Главная страница «Первого сентября»Главная страница журнала «Немецкий язык»Содержание №4/2007

Das liest man in Deutschland

Das doppelte Lottchen von Orléans

Die heilige Johanna als ein wandlungsreiches Geschichtsprojekt von Felicitas Hoppe

Schafe weiden, Kühe melken und Milch zu Butter schlagen in Domrémy. Aber was tun, wenn man eine Berufung1 zur Heldin verspürt? 1428: Tausche Kleid gegen Rüstung, Haare gegen Helm. Eine Jungfrau zu Ross mit Lanze in der Hand. Sie kehrt den Eltern den Rücken zu, da ist sie gerade sechzehn. Die Heiligen sprechen, die Heimat ruft, Frankreich brennt schon seit fünfzig Jahren. Sie reitet zum Karl, dann schnell an die Front. Orléans ist die Briten los, und Karl darf sich in Reims Karl VII. nennen.

Alles wie im Märchen. Bis auf den Schluss. Da brennt es wieder; 30. Mai 1431. Ein Scheiterhaufen2 in Rouen mit der Jungfrau darauf. Weil sie nicht bis nach Paris vorstößt, weil der König zu feige ist, weil sie den Bischof erzürnt oder weil sie doch nur eine Frau in einer frauenfeindlichen Zeit ist. «Fünfzigtausend Männer mir nach, schrie Johanna. Heilige Einfalt!3 Als hätte sie immer noch nicht begriffen, dass von Männern nicht mehr die Rede sein konnte, von fünfzigtausend Männern schon gar nicht. Johanna war längst allein unterwegs.» Johanna von Orléans stirbt, da ist sie gerade neunzehn. Und Frankreich muss, wieder einmal, ein halbes Jahrhundert lodern.


Johanna brennt, Johanna kämpft, Johanna erteilt Befehle. Was geschieht währenddessen in der Gegenwart, um etwas Licht auf diese verstaubte Gestalt zu werfen? Eine Frau schläft, eine Frau feiert Walpurgisnacht, eine Frau paukt Johannas Schuldartikel für ihre Doktorprüfung und verschmilzt langsam mit ihrem Vorbild. In Johannas Spuren tretend, unternimmt sie imaginäre Reisen in die Vergangenheit oder beschwört diese als Halluzinationen in die Gegenwart herauf. Nebenbei verliebt sie sich. Aber nur nebenbei, denn was wirklich zählt, ist nur Johanna.

Wie einen Roman im Roman fädelt Felicitas Hoppe in ihrem jüngsten Buch Johanna die Geschichte der Jungfrau von Orléans in eine Handlung ein, die nichts Anderes ist, als eine komplexe, wie ein surrealer Essay angelegte Untersuchung dieser Figur aus der Sicht einer angehenden Geschichtsdozentin. Diese ist fasziniert von Johannas Schicksal und den, für die Geschichtsforschung scheinbar unbedeutenden Fakten aus ihrem Leben. Wie gelingt Loiseleur, dem reumütigen Verräter, die Flucht aus Johannas Schandkarren? Was passiert mit Johannas Herz nach der Verbrennung? Wem steht sie wirklich im Wege, dass sie beseitigt werden muss?

Wie Johanna, die ihr Leben für die große Sache opfert, wehrt die Erzählerin ihre Gefühle für den befreundeten Fachkollegen Peitsche zunächst ab, um zuerst ihrer historischen Obsession nachzugehen. Verbissen kämpft sie sich mit ihrer weiblichen Intuition gegen die männliche Logik ihrer Gegner voran – womit sie allerdings genauso wenig Aussicht auf Erfolg hat wie ehemals Johanna. Als der Professor, ein verblendeter Pragmatiker, die Doktorantin für ihre Fantastereien bei der Prüfung durchfallen lässt, stößt ihr Verdacht auf Komplizenschaft des Professors mit dem Bischof Cauchon – dem Verantwortlichen für Johannas Verurteilung – beim Leser schon allein aus Sympathie mit der Protagonistin nicht nur auf Verwunderung. Ob auf der Party, im Zug oder im Hörsaal – überall erscheinen Johannas Kampfgefährten (La Hire, Dunois, Gilles de Rais) als zweckdienliche Umwandlungen realer Personen aus der Gegenwart, die die Erzählerin, die selbst in die Rolle der Jungfrau schlüpft, in ihrem Vorhaben gefährden. Im ganzen Buch wimmelt es von Johannas Verrätern, Richtern, Henkern. Könige und Ritter, Papiermützen und Hauben, Mäntel und Rüstungen. Wie in einem Kostümstreifen laufen alle in Verkleidungen herum, weil das Ganze auch ein Rätselspiel aus Fakten und Hypothesen, Mutmaßungen und Feststellungen ist – doch letztendlich ohne eindeutige Auflösung.

Nicht zum ersten Mal wagt sich die mehrfach ausgezeichnete deutsche Schriftstellerin Felicitas Hoppe, Jahrgang 1960, an historische Figuren heran. Für ihre Romane Pigafetta (2001) und Paradiese, Übersee (2003) erntet sie trotz exzellenter Formulierungen den Vorwurf, den Inhalt zu abstrakt, zu undurchsichtig darzustellen. Doch mit den fünf Porträts Verbrecher und Versager (2004) verstummt schon diese Kritik und ebenfalls in Johanna kann es nicht bemängelt werden.

Zwar sind die Traumsequenzen, Dialoge und Gedankensprünge auch hier trotz rhythmischer und klarer Märchensprache anfangs schwer zu ordnen. Aber was auf den ersten Blick nur wie ein lustiges Wortspiel aussieht, bildet eine spannende Geschichte, in der es nicht darauf ankommt, «dass man Geschichten erzählt, sondern wie man Geschichte macht, wenn man erzählt». Erstaunlich, wie historisch erfrischend Hoppe immer wieder tot geglaubte Heldenmythen zum Leben erweckt. Das neue Licht allerdings, das ihre blumige Metaphorik und die Figurenmetamorphosen auf die Person der Jungfrau von Orléans werfen, wird in hundert neue Schattierungen gebrochen. Hier ist das Denken erlaubt, aber nicht um Antworten zusammenzufassen, sondern um Fragen weiter zu spinnen.

Was wirklich zählt, ist Johanna – aber nur bis zum Schluss des Buches. Denn da wirft die Erzählerin ihre Rolle als Vermittlerin und Deuterin der Jungfraulegende ab, wohl anerkennend, dass ihre meisten Fragen unbeantwortet bleiben müssen. Der Professor verschwindet aus der Spielfläche und die Protagonistin steigt aus der Geschichte in das wirkliche Leben um. Mit einem Sprung in die Seine, wohin einst der Gerichtsdiener Massieu die sterblichen Überreste Johannas gestreut hat, entkommt sie dem Scheiterhaufen und schwimmt ihrem Angebeteten endlich in die Arme.

Trotz aller offenen Fragen und aufkommenden Zweifel steht eines fest – Hoppes Geschichtsbegeisterung reißt den Leser mit und falls jemand Angst haben sollte, trotz der brillanten Sprache, mit dem Verkleidungsspiel der Gedanken überfordert zu werden, dem kann vielleicht Ossip Mandelstams Satz helfen: «Wenn die Angst bei mir ist, habe ich keine Angst.» Felicitas Hoppe hat er jedenfalls geholfen, ein sehr originelles Buch zu verfassen.

Von Agnes Koblenzer

Felicitas Hoppe: Johanna. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2006.


1Be|ru|fung, die; -, -en: besondere Befähigung, die jmd. als Auftrag in sich fühlt: die B. zum Künstler.

2Schei|ter|hau|fen, der; -s, -: (im MA.) Holzstoß für die öffentliche Verbrennung der zum Tode Verurteilten, bes. der vermeintlichen Hexen: jmdn. auf den S. bringen.

3Ein|falt, die; -: *[du] heilige E.! (Ausdruck der Betroffenheit über jmds. Naivität, Arglosigkeit, Unbekümmertheit; Übersetzung von lat. sancta simplicitas).

Der Text ist entnommen aus:
http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=10030&ausgabe=200610