Das liest man in Deutschland
Durchwachsen
Über Bernhard Schlinks Sammelband «Vergewisserungen»
Der Sammelband Vergewisserungen des Juristen und Erfolgsautors Bernhard Schlink, 2005 wie stets bei seinem Heimatverlag Diogenes/Zürich erschienen, versammelt 24 sehr unterschiedliche Texte aus dem Zeitraum 1983 bis August 2005, wobei der Schwerpunkt auf den letzten zehn Jahren liegt. Die meisten Arbeiten verdanken ihre Entstehung der öffentlichen Rede, als «akademische und essayistische Vorträge, Tagungsbeiträge, Dankesreden, Laudationes und Predigten», wie Bernhard Schlink im Vorwort erläutert. «Die Gestaltungen sind so verschieden wie die Kontexte meines Lebens», fügt er an. All dies ordnet sich, wie im Buchuntertitel vermerkt, in vier thematische Blöcke: Politik, Recht, Schreiben und Glauben.
«Was die Kunst unserer Tage an Freiheit gewonnen hat, hat die Gesellschaft an Auseinandersetzung mit Kunst und durch Kunst verloren», bilanziert Schlink in seinem lesenswerten und zeitlosen Beitrag Das Dilemma der Kunstfreiheit. Schlink schaut auf einen Prozess gegen George Grosz1 zurück, in dem dieser (nicht zum ersten Mal) 1928 der Gotteslästerung2 angeklagt war. Grosz’ Lithographie Christus am Kreuz mit Gasmaske, eines seiner vielen Blätter, die sich mit dem Ersten Weltkrieg befassen, stand zur Debatte. Unter dem gekreuzigten Christus, der neben Gasmaske auch noch Soldatenstiefel trägt, steht die Losung: «Maul halten und weiter dienen.» Ob sich dieses Wort an Christus selbst richte oder ob dieses Wort ein Wort Christi sei, wollte der Vorsitzende Richter vom beschuldigten Berliner Künstler Grosz wissen. Das Gericht, so Bernard Schlink, hielt diese Frage für die wesentliche. «Das eine Mal sei Christus Opfer, das andere Mal Symbol von Kriegsführung und -hetze.» Der Urheber antwortete, dass diese Worte an Christus gerichtet werden. Das Gericht glaubte dem Künstler nicht, Grosz wurde verurteilt, doch das Verfahren ging bis zu Grosz’ endgültigem Freispruch noch jahrelang durch weitere Instanzen.
Schlink kommt zu seinem Urteil, weder das Gericht der ersten Instanz, noch Grosz’ in seiner eigenen (strategisch klugen) Äußerung hatten recht. Beide Interpretationen, so Schlink, würden sich in der ambivalenten Lithographie widerspiegeln. Es gäbe kein Entweder-Oder. Grosz’ Selbstdeutung hat sich jedoch als Auffassung durchgesetzt. Mit der Folge, dass Christus am Kreuz mit Gasmaske «bis heute als ein relativ harmloses Blatt» gilt.
Nach dieser historischen Rückblende stellt Schlink die Frage: «Wie würde die Justiz heute mit Grosz verfahren?» Den endgültigen Rechtsentscheid über Grosz’ Werk begleitete in der Weimarer Republik eine heftige öffentliche Diskussion. Der heutige, in Deutschland gültige dritte Kunstbegriff des Bundesverfassungsgerichts, der (bitte langsam lesen!) «das kennzeichnende Merkmal einer künstlerischen Äußerung darin sieht, dass es wegen der Mannigfaltigkeit ihres Aussagegehalts möglich ist, der Darstellung im Wege einer fortgesetzten Interpretation immer weiter reichende Bedeutungen zu entnehmen, sodass sich eine praktisch unerschöpfliche, vielstufige Informationsvermittlung ergibt», verficht laut Schlink einen offenen, in seiner Konsequenz problematischen, da beliebig weit reichenden Kunstbegriff. Grosz würde heute, behauptet Schlink, nach seiner Meinung überhaupt nicht mehr gefragt werden.
«Entscheidend wäre, ob unter den Interpretationen der Zeichnung auch eine ist, in der die Zeichnung den Tatbestand der Gotteslästerung nicht erfüllt – gleichgültig, ob sie eben so von Grosz gemeint ist.» Laut Schlink drohe durch den bundesverfassungsgerichtlichen Kunstbegriff eine Trivialisierung und Bagatellisierung der Kunst. Wird Kunstfreiheit zur Narrenfreiheit, müsse man sich fragen. Es fehlt Schlink an der gesellschaftlichen Einbettung und Gewichtung der Kunstdiskussion. Und der einzelne Künstler könne sich mit einem «Ist gar nicht so gemeint» sehr einfach aus der Verantwortung nehmen.
«Um die Bildsatire ist es still geworden», bedauert Schlink. Wenn anything goes und die Grenzen in den «Kosmos» verschoben werden, droht Unernsthaftigkeit, Beliebigkeit. Ein gewisser Kulturpessimismus schwingt hier mit.
Allerdings hat Bernhard Schlink diesen Essay bereits im Jahr 1992 für die «NZZ» geschrieben. Also, unter dem Eindruck der damals bereits dämmernden, sogenannten «Spaßgesellschaft». Und, noch wichtiger, weit vor dem «Karikaturenstreit». Spätestens mit diesem ist es wieder sehr, sehr laut um die Bildsatire geworden. «Aber wo Kunst malen und kämpfen will, erreicht sie kaum noch ihren Gegner und findet kaum noch ein Publikum», so Schlink in seinem Essay. Was er 1992 nicht antizipieren konnte: Man kann Debatten über «Kunstfreiheit» in Zeiten der Globalisierung kaum mehr auf ein einziges Land beschränken, was die Diskussionen um die zwölf Karikaturen aus der dänischen «Jyllands-Posten» eindrücklich belegten. Doch gerade in diesem Streit wurde häufig auf den Prozess um George Grosz’ umstrittenes Christus-Blatt zurückgegriffen. Schlinks Analyse aus dem letzten Jahrtausend hat hier nichts an Qualität verloren und lohnt noch immer die Lektüre. Trifft dies auch auf den gesamten Band zu?
Komplizierte juristische Sachverhalte so darzustellen, dass die Substanz übrig bleibt, dies gelingt anhand des Prozesses um George Grosz in beispielhafter Weise. Generell gehören die fünf Beiträge im Block Rechtliche Eckpunkte zu den stärksten und überzeugendsten der Sammlung. Hier schöpft der Autor aus seinem fundierten Wissen als Jurist. Ähnlich wie in seinem Roman Der Vorleser gelingt es Bernhard Schlink, auf große Fragen unaufgeregt, klug und ohne stilistischen Firlefanz3 nachvollziehbare Antworten zu geben. Auf der anderen Seite ist Bernhard Schlink ein Freund der großen Substantive: «Würde», «Glaube», «Vertrauen», «Freiheit» flackern als Begriffe im gesamten Buch auf. Vieles darüber verliert sich in Phrasen; es fehlt manchmal am Mut und am Biss. Der Privatermittler Gerhard Selb würde den Kopf schütteln. Vor allem hätte er ein Problem damit, im vorliegenden Band den «roten Faden» zu finden. Zu beliebig erscheint diese Zusammenstellung, die vielleicht gar nicht die ganz große Auswahlmöglichkeit hatte. Wobei es überrascht, dass der für den «Spiegel» geschriebene Essay Auf dem Eis. Von der Notwendigkeit und der Gefahr der Beschäftigung mit dem Dritten Reich und dem Holocaust im vorliegenden Band fehlt.
Der Beitrag Die erschöpfte Generation, ein voreiliger Abgesang auf die rot-grüne Regierung und ursprünglich 2002 ebenfalls im «Spiegel» erschienen, ist dagegen nichts als ein Lückenbüßer4.
Der großartige Rock’n’Roller Jerry Lee Lewis, der in diesem Buch leider nicht vorkommt und der wegen seines angeblich blasphemischen Songs «Great balls of fire» als gottesfürchtiger Südstaatler Höllenqualen litt, hatte das Motto: «All killer, no filler.» Leider trifft dies bei Bernhard Schlink nicht zu. Aber vielleicht spricht ein Buch, das sich Vergewisserungen nennt, in letzter Instanz eher mit sich selbst als mit dem Leser.
Von Mario Alexander Weber
Bernhard Schlink: Vergewisserungen. Über Recht, Politik, Schreiben und Glauben. Diogenes Verlag, Zürich 2005.
1Grosz, George, * Berlin 26. 7. 1893, ebd. 6. 7. 1959, dt. Maler und Graphiker. Mitbegründer der Berliner Dada-Gruppe; schuf in den 1920er Jahren sozialkrit. Gesellschaftssatiren, u. a. die Folgen Das Gesicht der herrschenden Klasse, 1921; Ecce homo, 1922; Der Spießerspiegel, 1925; auch Porträts sowie Illustrationen zu Werken von H. Ball, E. Toller, B. Brecht u. a. Lebte ab 1933 in den USA (ab 1938 amerikan. Staatsbürger), malte dort v. a. Akte, Landschaften, Stillleben. 1959 Rückkehr nach Berlin.
2Got|tes|läs|te|rung, die: [öffentliche] Beleidigung, Herabsetzung, Beschimpfung Gottes; Blasphemie.
3Fir|le|fanz, der; -es, -e [spätmhd. firlifanz, Bez. für einen lustigen Springtanz, H.u.] (ugs. abwertend): 1. <o.Pl.> überflüssiges od. wertloses Zeug; Tand, Flitter. 2. <o. Pl.> Unsinn, törichtes Zeug, Gerede, Gebaren: das ist doch alles F. 3. (selten) jmd., der nur Torheiten im Sinn hat, mit dem nicht viel anzufangen ist.
4Lü|cken|bü|ßer, der [zu älter: die Lücke büßen = die Lücke ausbessern]: a) jmd., der für den eigentlich für etw. Bestimmtes Ausersehenen [in letzter Minute] als Ersatz angefordert wird: sich als L. fühlen; b) etw., was in Ermangelung von Besserem od. Geeigneterem für etw. verwendet wird.
Der Text ist entnommen aus:
http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=9748&ausgabe=200608