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Literatur

Rolf Hochhuth: Bismarck, der Klassiker

(Fortsetzung aus Nr. 01/2007)

Ebenso wie in Versailles vor der französischen Revolution, hatte auch vor der Berliner kein Mitglied der Hofgesellschaft oder Regierung Instinkt genug zu ahnen, daß «die Füße derer, die dich wegtragen werden» längst vor der Türe standen ... ja, schon im Zimmer!

Die Linke hängt bis heute Bismarck an, Sozialpolitik nur gemacht zu haben, um der SPD «ihre» Argumente zu stehlen; deshalb auch, ja! Aber ebenso idiotisch könnte einer denunzieren, Adenauer und Schmidt hätten die Bundeswehr nicht geschaffen, um Soldaten zu haben, sondern «nur», um Jugendliche und Rüstungsfirmen in Brot zu bringen und Aggressoren abzuwehren, was ja auch wahr ist, aber doch kein Einwand!

Die Linke: Hundert Jahre nach Bismarcks «Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie vom 21. Oktober 1878» läßt sie es zu, daß des linken Kanzlers Willy Brandt noch harmlos gemeinter Radikalenerlaß im Begriffe ist, die ganze BRD zu verwandeln in ein einziges BKA!

Junge Historiker, jene also, die zu Hitlers Zeit geboren wurden, lassen sich verdächtig selten herbei, Bücher zu schreiben wie der Freiburger Wolfram Wette, der in ‹Kriegs-Theorien deutscher Sozialisten› den Nachweis führte, daß nicht nur ein Krieg gegen die sogenannte «Zaristische Knute» den Sozialdemokraten erlaubt bis erwünscht schien, sondern auch Krieg gegen Frankreich, sofern nur diese Kriege den Weg planieren würden zur Erkämpfung des nationalen und internationalen Sozialismus.

Von Marx, von Engels, von Bebel, die freilich alle drei voraussagten, was auch Bismarck gefürchtet hat, aber nicht genug gefürchtet hat; denn schließlich ließ er sich ja doch gegen besseres Wissen durch die ihm verhaßte Generalität dazu hinreißen – daß nämlich die Annexion Lothringens das Reich ewig zum Bündnis mit Rußland zwinge, unter beinahe jeder Bedingung – von den drei großen Sozialisten gibt es wesentlich militantere Hetzreden gegen Rußland und sogar gegen die Slawen als Rasse, als sie je von Bismarck oder auch nur, wenn man absieht vom Jahre 1887, im Berliner Generalstab zu hören waren.

Bismarcks damalige und endgültige Entscheidung, auch bei russischen Kriegsdrohungen keinem Präventivkrieg zuzustimmen, weil – seine klassische Formulierung – selbst im unwahrscheinlichen Fall eines vollständigen Gelingens wir Deutschen «einen Krieg gegen Rußland immer nur vor uns, nie hinter uns haben würden», mit dem Zusatz, die Armee solle nicht aus Angst vor dem Tode Selbstmord begehen – ist ihm dann auch noch nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg als das angeblich entscheidende Versäumnis seiner späteren Jahre nachgerechnet worden. Am intelligentesten und sogar so lange glaubhaft, bis Hitlers Krieg das Gegenteil belegte, durch Ulrich Noacks 1928 publizierten, noch immer faszinierend detailreichen Wälzer: ‹Bismarcks Friedenspolitik und das Problem des deutschen Machtverfalls› – die eben das Resultat der senilen und sogar religiös verankerten Friedfertigkeit Bismarcks gewesen seien ...

Doch diese Kritik der Liberalen oder Rechten geht vorbei an der eingefleischten Russenfurcht jedes Preußen: Wie Friedrich der Große lieber die Tochter eines seiner Generale (aus der dann Katharina die Große wurde) als Braut einem Zaren sandte, statt eine leibliche Schwester nach Petersburg zu schicken, worum er gebeten worden war; wie er in seinem Testament warnte, den Untergang Karls XII. vor Augen, sich je mit diesen «Barbaren im Osten» einzulassen – so sagte Bismarck: «Ich habe in das kalte Auge des Bären gesehen.» Und predigte zeitlebens auch öffentlich: Freundschaft mit Rußland. Seine Kanzel war der Journalismus; schrieb er nicht selber wie Churchill – und er schrieb eine wundervolle, an Heine geschulte Prosa – so ließ er schreiben; so auch noch nach seiner Entlassung den Russen Ignatiew Lwow, der am 28. April 1890 in Friedrichsruh zu hören bekam:

«Wenn jemand denkt, daß mit Rußland Krieg führen nicht furchtbar ist, so irrt er sich: in Sansibar Krieg führen ist ungefährlich, in Rußland sehr gefährlich und führt zu nichts. Etwas anderes ist une guerre défensive, wenn Rußland sich auf Deutschland würfe, dann hätten wir die Verteidigung des heimischen Herdes, le feu sacré und alles übrige; aber in anderer Weise mit Rußland kämpfen, wäre gefährlicher als mit irgend jemand sonst. Und das trotz der Zahl unserer Truppen und ihrer Kriegsbereitschaft. Und zu alledem – der Winter und die ungeheuren Räume, das sind furchtbare Waffen, denen man nichts entgegensetzen kann, diese hölzernen Häuser, die man ohne Kosten wieder herstellt, und die Hauptsache, das Allerstärkste und Unbesieglichste – das ist die persönliche Eigenschaft des edlen russischen Volkes, welches immer ergeben und immer zufrieden ist mit dem, was es hat, wie mit der Gegenwart im allgemeinen, und die Summe von alledem – alle diese ungeheuren Waffen – schützt Sie vollständig gegen jeden Angriffskrieg. Und endlich, was wollen wir von Rußland oder Rußland von uns? Milliarden würden weder wir von Ihnen, noch Sie von uns holen, selbst bei dem glücklichsten Erfolge des einen Teils würde er froh sein, die Kriegskosten wieder zu erhalten, die ungeheuer sein würden; eine Erwerbung; und ich werde meine Worte niemals zurücknehmen, von etwas über die Memel hinaus, ist ein Verbrechen nicht bloß gegen uns, sondern gegen ganz Deutschland.»

Das begründete er detailliert. Ewige Schande der DDR-Kommunisten, das im Kriege unversehrte Schönhausen deshalb 1946 bis zur Türschwelle abgerissen zu haben, weil es die Wiege Bismarcks war, der niemals den Russen vergessen hat, daß sie erstens Preußen im Siebenjährigen, dann im Napoleonischen Krieg gerettet haben – dann Bismarck gestatteten, seine drei Kriege mit freiem Rücken zu führen ...

Linke jener Jahrgänge, die momentan die Lehrstühle erklettern, verfügen über eine imponierende, früher bei Historikern wohl kaum in diesem Ausmaß vorhanden gewesene Detailkenntnis im Soziologischen. Was sie dann veranlaßt oder auch verführt – Außenpolitik interessiert sie wenig, sie schauen zumeist vereinfachend weg von allen gleichzeitig abgelaufenen Geschehnissen in Wirtschaft, Presse und Generalstäben des Auslands –, den Kanzler haftbar zu machen für jeden Bankkrach nach 1871 (es gab viele), für jede nicht mehr nach Rußland zu exportierende Eisenbahnschiene, für jede Hochofen-Stillegung und für die zweifellos von Bismarck mitverschuldete, erschreckend hohe jährliche Auswandererquote.

Sogar der Antisemitismus, der dann in der Depression von 1873 bis 1879 zur Seuche wird, soll noch mitverschuldet worden sein von dem Mann, der in Versailles bei Tisch sagte, die hervorragende Intelligenz sehr weniger Junkerfamilien sei das Ergebnis der Eheschließungen mit Jüdinnen; auch er, Bismarck, wisse noch nicht, ob er seinen Söhnen nicht einmal dazu rate ...

Diese jungen Autoren verheizen zwar Bismarck nicht wie der in allem geschichtlichen Detail allzu schlichte Brecht, der in den ‹Tagen der Kommune› den Kanzler als vollidiotische Schießbudenfigur ins Parkett krakeelen läßt, Bleichröder solle soundso viele Millionen der von Frankreich einzutreibenden Milliarden auf sein, Bismarcks, Privatkonto überweisen.

Doch schreiben sie meist Geschichte unter Ausklammerung aller außerdeutschen Bestrebungen und Ereignisse, wie Fritz Fischer, der in seiner Darstellung von Deutschlands ‹Griff nach der Weltmacht›, um die Durchschlagskraft seiner (sicherlich richtigen) These nicht zu gefährden, 847 Seiten den deutschen, doch nur eine einzige Seite den Kriegszielen der Russen, Briten und Franzosen widmete. So kommt man zu Formeln, die zünden. Die meiststrapazierte seit 1933 lautet bekanntlich: «Von Bismarck zu Hitler.»

Im Ernst, erstaunlich, wie lange diese blödsinnige Denunziation sogar von Seriösen, wie noch von Rothfels, wenn auch in nur einschränkender Form, nachgebetet werden konnte, wo doch jede einzelne Marginalie Bismarcks (und nicht zuletzt schon der Stil, in dem sie geschrieben ist) sie Lügen straft.

Peter Graf Kielmansegg, Jahrgang 1937, ist meines Wissens der einzige Historiker seiner Generation, der nicht die Mode mitschreibt, einen Menschen, der einen Tag vor Napoleons Rückkehr aus Elba nach Paris geboren wurde, noch für mitschuldig zu erklären sogar an dem, was volle hundert Jahre später, 1915, die Enkel-Generation versaut hat.

Kielmansegg: «Die Gründung des Reiches hat nichts determiniert; der Weg in den Ersten Weltkrieg war sowenig von 1871 an vorbestimmt wie das Unheil des Nationalsozialismus» – der sich dann ehrlicherweise auch schon gar nicht mehr auf Bismarck berief. Wußte doch sogar Hitler, daß Bismarck Kolonien nur spät und wenige (gemessen an England und Frankreich) erworben hat, um sich nicht völlig gegen den Zeitgeist zu stellen und um mit England politische Tausch-Geschäfte austragen zu können – daß er aber nie eine Flotte wollte. Sein letztes Wort war denn auch, 1897, die Warnung vor einem Schlachtflotten-Bau! Der Kaiser hatte ihm die verhängnisvollste Figur seines Reiches im Frieden (im Kriege wurde Ludendorff der Verhängnisvolle), nämlich Tirpitz ins Haus geschickt, damit der Alte einen Panzerkreuzer ‹Bismarck› taufe – Bismarck lehnte ab: «Er sah mich mit einem vernichtenden Blick an und grollte los»: mit einer Schlachtflotte werde der Kaiser einen Feind schaffen, den es nie gäbe, schaffte er die Schlachtflotte nicht. «Dem Kaiser möchte ich sagen: er wünsche nichts anderes als allein gelassen zu werden (to be let alone)»: wegen des mithörenden Kutschers – fast ein Symbol – besprachen sie englisch den anderthalb Jahrzehnte später von Tirpitz und Wilhelm provozierten Krieg mit England, den Bismarck schon vor Augen hatte, der deutschen Flottenpläne wegen. Nie hatten sie einander bekämpft, im Gegenteil: Zweimal hatten Briten mit Deutschen, da es bisher keine Rivalität zwischen ihnen gab, Europa gerettet vor der französischen Hegemonie, Prinz Eugen mit Marlborough, Gneisenau mit Wellington. Und dieser Kaiser jetzt war Enkel sogar der Queen ... die idiotische Geschichte, die Europa zugrunde gerichtet hat!

Noch zum «persönlichen Regiment» Bismarcks, das zum Beispiel Fürst Lichnowsky, des Kaisers letzter Botschafter in London, als «Diktatur» in seinen Memoiren anklagt, weil er – wie Wilhelm I. sehr hellsichtig – Bismarcks Freundschaft mit Wien seit dem Berliner Kongreß für einen kommenden Kriegsgrund Rußlands ansah. Auch Mommsens Testament klagt die Bismarck-Zeit an, die dem Bürger – «ich wünschte ein Bürger zu sein» – kein Mitspracherecht an der Politik zubilligte. Das ist wahr: Selbst Großindustrielle waren erst hoffähig, wenn sie geadelt worden waren. Und doch: Für Kunst hat Bismarck mehr getan als jeder vor und nach ihm, weil er – woran neulich Ernst Jünger in ‹Autor und Autorschaft› erinnerte – es abgelehnt hat, auf Einkommen aus musischer Tätigkeit Steuern zu erheben!


an|hän|gen <sw. V.; hat>: (ugs. abwertend) a) jmdm. etw. [Übles] zuschreiben, aufbürden, in die Schuhe schieben: jmdm. einen Betrug, einen Diebstahl a.; b) jmdm. etw. [Unbrauchbares, Schlechtes] verkaufen, andrehen: jmdm. eine ganze Lieferung schlechter Ware a.

de|nun|zie|ren <sw. V.; hat> [1: lat. denuntiare = ankündigen, anzeigen; 2: nach engl. denounce]: 1. (abwertend) [aus persönlichen niedrigen Beweggründen] anzeigen: jmdn. bei der Polizei d. 2. als negativ hinstellen, öffentlich verurteilen, brandmarken: ein Buch, eine Meinung [als etw.] d.

Ein|wand, der; -[e]s, Einwände: Äußerung einer [teilweise] anderen, abweichenden Auffassung in einer bestimmten Sache; Gegengrund; kritischer Vorbehalt: ein berechtigter E.; gegen etw. einen E. erheben, vorbringen, machen; ich habe keine Einwände; einen E. zurückweisen.

nach|rech|nen <sw. V.; hat>: 1. (zur Kontrolle) noch einmal rechnen. 2. etw. zurückverfolgen u. dabei die vergangene Zeit berechnen: er wusste nicht mehr, wie viele Jahre vergangen waren, und musste erst n.

se|nil <Adj.> [lat. senilis = greisenhaft, zu: senex, Senior]: 1. (bildungsspr., oft abwertend) durch Alter körperlich u. geistig nicht mehr voll leistungsfähig; greisenhaft u. in seinen Äußerungen u. Handlungen mehr od. weniger kindisch: s. werden, sein. 2. (Med.) das Greisenalter betreffend; im hohen Lebensalter auftretend: -e Demenz.

Fried|fer|tig|keit, die; -: friedfertige Gesinnung. fried|fer|tig <Adj.>: das friedliche Zusammenleben, die Eintracht liebend; verträglich, umgänglich: ein
-er Mensch, Charakter.

ein|ge|fleischt <Adj.> [mhd. ingevleischet = fleischgeworden, LÜ von lat. incarnatus]: 1. die der angesprochenen Lebensweise, Eigenschaft o. Ä. entsprechende innere Einstellung durch u. durch verkörpernd [u. in der Hinsicht unverbesserlich]: ein -er Junggeselle; eine -e Optimistin, Atheistin; -e Gegner des Flughafens. 2. zu nicht mehr änderbarer Gewohnheit, zur zweiten Natur geworden: -e Sparsamkeit; -e Gewohnheiten; ihr Misstrauen war tief e.

un|ver|sehrt <Adj.> [mhd. unverseret]: a) nicht verletzt, verwundet; b) nicht beschädigt: das Siegel ist u.

ver|hei|zen <sw. V.; hat>: 1. zum Heizen verwenden: Holz, Kohle v. 2. (salopp abwertend) jmdn. ohne Rücksicht auf seine Person einsetzen u. seine Kräfte schließlich ganz erschöpfen: einen jungen Spieler v.

kra|kee|len <sw. V.; hat> (ugs. abwertend): laut schreien [um Streit anzufangen]; lautstark schimpfen; sich lautstark streiten: die Betrunkenen krakeelen auf dem Heimweg; in einer Versammlung k.

Aus|klam|me|rung, die; -, -en: das Ausklammern. aus|klam|mern <sw. V.; hat>: 1. (Math.) vor od. hinter die eingeklammerte algebraische Summe stellen: x, eine Zahl a. 2. (Sprachw.) einen Satzteil od. Attributsatz, der üblicherweise vor dem schließenden Prädikat steht, hinter dieses stellen: einen Relativsatz a. 3. in einem bestimmten Zusammenhang unberücksichtigt, beiseite lassen, ausschließen: eine heikle Frage a.

Mar|gi|na|lie, die; -, -n: 1. <meist Pl.> (Sprachw., Literaturw.) a) handschriftliche Glosse, kritische Anmerkung o. Ä. in Handschriften, Akten od. Büchern; b) auf den Rand einer [Buch]seite gedruckter Verweis (mit Quellen, Zahlen, Erläuterungen o. Ä. zum Text). 2. (bildungsspr.) Angelegenheit von weniger wichtiger Bedeutung, Nebensächlichkeit, Randerscheinung.

Zeit|geist, der <o. Pl.> [1769 erstmals bei Herder]: für eine bestimmte geschichtliche Zeit charakteristische allgemeine Gesinnung, geistige Haltung.

grol|len <sw. V.; hat> [mhd. grollen = zürnen; höhnen, spotten] (geh.): 1. Groll haben [u. ihn äußern]; zürnen; ärgerlich, verstimmt sein: sie grollt seit Tagen; er grollt [mit] seinem Vater [wegen dieser Entscheidung]; Ü mit dem Schicksal, über eine Entwicklung g. 2. dumpf rollend dröhnen, donnern: der Donner grollt; <subst.:> das Grollen der Geschütze.

Aus: Rolf Hochhuth: Täter und Denker. Profile und Probleme von Cäsar bis Jünger. Deutsche Verlags-Anstalt GmbH, Stuttgart 1987. S. 59–73.

Fortsetzung des Artikels folgt