Главная страница «Первого сентября»Главная страница журнала «Немецкий язык»Содержание №4/2007

Literatur

Rolf Hochhuth: Bismarck, der Klassiker

(Fortsetzung aus Nr. 01, 03/2007)

Zuweilen griff Bismarck persönlich ein, um einen «Umstrittenen» – wie die Spießer heute sagen, die unsere Regenten sind und nichts für den Geist tun, was nicht fernsehgemäß ist –, um beispielsweise den Erzketzer Harnack, verabscheut von beiden Kirchen, weil er forderte, «das Dogma durch die Geschichte zu läutern», auf einen Berliner Lehrstuhl zu berufen ... Und Golo Mann erzählt, sein Urgroßvater Dohm, der ‹Kladderadatsch› von 1848 bis 1883 zur führenden satirischen Zeitung gemacht hatte, habe als Gefängnis-Insasse, weil sein Blatt eine Verwandte des Kaisers beleidigt hatte, vom amtierenden Ministerpräsidenten Bismarck nach wenigen Tagen Haft einen Brief erhalten, er sei amnestiert. Bismarck schrieb: «Ew. Wohlgeboren benachrichtige ich privatim ... Darf ich eine persönliche Bitte an diese Mitteilung knüpfen, so ist es die, die arme Caroline nun ruhen zu lassen. Mit vorzüglicher Hochachtung Ew. Wohlgeboren ergebenster v. B.» Auch die Adresse hatte der Ministerpräsident des Deutschen Reiches und von Preußen selber an den Häftling Dohm geschrieben: «Sr. Wohlgeboren dem Redakteur Herrn Dohm, Hausvogtei.» Golo Mann folgert: «Zeiten, in denen Europas berühmtester Staatsmann ... solche Briefe an einen kleinen Redakteur im Gefängnis schrieb, müssen, was sonst immer an ihnen zu tadeln sein mag, doch auch eine ihnen eigene Kultur besessen haben.» Weiß Gott, eine sagenhafte! Daß Dohm Jude war, sei erwähnt, weil es Leute gibt, die Bismarck einen Antisemiten nennen ...

Auch ist es Chronistenpflicht, daran zu erinnern – in einer Zeit, in der jeder Bürolump sich von seiner Sekretärin das Telefon bedienen und die Flugkarte besorgen läßt –, daß der Ministerpräsident sich am Fahrkartenschalter anstellte, ohne Leibbulle, trotz Anarchisten, die alsbald auf ihn und zweimal auf den alten Kaiser schossen und Elisabeth von Österreich totstachen: «Ich war im Begriff … nach Koburg zu fahren», erzählt der Ingenieur V. v. Unruh im Oktober 1862: «Als ich an den Schalter des Billetverkaufs trat, stand ganz unerwartet Bismarck neben mir. Ich begrüßte ihn und ließ ihm natürlich den Vortritt. Auf dem Perron, wo ich mir ein leeres Coupe aussuchte, kam Bismarck an mich heran und fragte, ob ich allein fahren wolle oder ob es mir recht sei, wenn er sich zu mir setze. Ich bat ihn darum und bemerkte, ich wolle dem Zugführer sagen, er möge sonst niemand in das Coupe setzen. Damit war Bismarck einverstanden. Sehr bald kam er auf den Streit über die Militärvorlage zu sprechen ... Ich war damals noch nicht wieder in das Abgeordnetenhaus eingetreten und glaubte, mich Bismarck gegenüber sehr zurückhalten zu müssen ...» Eine das 19. Jahrhundert so charakterisierende Geschichte, daß sich das «demokratische» zwanzigste nur genieren kann ...

Daß Ulbricht nach der Schleifung des Berliner Schlüter-Schlosses auch Schönhausen noch schleifte, nur weil es Geburtshaus des einzigen Staatsmannes war, der die Pflege guter Beziehungen zu Rußland als Dauerbeschäftigung betrieb; und daß wir Westdeutschen ungefähr gleichzeitig die zwei Angebote ausschlugen, erstens mit dem Beherrscher Rußlands, März 1952, sogar als der bis zur Elbe marschiert war, über eine Wiedervereinigung auch nur zu reden; zweitens die drei Paperbacks zu lesen, die Bismarcks Gespräche, erstmals gesammelt 1926, uns noch einmal zugänglich machen sollten – dieser Neudruck mußte aus Mangel an Interessenten verramscht werden –, sind deprimierende Belege für unsere verquere Nichteinstellung zu Bismarck. Der hat selten daran geglaubt, daß wir Deutschen das «Nürnberger Spielzeug», das er uns geschenkt hatte, die Einheit, erhalten könnten. Bismarck brachte es fertig, vor aller Welt im Reichstag – Ungeheuerlichkeit eines Ministerpräsidenten, doch ehrlich – davon zu sprechen, jedem Deutschen sei sein Landsmann «im Innersten zuwider»! Und hatte ja selber «natürlich» auch keine Bedenken gehabt, in Versailles sein Deutschland separat zu errichten auf Kosten der Einheit mit Österreich. Immerhin hat der Geschichts-Denker in ihm, der ebenso wie Burckhardt es verächtlich gefunden hätte, einen Gedanken zu hegen, der sich nicht «an ein sichtbares Äußeres angeschlossen hätte», ein Gesetz der deutschen Geschichte entdeckt und zuerst am 13. Juni 1890, und hoffentlich auch zu unserem Trost heute, Ende des 20. Jahrhunderts, formuliert:
«... die Uhr des deutschen Dualismus mußte bisher in jedem Jahrhundert einmal durch einen Krieg richtiggestellt werden. Dieser Dualismus ist älter als der zwischen Österreich und Preußen; er prägte sich zuerst im Gegensatz zwischen Franken und Sachsen, dann zwischen Hohenstaufen und Welfen aus. Hierauf brach er wieder in der Reformation auf; Moritz von Sachsen erhob sich wider Karl V. doch vornehmlich zu dem Zwecke, um die Herrschaft von Kaiser und Reich abzutun: das nannte man damals die ‹deutsche Freiheit›. Oder glauben Sie, daß er, als er von der ‹viehischen Servitut› sprach, in welcher Deutschland damals angeblich schmachtete, an die traurige Lage der geknechteten Bauern Deutschlands dachte? Gewiß nicht – er meinte damit nur den Gehorsam, den sich der Kaiser bei den Fürsten erzwungen hatte. Ähnlich treten sich seit den schlesischen Kriegen Österreich und Preußen gegenüber, und jetzt äußert sich dieser Gegensatz in dem Widerspruche des Individuums gegen den Staat. Merkwürdig ist, daß der Kampf stets in der Mitte des Jahrhunderts stattfand, während die Versöhnung der Gegensätze sich um die Wende des Jahrhunderts vollzog. Ich bin nicht so abergläubisch, um in diesem Zeitmaße eine Vorausbestimmung zu sehen; es lag offenbar in der Natur der widereinander streitenden Kräfte, daß sich in jedem Jahrhundert ungefähr zur gleichen Zeit ein Ruhepunkt ergab. Jede Nation erfüllt ihr Geschick nach der ihr innewohnenden Fähigkeit, nach der Mitgift, die sie von der Natur erhalten hat. So waren wir Deutschen stets höchst unverträglich untereinander und viel zu nachgiebig gegen Fremde.»

Nimmt man den Kalten Krieg für Krieg: so war mit Luftbrücke und Mauerbau in Berlin auch, um die Mitte des 20. Jahrhunderts der Höhepunkt der Feindschaft zwischen den deutschen Staaten – während im Herbst 1987 der DDR-Chef Honecker seinen Staatsbesuch in Bonn machte: Also ein Gesetz, das auch heute zutrifft, findet sich in den Gesprächen mit Bismarck; dieses hier zeichnete der Historiker Friedjung in Friedrichsruh auf. Bismarck sagte ihm noch – ein Alters-Selbstbildnis, das wir wiedergeben wollen: «Jetzt habe ich wieder Zeit zu poetischer Lektüre. So habe ich den Schiller vorgenommen und lese seine Dramen jetzt noch einmal in der Reihenfolge ihrer Entstehung. Als ich jüngst beim Schlafengehen die ‹Räuber› vornahm, kam ich an die ergreifende Stelle, wo Franz den alten Moor ins Grab zurückschleudert mit den Worten: ‹Was? Willst du denn ewig leben?› Und da stand mir mein eigenes Schicksal vor Augen.›»

Der Eindruck dieser Worte war unbeschreiblich. Sie wurden mit einer leisen Bewegung der Stimme, aber ohne eine Veränderung in dem tiefgefurchten Antlitz gesprochen. Ich war tief erschüttert, um so mehr, als der Fürst eine längere Pause machte und unterdessen mit seinem Stock gedankenvoll Figuren in das feuchte Erdreich zeichnete. Ich wagte die Stille nicht zu unterbrechen. Endlich erwachte der Fürst aus seinem Sinnen und zerstörte hastig die von ihm gezogenen Linien, wie einer, der düstere Gedanken aus seinem Kopfe bannen will.»

Ulbricht wie Adenauer, stellvertretend für uns alle, die feindlichen Brüder, die unsere Einheit vernichtet haben, warfen zweifellos nie einen Blick in die gesammelten Gespräche Bismarcks, obgleich diese drei Bände die einzigen deutschsprachigen Bücher sind, deren menschlicher und politischer Rang (die seltenste Verbindung, die es gibt) sie auf die Höhe der Königsdramen Shakespeares hebt. Nietzsche konnte diese Gespräche noch nicht lesen – deshalb vermochte er jene Goethes mit Eckermann als das «beste deutsche Buch, das es gibt» zu bezeichnen. Doch wenn Bismarck, bemerkenswerterweise am selben Tag oder Vortag geboren wie der eine andere deutsche Reichsgründer, wie Karl der Große, am
1. April, der Franke vielleicht am 2. April –, wenn Bismarck als Mensch und Künstler in seinen Gesprächen dem Autor des Faust an Blickschärfe, Formulierungskraft, an Witterung für die Gefährdung der menschlichen Existenz und europäischen Zivilisation nichts nachgab, so hat er ihm voraus die Erfahrungssumme eines kontinentbewegenden Täters von Leninschen Maßen und Folgen.

Ist dieser Mann uns Deutschen, denen ein Wesen, wie er es ist, «im Grunde ein ständiger Vorwurf ist», auch kaum mehr erträglich – ein Brite kann ganz unbefangen, wie 1954 der Historiker Gooch, resümieren: «Das 20. Jahrhundert ist kaum berechtigt, über das 19. zu Gericht zu sitzen, ehe nicht alle Großmächte zur Verwirklichung eines Systems bereit sind, das der menschlichen Wohlfahrt besser dient als dasjenige, welches der ‹Eiserne› Kanzler schuf und verkündete, dessen Autobiographie als Handbuch der Staatskunst unübertroffen ist ... die eigentlich maßgebliche Äußerung über die Kunst des Regierens, die seit Machiavellis ‹Il principe› erschienen ist.»

Ulbricht hat den mildernden Umstand vor der Geschichte, selber nur unterdrücktes Werkzeug des Kremls gewesen zu sein – doch immerhin: es war der Kreml, nicht das Weiße Haus, von dem wenigstens die Aufforderung zur Wiedervereinigung an Deutsche erging: Ob ehrlich oder nicht – darüber dürfen jene nicht zu Gericht sitzen, die Bundesdeutschen, die nicht einmal versucht haben, zu überprüfen durch Verhandlung, ob das Kreml-Angebot seriös war. Aber wie entsetzlich und schuldhaft Adenauer diese Chance ungeprüft fahren ließ – er war doch vielleicht ein wenig souveräner gegenüber dem Weißen Haus als Ulbricht gegenüber dem Kreml, und ist daher schuldiger vor der Geschichte wegen seiner aktiven Weigerung, mit den Russen auch nur zu reden; und wie sehr es eine Frechheit ist, die nicht einmal Unkenntnis entschuldigt, Bismarck mit ihm zu vergleichen, das hat ein für allemal Gräfin Dönhoff am 21. März 1986 in der ‹Zeit› aufgedeckt, als das britische Foreign Office die Akten der fünfziger Jahre freigegeben hatte:

«Am 15. Dezember 1955 veranlaßte er den deutschen Botschafter in London, Hans von Herwarth, im britischen Außenministerium vorzusprechen, um Staatssekretär Sir Ivon Kirkpatrick eine vertrauliche Mitteilung zu machen: Selbst wenn im Zusammenhang mit dem Abschluß eines europäischen Sicherheitsvertrages, wie die Sowjets ihn wünschen, eine Wiedervereinigung Deutschlands aufgrund freier Wahlen möglich und völlige Handlungsfreiheit einer gesamtdeutschen Regierung gesichert sei, sei er – Adenauer – dagegen ... Adenauer habe betont, daß es ‹katastrophale› Folgen für seine politische Position haben würde, wenn seine Ansichten, die er mit solcher Offenheit mitgeteilt habe, jemals in Deutschland bekannt würden.»

Wir Deutschen wendeten uns von Bismarck ab, wie jener Hans im Glück nicht mehr erinnert werden wollte an seinen Goldklumpen, als er den endlich gegen einen Schleifstein eingetauscht hatte, den er dann – auch noch hinwarf und zerbrach.


läu|tern <sw. V.; hat> (geh.): 1. reinigen, klären, von Verunreinigungen befreien: Erz l.; die Flüssigkeit ist trübe und muss geläutert werden. 2. von charakterlichen Schwächen, Fehlern befreien: die Krankheit hat ihn, sein Wesen geläutert; seit dem Unglück ist er geläutert; <auch l. + sich> er hat sich geläutert.

Ew. [Abk. von frühnhd. ewer, mhd. iuwer]: = Euer, Eure (in Titeln, z. B. Ew. Majestät).

Sr. = Seiner.

als|bald <Adv.> [gek. aus alsobald] (veraltend): sogleich; kurz danach.

im Begriff[e] sein/stehen (gerade anfangen wollen, etw. zu tun): sie sind im B. zu gehen; ich stand im B., das Haus zu verlassen.

Vor|tritt, der; -[e]s [mhd. vortrit = das Vortreten]: 1. (aus Höflichkeit gewährte) Gelegenheit voranzugehen: jmdm. den V. lassen; Ü in dieser Angelegenheit lasse ich ihm den V. (die Gelegenheit, zuerst zu handeln). 2. (schweiz.) Vorfahrt: das Tram hat V.; er hat ihr den V. genommen; Kein V.! (Vorfahrt gewähren!).

Pa|per|back [...bæk], das; -s, -s [engl. paperback, eigtl. = Papierrücken]: kartoniertes [Taschen]buch.

ver|ram|schen <sw. V.; hat> (ugs.): sehr billig, unter seinem Wert verkaufen: Bücher v.

Be|den|ken, das; -s, - [aus der Kanzleispr. des 15.Jh.]: 1. <o. Pl.> Nachdenken, Überlegung: nach kurzem, gründlichem B. 2. <meist Pl.> aufgrund von vorhandenen Zweifeln, Befürchtungen od. Vorbehalten angestellte Überlegung, die ratsam erscheinen lässt, mit der Zustimmung noch zu zögern od. den Plan o. Ä. neu zu durchdenken; Zweifel, Einwand, Skrupel: B. hegen, etw. zu tun; B. gegen einen Plan äußern, haben; B. tragen (nachdrücklich geh.; Zweifel, Vorbehalte haben).

in|ne|woh|nen <sw. V.; hat> (geh.): als Eigentümlichkeit, Besonderheit, als etw. Charakteristisches in etw. mit enthalten sein, zu jmdm., etw. gehören: diesen Kräutern wohnen heilende Kräfte inne; die dem Menschen innewohnenden Fähigkeiten.

Mit|gift, die; -, -en [spätmhd. mitegift, zu mit u. mhd., ahd. gift, Gift] (veraltend): Vermögen, Aussteuer in Form von Geld u. Gut, das einem Mädchen bei der Heirat von den Eltern mitgegeben wird.

has|tig <Adj.> [aus dem Niederd. < mniederd. hastich < mniederl. haestich]: aus Aufgeregtheit u. innerer Unruhe heraus schnell [u. mit entsprechenden Bewegungen] ausgeführt: -e Schritte, Atemzüge; seine Bewegungen wurden immer -er; h. sprechen; h. essen, trinken; h. rauchen.

ver|mö|gen <unr. V.; hat> [mhd. vermügen, zu mögen] (geh.): 1. <mit Inf. mit »zu«> die nötige Kraft aufbringen, die Fähigkeit haben, imstande sein, etw. zu tun: er vermag [es] nicht, mich zu überzeugen; nur wenige vermochten sich zu retten; wir werden alles tun, was wir [zu tun] vermögen. 2. zustande bringen, ausrichten, erreichen: sie vermag bei ihm alles, wenig, nichts; Vertrauen vermag viel.

be|rech|tigt <Adj.>: zu Recht bestehend, begründet: -e Vorwürfe; ein -es Interesse.

Wei|ge|rung, die; -, -en [mhd. weigerunge]: das [Sich]weigern: wegen seiner hartnäckigen W., die Namen der Komplizen preiszugeben.

Un|kennt|nis, die; -: das Nichtwissen; mangelnde Kenntnis [von etw.]: seine U. auf einem Gebiet zu verbergen suchen; etw. aus U. falsch machen; in U. (im Unklaren) [über etw.] sein.

vor|spre|chen <st. V.; hat>: 1. (ein Wort, einen Satz o. Ä.) zuerst sprechen, sodass es jmd. wiederholen kann: [jmdm.] ein schwieriges Wort immer wieder, eine Eidesformel v. 2. vor jmdm. einen Text sprechen, um seine Fähigkeiten prüfen zu lassen: die Rede des Antonius v.; er hat am/beim Staatstheater vorgesprochen und sofort ein Engagement bekommen. 3. (bei jmdm., irgendwo) einen Besuch machen [um eine Bitte, ein Anliegen vorzubringen, um eine Auskunft einzuholen o. Ä.]: [wegen etw., in einer Angelegenheit] beim/auf dem Wohnungsamt v.

Aus: Rolf Hochhuth: Täter und Denker. Profile und Probleme von Cäsar bis Jünger. Deutsche Verlags-Anstalt GmbH, Stuttgart 1987. S. 59–73.