinde g.
In|dis|kre|ti|on, die; -, -en [frz. indiscrétion < spätlat. indiscretio, eigtl. = Rücksichtslosigkeit]: 1. Mangel an Verschwiegenheit; das Weitergeben einer geheimen, vertraulichen Nachricht: eine bewusste, gezielte I. 2. (selten) Taktlosigkeit.
vor|weg|neh|men <st. V.; hat>: etw., was eigentlich erst später an die Reihe käme, schon sagen, tun: etw. in Gedanken, gedanklich, in der Fantasie v.; die Pointe v.; Ü die Theorie nimmt den späteren Demokratiegedanken praktisch schon vorweg.
Schwind|ler, der; -s, - [älter = Fantast, Schwärmer, beeinflusst von engl. swindler = Betrüger] (abwertend): 1. jmd., der schwindelt, lügt: dem alten S. glaube ich bald gar nichts mehr. 2. jmd., der andere um des eigenen Vorteils willen u. zu deren Schaden täuscht; Betrüger: Hochstapler und andere S.
Hin|ter|las|sen|schaft, die; -, -en: 1. von einem Verstorbenen (z. B. als Vermächtnis, Erbe) Hinterlassenes: *jmds. H. antreten (1. jmds. Erbschaft antreten. 2. ugs. scherzh.; die von jmdm. verlassene Stelle, zurückgelassene unvollendete Arbeit o. Ä. übernehmen). 2. (geh.) beim Verlassen eines Ortes Zurückgelassenes; Hinterlassenes.
Schneid, der; -[e]s, südd., österr.: die; - (ugs.): Mut, der mit einer gewissen Forschheit, mit Draufgängertum verbunden ist: es gehört S. dazu, das zu wagen; ihm fehlt der S. (er traut sich nicht); *jmdm. den/die S. abkaufen (jmdm. den Mut zu etw. nehmen).
durch|pau|ken <sw. V.; hat> (ugs.): 1. von Anfang bis Ende, gründlich lernen, pauken: die unregelmäßigen Verben d. 2. mit Hartnäckigkeit od. Gewalt durchsetzen: Gesetze d.
Kas|ten|geist, der; -[e]s: abwertend für Standesdünkel. Dün|kel, der; -s (abwertend): übertrieben hohe Selbsteinschätzung aufgrund einer vermeintlichen Überlegenheit; Eingebildetheit, Hochmut: ein intellektueller, akademischer D.
Rolf Hochhuth
(* 1. April 1931 in Eschwege) ist ein deutscher Dramatiker und ein maßgeblicher Anreger des Dokumentartheaters. In seiner Funktion als Schriftsteller trat er als ebenso streitbarer wie versierter Anreger politischer Auseinandersetzungen zur NS-Vergangenheit und zu aktuellen politischen Fragestellungen hervor.
Aufsehen erregte Hochhuth durch sein umstrittenes Gedächtnisstück Der Stellvertreter, das sich erstmals kritisch mit der Haltung des Papstes Pius XII. gegenüber dem Holocaust befasste. In der Uraufführung durch den Regisseur des politischen Theaters Erwin Piscator in West-Berlin löste Der Stellvertreter 1963 die bis dahin größte und weitreichendste Theaterdebatte der Bundesrepublik Deutschland aus und sorgte international für erhebliche Kontroversen.
Sein 1967 uraufgeführtes Drama Soldaten, Nekrolog auf Genf stützte sich wesentlich auf Studien des damals noch unbekannten britischen Publizisten David Irving, der zwei Jahrzehnte später als Holocaustleugner hervortrat. In diesen frühen Werken Irvings wird der Alliierte Bombenkrieg als Kriegsverbrechen dargestellt.
Durch einen Vorabdruck seiner investigativen Erzählung Eine Liebe in Deutschland in der Wochenzeitung «Die Zeit» entfachte Hochhuth 1978 die Diskussion um die Vergangenheit des Baden-Württembergischen Ministerpräsidenten Hans Filbinger als NS-Richter (Hochhuth: der «furchtbare Jurist»). Filbinger trat im selben Jahr zurück und musste alle Ämter niederlegen.
In dem halb fiktiven Drama Alan Turing schrieb Hochhuth 1987 einfühlsam über den Vater des modernen «Computers», der mithalf, Funksprüche der Wehrmacht automatisch und kriegsentscheidend zu entschlüsseln. Hochhuth brachte Turing mit all seinen Widersprüchen auf die Bühne.
Neben geschichtspolitischen Stoffen kreist das späte Werk Hochhuths um die vielfältigen Facetten des Themenkomplexes «soziale Gerechtigkeit» (Wessis in Weimar, 1993; McKinsey kommt, 2004, als Neufassung von Arbeitslose oder Recht auf Arbeit, 1999).
Hochhuth ist verwitwet und lebt in Basel, einen Zweitwohnsitz hat er in Berlin.
Werke: Der Stellvertreter (1963); Soldaten, Nekrolog auf Genf (1967); Juristen (1979); Ärztinnen (1980); Judith (1984); Unbefleckte Empfängnis (1989); Wessis in Weimar (1993); McKinsey kommt (2004); Familienbande (2005).
Aus: Rolf Hochhuth: Täter und Denker. Profile und Probleme von Cäsar bis Jünger. Deutsche Verlags-Anstalt GmbH, Stuttgart 1987. S. 59–73.