Главная страница «Первого сентября»Главная страница журнала «Немецкий язык»Содержание №5/2007

Wissenschaft und Technik

Leonardo: Aus Vinci ins 21. Jahrhundert

Das Werk des Universalgenies der Renaissance scheint heute aktueller denn je. Den britischen Chirurgen Francis C. Wells etwa regte eine von Leonardos Darstellungen des Herzens zur Entwicklung eines neuen Operationsverfahrens an.

Welch ein Glück, dass vor einem halben Jahrtausend einer gelebt hat, der so viele unserer heutigen Bedürfnisse virtuos bedienen kann – und seien diese auch noch so widersprüchlich. Allein wie Leonardo da Vinci unsere Wünsche nach Schönheit, nach Anmut, nach Tiefe, nach Gefühl erfüllt: mit wenigen, dafür umso wundervolleren Gemälden, die inzwischen über die halbe Welt verstreut sind. Rund ein Dutzend sind es, die mit großer Wahrscheinlichkeit von da Vinci stammen, an der Entstehung von noch einmal so vielen war er mit einiger Sicherheit beteiligt.

Malen mit Liebe und Hingabe

Voller Sanftmut, Heiterkeit, Entrückung die Bildnisse der himmlischen Madonnen und der weltlichen Damen. Wie von innen leuchtend das Antlitz Mariens auf den verschiedenen Tableaus – und immer strahlt es aus den weichen Schatten der Umgebung. Dabei sind die Züge der allerheiligsten Jungfrau mal fast noch kindlich und von spielerischer, beinahe naiver Frische, wie etwa bei der Madonna mit der Blume zu St. Petersburg; mal sind sie etwas kräftiger, erfahren, wie bei der Londoner Version der Madonna in der Felsgrotte. So also sehen Liebe und Hingabe aus, so werden sie real und gegenwärtig – durch meisterhafte Farbabstufungen und delikate Pinselstriche.

Und so sieht Schönheit aus, die irdische, die menschliche: feingesichtig, durchscheinend, zierlich – wie etwa die Dame mit dem Hermelin zu Krakau, mit schlanker Nase, zart leuchtenden Wangen, feinem Kinn und klarem Blick. Oder wie die Mona Lisa im Pariser Louvre: eine üppige Erscheinung mit merkwürdigem Lächeln und einer durch starke Schatten außergewöhnlich plastisch geformten Augenpartie.

Beides sind Porträts von realen Frauen. Die Dame mit dem Hermelin war die Geliebte des Mailänder Herzogs, die Mona Lisa vermutlich die Gattin eines Florentiner Kaufmanns. Aber Leonardo ging über die Darstellung von deren Individualität noch hinaus. Malte das Allgemeine und das auch noch Jahrhunderte später Gültige. Malte Jugend, malte Reife, malte Gesicht, malte Weiblichkeit – und, wie bei der schillernd maskulinen Mona Lisa, sogar erotische Doppeldeutigkeit, Schönheit jenseits der geschlechtlichen Zuordnungen.

Oder die Darstellung des Letzten Abendmahls, der zwölf Apostel am Tisch Jesu Christi. Wir sehen ihre Verwirrung, wir spüren ihr Entsetzen. Blass sind die Jünger geworden, schemenhaft ihre Gesten, denn der Meister hat das Wandbild im Kloster Santa Maria delle Grazie zu Mailand mit nicht ausreichend erprobter Technik gemalt, und die Jahrhunderte haben die Farben fast aufgefressen – nicht aber die Kraft, die Vitalität und die theologische Tiefgründigkeit der Szene.

«Codex Madrid»

Dann die andere Seite im Werk Leonardos: die Welt der Vernunft, der Wissenschaft und Technik. Mehr als 6000 Blätter und Manuskriptseiten mit Zeichnungen, Skizzen und Notizen sind heute von da Vinci bekannt: anatomische Studien, Beobachtungen der Natur und des Kosmos, Architekturzeichnungen, technologische Entwürfe – oft mit Anmerkungen in Spiegelschrift. Zu Lebzeiten Leonardos blieben sie unveröffentlicht, erst im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts wurden in unterschiedlichen Bibliotheken und Sammlungen jene gebundenen und ungebundenen Konvolute entdeckt, die wir heute unter Namen wie «Codex Leicester» oder «Codex Madrid» kennen.

Dabei erscheint das, was wir auf den brüchig gewordenen, 500 Jahre alten Papieren sehen können, merkwürdig vertraut, bisweilen fast modern. Etwa die kühnen Maschinenkonstruktionen: die Flugapparate, hydraulischen Vorrichtungen, Turbinenräder, ja selbst die Bombenwurfgeräte. In all diesen Projekten erkennen wir den frühesten Propheten unseres technologischen Zeitalters, den Urvater des Fortschrittsgedankens schlechthin, der es lange vor allen anderen gewagt hat, weiter und weiter über die Grenzen des Machbaren hinauszugehen. Und der Blicke riskierte in die bis dahin verbotenen Zonen des irdischen Daseins: ins Innere des Menschen.

Mit unbestechlichen Augen registrierte er dort bereits all das, was die Medizin oft erst viel später exakt zu beschreiben in der Lage war. Die Feinheiten der Muskelstränge an Hals und Schulter, gezeichnet mit Feder und Tinte. Die unzähligen physiognomischen Details – vom Kehlkopf bis zu den zartesten Verästelungen der Gefäße. Die inneren Organe, Magen, Blase, Herz, mit Beschreibungen, wie sie arbeiten.

Schließlich sogar die Körper zur Gänze. Männer, Frauen, aufgeschnittene Torsi mit allen vitalen Systemen. Der im ausgehenden Mittelalter noch heilige menschliche Leib in seiner prosaischen Funktionalität: hier dargestellt ohne Scham und ohne Sentimentalitäten. Leonardo war der erste Mensch, der jemals derartige naturwissenschaftliche Zeichnungen angefertigt hat – Längsschnitte, Querschnitte, Draufsichten.

Damit erprobte er auf all diesen Blättern etwas ganz Neues, nie zuvor Gesehenes: die bildliche Darstellung von Erkenntnissen und Beobachtungen – ohne die wir, besonders in Zeiten von Computergrafiken und bildgebenden Verfahren, Fortschritt in der Forschung längst für unmöglich halten.

Leonardo ist immer noch zeitgemäß

Und noch etwas hat Leonardo gezeigt: «die schiere Kraft des Visuellen in der Naturwissenschaft», wie es der Oxforder Leonardo-Spezialist Martin Kemp nennt. Das mag einer der Gründe dafür sein, vermutet Kemp, weshalb der Forscher aus der Renaissance in unserer visuellen Epoche noch immer so zeitgemäß erscheint – auch wenn er kein im eigentlichen Sinne moderner Wissenschaftler war, weil ihm die notwendige Systematik und die entsprechenden mathematischen Kenntnisse fehlten. Dafür hat er, so Kemp, schon eines der wichtigsten menschlichen Grundbedürfnisse erkannt und auch erfüllt: das nach Anschaulichkeit.

Brücke nach 500 Jahre alten Plänen gebaut

So ist Leonardo ins 21. Jahrhundert gekommen. Durch seine Modernität, seinen Mut, sich, besonders in den Naturwissenschaften, auf ungesichertes Terrain zu begeben, sein nicht nachlassendes Bemühen, der eigenen Epoche immer voraus zu sein. Wie zum Beweis werden deshalb mit halbtausendjähriger Verzögerung nun Leonardos Entwürfe für Erfindungen und sogar für seine Bauprojekte realisiert: immer und immer wieder Fallschirme, Schaufelradschiffe nach einzelnen Skizzen; der erste Humanroboter nach einer ganzen Reihe von verstreuten Hinweisen; ja sogar eine gegenwartstaugliche Brücke nach 500 Jahre alten Plänen – allerdings führt sie nicht, wie einst von Leonardo vorgesehen, über das Goldene Horn in Konstantinopel, dem heutigen Istanbul, sondern über eine Autobahn bei Oslo.

Genius der Traditionalisten und Held des Fortschritts

Unser Leonardo – stets präsentiert mit den avanciertesten Mitteln. Auf dass er dann womöglich sogar noch ein wenig näher heranrücke an uns und unsere Zeit. Denn Leonardo tut uns gut. Weil er, anders als seine Zeitgenossen Michelangelo, Raffael und Sandro Botticelli, eben beides ist: Genius der Traditionalisten – und Held des Fortschritts. Schöpfer von Meisterwerken für das Pantheon der absoluten Kunst – und Gestalter der Maschinenträume des Industriezeitalters. Weil er das Notwendige getan, mit kalter Forscherhand Leichen aufgeschnitten und deren Gestank eingeatmet – und in seinen Gemälden die Wärme und unermessliche Wohltat überirdischer Perspektiven auf das Leben, auf die Schönheit, auf die Ewigkeit gezeigt hat.

In der Renaissance gehörte es in den besseren Kreisen zum guten Ton, ein Universalmensch zu sein, eine umfassend gebildete und interessierte Persönlichkeit, die sich in Einklang mit dem Lauf des Himmels und der Erde wusste. 500 Jahre später finden nun auch die Zeitgenossen der Moderne und der Postmoderne, wo die Gegensätze längst hart und unversöhnlich aufeinander treffen, für einen Augenblick zurück: Es versöhnt sich die Welt der Schönheit und des Gefühls mit der Welt der Vernunft, der Wissenschaft und Technik. So wird Universalität, der Lebensstil der Privilegierten einer längst überlebten Epoche, den Menschen der Gegenwart ein Trost.

Leonardo führte sogar vor, wie die Erkenntnisse aus dem einen Gebiet sich produktiv auf das andere übertragen lassen – wie sämtliche Phänomene auf Erden und im Universum den gleichen Gesetzen unterliegen. So brachte ihn das Studium des Wassers und der Flüsse einerseits und der Geologie andererseits zu Erkenntnissen über die Entstehung jener Landschaften, die er im Hintergrund der Mona Lisa malte. Und seine Beschäftigung mit der Funktionsweise der Nerven und des Gehirns war Grundlage für die Darstellung der Gefühlsbewegungen der Apostel beim Letzten Abendmahl. Heute würden wir sagen, da Vinci übte sich in Wissenstransfer und interdisziplinärem Denken.

Das «Universal Leonardo»-Projekt

Diesen, den «ganzheitlichen» Leonardo, wie die Forscherin und Kuratorin Marina Wallace ihn nennt, zeigt nun das «Universal Leonardo»-Projekt des Europarates: in einer Reihe von Ausstellungen in mehreren Ländern sowie auf einer ungewöhnlichen Seite im Internet. Gemälde sind dort neben Beschreibungen von Wetterphänomenen und mathematischen Überlegungen zur Proportionslehre zu sehen. Studien zur Strömungslehre werden in Beziehung gesetzt zur Funktionsweise des Blutkreislaufs.

Der Blick unter die Oberfläche seiner Gemälde

Und dann, wenn wir Leonardos Gedankengänge verfolgt und die Verwandtschaft der einzelnen Arbeiten nachvollzogen haben, wartet beim «Universal Leonardo»-Projekt noch einmal etwas ganz Neues auf uns. Etwas, das selbst dem Genie aus der Toskana unmöglich war – der Blick unter die Oberfläche seiner Gemälde: in das Innere der Madonna mit der Nelke in der Alten Pinakothek in München sowie in die tiefsten Schichten der Madonna mit der Spindel auf der Universalleonardo-Webseite.

Beide Werke wurden durchleuchtet und analysiert von Röntgengeräten, Teilchenbeschleunigern, Gamma-Detektoren, Computertomographen, Infrarot-Reflektographen. Und die Resultate, geisterhafte Umrisse der Vorzeichnungen, grieselige Flächen der unterschiedlichen Farbfelder, werden zusammen mit den Originalen gezeigt.

Dabei kann das Publikum die Antwort auf die letzte aller Fragen nachvollziehen: Ob diese beiden Gemälde wirklich von Leonardo gemalt worden sind. Die Antwort lautet: Ja.

Der Text ist entnommen aus:
http://www.geo.de/GEO/mensch/50604.html