Sonderthema
Künstlerisches Umfeld
Ludwig von Ficker
(1880–1967)
Sohn eines Professors für Rechtsgeschichte und einer Lehrerin aus Südtirol, übersiedelte 1896 nach Innsbruck. Studierte auf väterlichen Wunsch Jura, dann Kunstgeschichte und Germanistik. Sein Erbe erlaubte ihm großbürgerlichen Lebensstil und lange Italienaufenthalte, während er sich als freier Schriftsteller zu etablieren versuchte.
1910 begründete Ficker die Halbmonatsschrift «Der Brenner», die als Forum für Kulturkritik und avantgardistische Literatur alsbald im ganzen deutschen Sprachraum Aufmerksamkeit erregte. Beiträger waren u. a. Theodor Däubler, Else Lasker-Schüler, Rainer Maria Rilke.
1912 veranstaltete Ficker die erste Lesung von Karl Kraus in Innsbruck, der die Satiren und Polemiken im «Brenner» formal geprägt hatte. Auf seine Empfehlung erhielt Ficker von Ludwig Wittgenstein 1914 die großzügige Spende von 100 000 Kronen für bedürftige österreichische Künstler, die er u. a. an Rilke, Adolf Loos und Trakl weiterleitete.
Im Mai 1912 hatte «Der Brenner» Trakls Gedicht Vorstadt im Föhn gedruckt und ihm damit zu einem Durchbruch verholfen. Mit dem Psalm im Oktober 1912 beginnend, folgten insgesamt ca. 60 weitere Trakl-Erstdrucke, die den Weg zu den Einzelveröffentlichungen bei Kurt Wolff in Berlin ebneten. Noch bedeutsamer war jedoch das menschliche Refugium, das Trakl bei Ficker, seiner Familie und dem Kreis von «Brenner»-Mitarbeitern fand. Häufig hielt er sich vor Kriegsausbruch in Innsbruck auf. Ficker war der letzte und einzige Mensch, der Trakl vor seinem Tod im Krakauer Garnisonsspital besuchte.
Nach der Teilnahme am Ersten Weltkrieg verlor Ficker die materielle Existenzgrundlage, gliederte den «Brenner» dem Universitätsverlag Wagner an. Mit der Distanzierung von Kraus verzichtete er auf Literatursatire und Zeitkritik zugunsten sprachphilosophischer und theologischer Essays und Lyrik, vertrat eine radikale, christliche Innerlichkeit.
1925 sorgte Ficker für die Überführung von Trakls Gebeinen aus Krakau, die er in Innsbruck-Mühlau bestatten ließ.
1940 zählte die Reichsschrifttumskammer den «Brenner» zum «schädlichen und unerwünschten Schrifttum». Ficker pflegte Kontakte zu Widerstandskreisen, 1946 gab er nach zwölfjähriger Pause die 16. Folge des «Brenner» mit Gedichten von Trakl, Kraus u. a. heraus. Die letzte Folge 1954 war den Erinnerungen an Trakl, Wittgenstein und Rilke gewidmet. 1959 erhielt Ficker den Großen österreichischen Staatspreis und erlebte noch, wie 1964 das «Brenner-Archiv» gegründet wurde (seit 1979 «Forschungsinstitut Brenner-Archiv»). Nach seinem Tod 1967 wurde Ficker neben Trakl beerdigt.
Oskar Kokoschka
(1886–1980)
Maler, Grafiker, Dichter. Studierte und wirkte in Wien, wurde durch die Mitarbeit an der Berliner Zeitschrift «Sturm» zu einem bedeutenden Vertreter des Expressionismus. Obwohl weniger bekannt als seine Malerei, gelten seine Theaterstücke als Wegbereiter des expressionistischen Dramas.
Kokoschka gehörte neben Karl Kraus und dem Architekten Adolf Loos zu den Künstlern, mit denen Trakl bei seinen Wienaufenthalten ab 1913 regelmäßig und freundschaftlich verkehrte.
Nach dem 1. Weltkrieg wirkte Kokoschka bis 1923 als Professor an der Dresdner Akademie, unternahm ausgedehnte Reisen und schuf einen großen Zyklus von Städtebildern, emigrierte über Prag nach London. 1953 gründete er in Salzburg die «Schule des Sehens» als internationale Sommerakademie und ließ sich in Villeneuve nieder. Seine Autobiografie Mein Leben erschien 1971.
Karl Kraus
(1874–1936)
Gefürchteter Publizist, ein maßgebender Schriftsteller und öffentliches Gewissen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Seine jüdische Familie übersiedelte nach Wien, neben abgebrochenem Studium Tätigkeit als Journalist, Satiriker und Vorträger. 1899 begründete er seine Zeitschrift «Die Fackel», die stets streitbar und engagiert zu einer Institution wurde, ab 1911 nur noch mit eigenen Beiträgen bis ins Todesjahr erschien. Neben brillanten Aphorismen, Lyrik und Essays schrieb Kraus auch Dramen, wobei sein epochales Hauptwerk Die letzten Tage der Menschheit (1919) als Textmontage und schonungslose Abrechnung mit den Verbrechen des 1. Weltkriegs herausragt.
Erstmals in Reichweite von Karl Kraus ist Trakl, der seit längerem begeisterter Kraus-Leser war, 1911 gelangt. 1912, als Trakl Gedichte in der Innsbrucker Zeitschrift «Der Brenner» zu veröffentlichen begann, intensivierte sich auch die Verbindung von dessen Herausgeber Ludwig von Ficker mit Kraus. Psalm, Trakls Gedicht im «Brenner», ist bereits «Karl Kraus zugeeignet», der sich dafür in der «Fackel» bedankt hat. 1913 entwickelte sich in Wien ein freundschaftlicher Umgang, in den auch der Avantgarde-Architekt Adolf Loos, lebenslang ein enger Freund von Kraus, sowie Oskar Kokoschka einbezogen waren. Ohne Letzteren, aber mit Ficker unternahm man im August dieses Jahres eine gemeinsame Reise nach Venedig. Weiterhin engagierte sich Kraus in der «Fackel» für die Subskription von Gedichtbänden Trakls.
Adolf Loos
(1870–1933)
Österreichischer Architekt und Kritiker, der zu den Wegbereitern des Internationalen Stiles in Europa gehörte. Studium in Dresden, 1893–1896 Aufenthalt in den USA, dann in Wien. In seinen Schriften stellte er sich gegen den Jugendstil und die Wiener Werkstätte. 1924–1928 lebte er in der Pariser Avantgarde-Szene. Von seinem radikalen Ansatz für eine sachliche, funktionale Architektur wurden weite Kreise der europäischen Avantgardearchitektur nachhaltig beeinflusst.
Trakl erschien in Loos’ Horizont ab etwa 1910 in Wien, wo er dem «Akademischen Verband für Literatur und Musik» nahe stand. Die freundschaftliche Verbindung mit Trakl wurde ab 1913 hergestellt. Das Gedicht Sebastian im Traum ist ihm gewidmet.
Margarethe Trakl
(1891–1917)
Das jüngste von 6 Kindern in der Familie Trakl. Von klein auf fiel die ungewöhnliche Ähnlichkeit in Wesen und Äußerem mit ihrem viereinhalb Jahre älteren Bruder Georg auf. Die Rätsel um die geistige und erotische Verfallenheit, die sich zwischen beiden entwickelte, werden unlösbar bleiben, denn ihre Briefe aneinander sind nicht erhalten, wahrscheinlich von der um den Ruf besorgten Familie vernichtet.
Als ungewöhnlich vital, leidenschaftlich, sinnlich und unbezähmbar wird Gretl geschildert, gepaart mit großen musischen Talenten, besonders in der Musik. Wie auch ihre älteren Schwestern lebte sie öfter außer Haus, wurde ab ihrem 11. Lebensjahr dauerhaft auf Internate geschickt.
Ab Herbst 1908 studierte sie Klavier und Theorie an der Wiener Musikakademie; parallel begann Georg ein Pharmaziestudium an der Universität Wien. Sie wohnten getrennt, Gretl scheint der aktivere, exzessivere und unmäßigere Part gewesen zu sein, auch was den Drogenkonsum anging, zu dem Georg sie hingeführt hatte.
Im Spätsommer 1910, nach dem Tod des Vaters, übersiedelte sie nach Berlin und setzte ihre pianistische Ausbildung fort. Die Vormundschaft für die noch Minderjährige übernahm der älteste Bruder aus der ersten Ehe des Vaters, Wilhelm, legte sie jedoch nach langen Konflikten nieder. Nachdem Georg sie übernommen hatte, konnte Gretl die Heirat mit dem Berliner Buchhändler und Theaterangestellten Arthur Langen verwirklichen, der 34 Jahre älter war als sie. Fortan hatte sie Kontakte zum Organ des literarischen Expressionismus «Der Sturm», dessen Mitarbeiter wiederum im Austausch mit Ludwig von Ficker und Georgs Verleger Kurt Wolff standen.
Im März 1914 besuchte Georg Gretl in Berlin, als sie nach einer Fehlgeburt schwer erkrankt war. Am 27. Oktober dieses Jahres, kurz vor seinem Tod, vermachte Georg ihr in einem Brief an Ficker seine gesamte Habe.
Obwohl Ficker sie auch nach Trakls Tod unterstützte, begann für Gretl ein unaufhaltsamer Niedergang. Sie konnte nicht als Pianistin reüssieren, ihr Ehemann trennte sich von ihr, immer mehr verfiel sie den Drogen. In der Nacht vom 22. zum 23. September 1917, während einer Gesellschaft erschoss sie sich in Berlin.
Ludwig
Wittgenstein
(1889–1951)
Philosoph mit Weltgeltung. Jüngster Sohn einer reichen und kultivierten österreichischen Industriellenfamilie. Studierte zunächst Ingenieurswissenschaften in Berlin und Manchester, bevor er sich der Mathematik, Logik und Philosophie zuwandte. Nahm am Ersten Weltkrieg als Freiwilliger teil, geriet 1918 in italienische Gefangenschaft.
Im Folgenden verschenkte er sein Vermögen, arbeitete als Dorfschullehrer und Architekt, bevor er als Dozent in Cambridge, der nur über sein eigenes Werk und völlig unkonventionell lehrte, legendären Ruf gewann. 1921 publizierte er Tractatus logico-philosophicus, seine sonstigen Schriften, die sich vor allem mit Sprachphilosophie beschäftigen, wurden erst posthum aus dem Nachlass veröffentlicht.
Auf Trakl hat Wittgenstein Ludwig von Ficker aufmerksam gemacht, dem Wittgenstein im Sommer 1914 eine Spende von 100 000 Kronen für bedürftige österreichische Künstler zu Verfügung stellte. Er entsprach Fickers Bitte, 20 000 davon Trakl zukommen zu lassen. Als Trakl in Fickers Begleitung einen ersten Teilbetrag von einer Innsbrucker Bank abheben wollte, lief er infolge einer Angstattacke schweißgebadet davon. Bald darauf als Reservist zum Krieg nach Galizien eingezogen, hat er von dem Geld nie etwas erhalten und es in einem Brief an Ficker, sechs Tage vor seinem Tod, seiner Schwester Gretl vermacht. An Wittgenstein selbst richtete Trakl zu dieser Zeit noch eine Karte mit der Bitte um einen Besuch. Als Wittgenstein die Nachricht erhielt, war Trakl drei Tage zuvor gestorben und schon begraben.
Kurt Wolff
(1887–1963)
Nach Germanistikstudium trat er 1908 in den Leipziger Verlag Ernst Rowohlts ein, den er 1913 übernahm und unter seinem eigenen Namen fortführte. Er beschäftigte Schriftsteller wie Walter Hasenclever, Kurt Pinthus und Franz Werfel als Lektoren, baute das führende Forum für moderne deutsche Literatur auf.
Trakls erster Band Gedichte erschien in der 1913 eröffneten Reihe Der jüngste Tag, in der die zentralen Bücher des literarischen Expressionismus (Kafka, Werfel, Heinrich Mann, Meyrink) herauskamen. Das Zustandekommen dieser Publikation ist in Trakls Briefen nachlesbar.
Posthum 1915 (mit Copyrightvermerk 1914) folgte der zweite Lyrikband Sebastian im Traum, 1919 die Ausgabe der gültigen Werke mit dem Titel Die Dichtungen.
Nach wirtschaftlichen Schwierigkeiten wurde der Verlag 1930 liquidiert. Wegen der nationalsozialistischen Machtübernahme emigirierte Wolff in die USA, wo er eine Vermittlerrolle zwischen den Kulturen spielen konnte.