Sonderthema
Paul Gerhardts Bedeutung und Nachwirkung
Ein literarisches Kunstwerk hat erst dann Wert, wenn es in die Gedanken- und Gefühlswelt der Menschen vorgedrungen ist und deren Geist neu befruchtet hat. Das gilt für Paul Gerhardts Lieddichtungen uneingeschränkt. Obwohl er einer uns recht fern liegenden geistigen und dichterischen Zeit angehört, lebt er heute noch unmittelbar im Bewusstsein seiner Werke fort. Dass seine Lieder ausschließlich religiösen Charakter tragen, darf nicht als Einseitigkeit angesehen werden, sie entsprechen ganz der Eigenart seiner religiös orientierten Zeit und sind der typische Ausdruck jener Periode. In Gerhardt reflektiert sich die innere Trennung der Persönlichkeit von altkirchlicher Gebundenheit, theologischer Einseitigkeit und zugleich die Verkörperung eines selbstständigen natürlichen Denkens und Empfindens. Wenngleich er in den Überlieferungen der orthodoxen Vergangenheit verwurzelt ist und an ihnen festhält, so ragt er doch in seinen Dichtungen über sein Jahrhundert heraus bis in unsere Zeit.
Dabei steht ihm das Verdienst zu, die Entwicklung vom Bekenntnislied zum Andachtslied und das zuversichtliche Preis- und Gedankgebet gefördert zu haben. Seine Gedichte haben sich in ihrer Stimmung auch zu Volks- und Familienliedern christlichen Glaubens entwickelt. Sie verkünden Freude, Liebe und lassen Leid ahnen. Sie wollen Trost spenden, die Herzen rühren und an die Jahreszeiten erinnern. Sie huldigen fröhlich dem Baum, der Wiese, der Lerche, dem Bach und demonstrieren sein irdisches Vergnügen in Gott.
Seine Dichtungen haben nicht nur die Zeiten überdauert, sondern sind grenzübergreifend zwischen konfessionellen und sprachlichen Schranken geworden. So wurden sie ins holländische, französische, englische, spanische, aber auch in afrikanische, asiatische und in andere Sprachen übersetzt. Sie fanden in den katholischen Gesangbüchern Eingang, und auch in der reformierten Kirche werden sie gesungen. Damit ist Gerhardt zum ökumenischen Dichter geworden. Da Gerhardt für fast jede Festgelegenheit gedichtet hat, begegnet er uns auch immer wieder. Die ständige Berührung mit seinen Texten macht sie gegenwärtig und lässt so auch ihren Dichter im zeitlosen Andenken der Menschheit verharren. Dadurch hat Gerhardt wie kein anderer Dichter geistlicher Lieder Bedeutung erlangt, indem er das Beste der neuen Zeit an sich zieht und so das Alte mit dem Neuen, das Geistliche und Volkstümliche mit dem Gelehrt-Künstlerischen meistens zu vollkommener Einheit verbindet.
Leider hat Paul Gerhardt in seiner Zeit nicht immer die gebührende Würdigung gefunden. Der damals herrschende Pietismus verhielt sich gegenüber dem Dichter genauso gleichgültig wie das ihm folgende Zeitalter der Aufklärung, als sogar mit unqualifizierter Hand verunstaltend in seine Werke eingegriffen wurde. Erst nach den Befreiungskriegen mit dem Erwachen eines neuen andachtsbedürftigen Glaubenslebens ist Gerhardt zu der Annerkennung gelangt, die er beanspruchen darf. Erst 200 Jahre nach seinem Tod wurde in seiner letzten Ruhestätte in Lübben 1876 eine Gedenktafel angebracht (1976 erneuert) und 1907 vor der Kirche ein Denkmal errichtet. Im Jahre 1930 gestaltete man das Eingangsportal zum Turm der Kirche neu und versah dieses mit Gerhardts Liedzeile Alles Ding währt seine Zeit, Gottes Lieb in Ewigkeit.
Die Geburtsstadt Gräfenhainichen hat zum Gedächtnis 1830 eine Paul-Gerhardt-Kapelle und 1907 ein Paul- Gerhardt-Haus errichtet, wo sich auch das 1911 geschaffene Denkmal von Johann Friedrich Pfannschmidt befindet; die Lutherstadt Wittenberg bewahrt sein Andenken im Paul-Gerhardt-Stift, der Paul-Gerhardt-Straße und den beiden Gedenktafeln am Wohnhaus von Paul Gerhardt, die sandsteinerne Gedenktafel von 1924 an der Rückseite des Hauses ist jedoch stark verwittert. In der Mittenwalder St. Moritzkirche hat man 1950 buntbleiverglaste Chorfenster von Gerhard Olbricht eingefügt, die Paul Gerhardt als Prediger und Dichter zeigen. Nach einem Festgottesdienst am 14. Juli 2001 hat man an der Südseite der Stadtpfarrkirche ein Denkmal enthüllt, das nach der Vorlage des Gipsmodells von Pfannschmidt aus dem Jahre 1905 gefertigt wurde. Dieses befindet sich im Diakonissenmutterhaus im Paul-Gerhardt-Stift Berlin. Ebenfalls in Berlin hat man an seiner Hauptwirkungsstätte, der Berliner Nikolaikirche, 1957 eine Gedenktafel angebracht sowie eine zweite, die im Jahre 1999 errichtet wurde und auf Gerhardt und Johann Crüger hinweist.
Doch nicht nur in den Hauptwirkungsstätten finden sich die Spuren Gerhardts. Da er als Dichter grenzüberschreitend wirkte, findet sich sein Name in vielen deutschen Städten an Schulen, Kindergärten, Häusern, Straßen, Kirchen und Gemeinden. Diese Einrichtungen halten den Namen Paul Gerhardts im Andenken der Menschen aufrecht.
Günter Grass hat Paul Gerhardt 1979 in seinem Werk Treffen in Telgte ein literarisches Denkmal gesetzt. Er beschreibt Paul Gerhardt dort als Gesellschaftskritiker.