Das liest man in Deutschland
Abseits vom Weg
Walter Hincks «Romanchronik des 20. Jahrhunderts» stellt eher unbekannte Romane berühmter Autoren vor
Gegen den «Strich des eingebürgerten Kanons Bilanz zu ziehen», wie es die hier zu rezensierende Publikation verspricht, das kommt immer gut. Arno Schmidt war, rückblickend vor allem auf das 18. und 19. Jahrhundert, ein moderner Pionier in dieser Disziplin, und dass heute ein Karl Philipp Moritz so gebührend zu seinem 250. Geburtstag geehrt wird, ist mit sein Verdienst.
Der emeritierte Kölner Literaturprofessor Walter Hinck hat nun in seiner Roman-Chronik des 20. Jahrhunderts den Versuch unternommen, eine «bewegte Zeit im Spiegel der Literatur» zu porträtieren. Besondere Beachtung schenkt er dabei Romanen, «in denen der Gang der politischen und der Sozialgeschichte, der Kultur-, der Alltags- und der Mentalitätsgeschichte seinen Fußabdruck in der Erzählung hinterlassen hat», wie es im Vorwort heißt. Als Grundsatz gilt ihm dabei: «Die erzählerische Anverwandlung des historischen Stoffes ist keine plane Aneignung; es sind ausgefeilte künstlerische Mittel, mit denen Geschichtliches absorbiert wird.»
Hinck stellt 37 Romane repräsentativer Autoren des 20. Jahrhunderts vor – und zwar oft solche Texte, die in der Regel zu den abseitigen Werken ihrer Verfasser gerechnet werden. Angenehm ist dabei, dass Hinck in seinen stets knapp gehaltenen und im positiven Sinne feuilletonistischen Artikeln keine große Lust verspürt hat, «Hunderte von Auslegungen und Spekulationen wiederzukäuen». Hinck ist hier ganz der guten alten Schule verpflichtet: Er fuchtelt1 nicht etwa mit modisch verklausulierten2 Giorgio-Agamben-Nebelkerzen herum oder stellt halsbrecherische poststrukturalistische Turnübungen an, sondern versucht schlicht, den Inhalt der Romane konzentriert und doch mit nonchalant3 eingeflochtenem Hintergrundwissen wiederzugeben: «Auf eine ‹schlanke›, weder ausschweifende noch fußnotenträchtige Darstellung für ein breites literarisch interessiertes Publikum kam es dem Verfasser an.»
Und das gelingt dem Autor gut, wie man gerade auch an seinen Artikeln über schwer zusammenfassbare moderne Prosagebilde wie etwa Wolfgang Koeppens Tauben im Gras (1951) überprüfen kann. Die Vorstellung dieses Romans ist übrigens einer der Fälle, in denen Hinck entgegen seiner Richtschnur nicht vom üblichen Kanon abweicht – auch im Fall Elias Canettis etwa wird man wohl kaum behaupten wollen, Die Blendung (1935) gehöre zu seinen weniger bekannten Werken.
Wer sich wie Hinck mehr auf sein umfassendes literarisches Allgemeinwissen verlässt, als seine Behauptungen in akribischer Fußnotenarbeit zu verifizieren, macht allerdings auch schon einmal Fehler. Lässlich sind bloße Fehlleistungen wie die im Beitrag über Thomas Manns Königliche Hoheit (1909), wonach der Schriftsteller um seine Braut Katia Pringsheim 1904 geworben und sie erst im Februar 2005 geheiratet haben soll.
Die Nachlässigkeit im Überprüfen eigener Behauptungen kann aber auch zu noch peinlicheren Bockschüssen führen. So heißt es leider in dem ansonsten gut geschriebenen Artikel über Arno Schmidts Kurzroman Aus dem Leben eines Fauns: «Wenn gegen Ende des 20. Jahrhunderts der Schriftsteller Winfried Georg Sebald eine Darstellung des Luftkriegs in der deutschen Nachkriegsliteratur vermißte, so kann er – wie manches andere – Arno Schmidts Roman von 1953 nicht gelesen haben.»
Kann er sehr wohl. Genau in dieser Studie nämlich schrieb Sebald über die berühmte expressionistische Bombenangriffsszene in Schmidts Roman: «Ich sehe nichts von dem, was da beschrieben wird, ich sehe immer nur einen Autor, eifrig und verbissen zugleich, über seiner linguistischen Laubsägearbeit. Es ist bezeichnend für den Hobbybastler, daß er nach einem einmal verwickelten Verfahren immer wieder das gleiche produziert, und so bleibt auch Schmidt, selbst in diesem äußersten Fall, unbeirrt bei seinen Leisten: kaleidoskopartige Auflösung der Konturen, anthropomorphe Vision der Natur, das Marienglas aus dem Zettelkasten, die eine oder andere lexikalische Rarität, Groteskerien und Metaphorisches, Humoristisches und Lautmalerei, Ordinäres und Erlesenes, Brachiales, Brisantes und Bruitistisches.»
Wahrscheinlich hatte Hinck das bei Sebald auch irgendwann einmal selbst gelesen und dann den Fundort einfach vergessen, denn seine allerdings bescheidener formulierten Einwände gegen Schmidts Handwerk gehen am Ende in eine ähnliche Richtung: «Die Erfindungs- und Innovationskraft verdrängt die Ausdruckskraft; angesichts der neuen Herausforderung scheint diese Sprache manchmal entleert zum nur noch virtuosen Spiel.»
Als wunderbarer Feuilleton-Artikel würde auch Hincks Vorstellung Thomas Bernhards funktionieren. Hier hat sich der Autor den nun wirklich obskuren und nur für hartgesottene Insider verdaubaren Roman Amras (1964) ausgesucht. Über die zentrale Autorcharakterisierung dieses Porträts lässt sich allerdings auch bestens streiten: «Ja, Bernhard ist der Abraham a Santa Clara redivivus, ein Strafprediger des 20. Jahrhunderts, ein Kapuziner in der Kutte des Weltverächters, nur weniger witzig, dafür weitaus bissiger noch als sein Vorgänger im Barockzeitalter, dessen theologische Flammenreden er völlig säkularisiert hat.»
Tatsächlich kann man über kaum einen Autoren des 20. Jahrhunderts so viel und so herzlich lachen wie über Bernhard und seine Bücher. Aber da Hinck ja auch zum Überprüfen seiner pointierten Urteile anregen möchte, gehen solche angreifbaren Positionierungen und griffigen Klassifizierungen vollkommen in Ordnung: «Anschaulichkeit glaubte auch der Verfasser dem Leser schuldig zu sein; Handlungsskizzen mögen die Orientierung erleichtern und Lust auf die Lektüre (Wiederlektüre) der Romane selber machen», postuliert er im Vorwort.
Ersteres ist Hinck zweifelsohne gelungen: In seinem Buch umherzulesen, macht wirklich Spaß. Und Letzteres ist ein Unterfangen, dem an dieser Stelle so viel Erfolg wie möglich gewünscht sei.
Von Jan Süselbeck
Walter Hinck: Roman-Chronik des 20. Jahrhunderts. Eine bewegte Zeit im Spiegel der Literatur. DuMont Buchverlag, Köln 2006.
1fuch|teln <sw. V.; hat> [älter = mit Stock od. Klinge schlagen] (ugs.): etw. schnell [u. erregt] in der Luft hin u. her bewegen: mit den Händen f.; wild fuchtelnd kam sie auf mich zu.
2ver|klau|su|lie|ren <sw. V.; hat>: 1. mit (zahlreichen) Klauseln, Vorbehalten, einschränkenden od. erweiternden Bestimmungen o. Ä. versehen: einen Vertrag v. 2. verwickelt u. daher nur schwer verständlich formulieren, ausdrücken: er versuchte das Eingeständnis seiner Schuld geschickt zu v.; sich verklausuliert ausdrücken.
3non|cha|lant <Adj.> [frz. nonchalant, aus: non- = nicht- u. (a)frz. chalant, 1. Part. von: chaloir < lat. calere = sich erwärmen für jmdn., etw.] (bildungsspr.): [liebenswürdig] ungezwungen, unbekümmert, lässig: n. über etw. hinweggehen.
Der Text ist entnommen aus:
http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=10003&ausgabe=200610