Literatur
Rainer Kerndl: Eine undurchsichtige Affäre
(Fortsetzung aus Nr. 05/2007)
Mißmutig schob ich das Laken von mir und schlenkerte die Beine über die Bettkante. Ich mußte mich mit beiden Händen festhalten, um einigermaßen aufrecht zu sitzen. Einen Whisky hatte ich wohl zuviel getrunken. Vermutlich war es der letzte. Immer ist es der letzte, der einen umwirft. Der von tausend Füßen abgewetzte Teppich vor dem Bett schien leicht hin- und herzugleiten. Also ein fliegender Teppich, bitte schön, das steht uns zu, dafür sind wir in Arabien, alles im Preis inbegriffen, inklusive, wie es so heißt, auch das bezahlt nun freundlicherweise meine Botschaft, auch den fliegenden Teppich aus tausend und einer Nacht, und mir reichte im Moment die letzte, die hatte es in sich gehabt.
Mittlerweile empfanden Ohren, Gehirn und Nervensystem den Lärm der Straße nicht mehr als schmerzhaften Eingriff in mein chaotisches Benommensein. Dieses Hupen, Eselschreien und Wareausrufen gehörte nun einmal dazu; akustische Realität einer anderen Welt. Vage Erinnerungen an abenteuerliche Kindheitsbücher schienen sich hier als selbstverständliche Wirklichkeit zu präsentieren, und der hektisch melodische Lärm der Autohupen gehörte dazu, als habe er schon Kalifen in den Ohren geklungen.
Ich hatte Irak und vor Jahren ein Stückchen Tunesien erlebt, in Damaskus war ich zum ersten Mal. Schon nach einem Tag hatte ich das Gefühl, hier würde ich leben können. Natürlich wußte ich um den Unterschied, ob man sich gastweise in einem anderen Land aufhält, unbelastet von dessen Zwängen und Schwierigkeiten, oder ob man gezwungen ist, dort sein Leben zu fristen, ohne den Termin einer Heimkehr in Kopf und Kalender. Mir war dieser Termin unerwartet schnell zugeteilt worden.
Nichts mit Aleppo und Hama und Homs, nichts mit der syrischen Wüste und Palmyra und Bosra und vor allem den Gesprächen, Nachfragen und Aufstöbern von Fakten und Berichten für mein Buch! Nichts als eine kaum angefangene und nun jäh abgebrochene Reise. Da hast du dein Abenteuer, Jochen Altenstedt, nach dem du dich oft sehntest. Du hattest einen Dieb im Zimmer und hernach noch das zweifelhafte Vergnügen, vom Hotelchef für einen verkappten Hochstapler gehalten zu werden – «Why didn’t you depose the money in our safe?» –, jawohl, warum hab ich’s nicht im Safe deponiert, ich vertrauensseliger Pinsel, und dann noch dieser liebenswürdige Kollege Heinrichs von der Botschaft mit seinem vielsagenden Schulterzucken: «Sie können den Verlust der Summe ja nicht einmal belegen!»
Leider hinterlegen auch in Arabien Diebe keine Empfangsbestätigung. Warum tat hier jeder so, als hätte ich mich selber bestohlen? Nur ein moralischer Säulenheiliger hätte unter den Umständen den Hinweis auf gefälligst zu übende Bescheidenheit bei Inanspruchnahme der Botschaftskasse ohne Bitterkeit runtergeschluckt. Jochen Altenstedt war aus gewohnter Korrektheit, wenn auch verbiestert und zornig, bereit zu angemessener Bescheidung. An sparsamen Umgang mit Valutamitteln war ich, weiß der Himmel, ohnehin gewöhnt. Mir hatten nie Reichtümer zur Verfügung gestanden. Auch die aus eigenem kommende Reisebarschaft hätte mir keine großen Sprünge erlaubt. Weshalb also zu Lasten der Botschaft plötzlich prassen wie ein Ölscheich aus Kuweit? Das war nicht meine Art.
Bis gestern abend. Mißmutig und in flapsiger Weltuntergangslaune hatte ich plötzlich nicht mehr einsehen mögen, weshalb ich’s zum Abendessen bei einer Flasche Bier bewenden lassen sollte. Ich war hinübergegangen in die Hallenbar, hatte, zunächst noch einziger Gast, dem jungen Barmann mürrisch, weil doch wohl nicht reinen Gewissens, einen Whisky abverlangt.
«Please, Sir, you are welcome, Sir.» Ein gewinnendes Lächeln, das Eis klirrte im Glas, der Ballantine plätscherte auf die Würfel und stand vor mir, ehe ich mich versah. «Room-number, Sir?» Room-number haben wir, mein Junge, sollst du wissen, das Zimmer haben sie mir noch nicht gestohlen, zwei Tage darf ich sogar noch drinbleiben, obwohl seit vorgestern arm wie die Bettler draußen vor dem Hotel, und mach mal noch einen ins Glas, mein Freund, es ist schön bei euch, wo man alles auf Room-number bekommt und an die Rechnung nicht denken muß, soll sich der Botschaftsbuchhalter drüber auslassen, wieviel Whisky Jochen Altenstedt aus Erfurt auf Staatskosten getrunken hat, noch einen Ballantine, mein Lieber, das Zeug ist gut. «Please, Sir, you are welcome.»
Ich schaute zur Uhr. Von wegen sechs Uhr morgens. Es war kurz nach zehn. Also hatte mich die zweite Gebetsaufforderung aus dem Schlaf gedröhnt. Ich gab mir noch fünf Minuten, bis ich aufstehen und unter die dünnrieselige Dusche gehen würde.
Ich war nicht allein geblieben an der Bar in der Halle. Der Mann mußte mich schon eine geraume Weile beobachtet haben; manchmal spürt man so etwas erst, wenn man angesprochen wird. Plötzlich saß er neben mir. Sein Englisch war so glänzend wie die vier oder fünf Goldplomben, die er unablässig zur Schau stellte: Ein Mann, der alles, was er mitzuteilen hat, mit breitem Lächeln zum besten gibt, und er hatte fortwährend irgend etwas mitzuteilen, verwandelte jede noch so belanglose Bemerkung in eine von Sympathie strotzende Verlautbarung. Seine gepflegte Eleganz und die behende Beweglichkeit hatten mich schnell vermuten lassen, ich müßte es mit einem Kaufmann zu tun haben. Die meisten arabischen Gäste in derlei Hotels pflegen Geschäftsleute zu sein, und daß er Araber war, konnte auch sein flüssiges Englisch nicht verbergen; der rachale Unterton verriet es.
Die nächsten Whiskyrunden hatte er bestellt, und er tat es mit vollendeter, doch nicht aufdringlicher Absolutheit. Auf Fragen, die er im hurtigen Konversationston stellte, gab er gleich selbst die Antworten, mir blieb kaum mehr als die Gelegenheit zu unverbindlichem Ja oder Nein. Er wußte alles, kannte alles, verstand auch alles, und je länger der Abend ging, meinte ich, es stimmte auch alles, was er von sich gab.
Sein Name war übrigens Ahmed Toubi. «Selbst Sie als Europäer können es leicht und richtig aussprechen, im Gegensatz zu den meisten arabischen Namen, und wer, ist es nicht so, wer mag schon, wenn er seinen Namen in fragwürdiger Artikulation oder ganz und gar falsch ausgesprochen hört, nicht wahr?» Ich hatte genickt und gedacht, daß es mir eigentlich immer egal gewesen war, ob einer meinen Namen richtig oder falsch ausspricht, aber es war wohl nicht wichtig, und ich hatte es nicht gesagt.
«Also Ahmed Toubi, mein Freund, es ist wirklich leicht zu merken.» Und er hatte mich angestrahlt mit der grenzenlosen Biederkeit eines Kaufmanns der östlichen Mittelmeerküste, der imstande war, dem Partner selbst seine Schwester zu verkaufen, wenn er sie günstig zurückkriegen kann. Der Whisky schien ihm nichts auszumachen; leider tat er auch seiner hochgradigen Magensäure keinen Abbruch. Wer sehr nahe bei dem gepflegten Kaufmann saß, konnte nicht umhin festzustellen, daß Ahmed Toubi erbärmlich aus dem goldplombendurchsetzten Mund stank.
Vermutlich gehörte es zu seinen Lebensprinzipien, die empfindsamen Stellen im Seelenkorsett seiner Mitmenschen aufzuspüren. Nach zwei Stunden hatte er alles über meine Verärgerung samt der dazugehörigen Ursache erfahren. Nicht daß ich auch meine Verbitterung über den Burschen von der Botschaft preisgegeben hätte; ich bin kein sehr politischer Mensch und gehöre nicht zu denen, die selbst Dummheiten als sinnvollen Beitrag zur revolutionären Wachsamkeit durchgehen lassen, doch jedesmal, wenn ich ein paar hundert Kilometer von daheim weg bin, befällt mich eine unbezwingbare Anwandlung von DDR-Korpsgeist. Aber den Rest und damit das Wesentliche hatte ich nach zirka einhundertfünfzig Minuten gemeinsamer Whisky-Trinkerei Ahmed Toubi mitgeteilt: daß ich zwecks Materialsammlung für ein Buch ein für vier Wochen gültiges Visum, infolge Hoteldiebstahls aber kein Geld mehr besaß und folglich am nächsten Abend eine Maschine via Berlin-Schönefeld besteigen sollte.
schlen|kern <sw. V.> [spätmhd. slenkern = schleudern, zu mhd. slenker, slenger, ahd. slengira = Schleuder, zu schlingen]: 1. <hat> a) (etw., mit etw.) [nachlässig] hin u. her schwingen: die Arme, mit den Armen s.; b) sich locker, pendelnd hin u. her bewegen: ein langer Rock schlenkerte ihr um die Beine. 2. (landsch.) schlendern <ist>: durch die Straßen s.
ab|wet|zen <sw. V.>: 1. <hat> a) (seltener) durch Wetzen entfernen: den Rost [von der Sense] a.; b) (von Kleidungsstücken, Polstern o. Ä.) durch Reiben bewirken, dass etw. dünn, speckig glänzend wird: du hast den Mantel an der Seite mit der Tasche ganz abgewetzt; abgewetzte Hosen, Sitze. 2. (ugs.) schnell davonlaufen <ist>: er ist eben zum Bus abgewetzt.
ver|kap|pen <sw. V.; hat> [eigtl. etwa = unter einem Kapuzenmantel verbergen]: 1. <v. + sich> durch geschickte Tarnung, Verstellung das, was jmd. od. etw. in Wirklichkeit ist, für andere unkenntlich zu machen suchen; sich tarnen: sich als Biedermann v.; <meist im 2. Part.:> ein verkappter Spion; eine verkappte Enteignung, Annexion. 2. (Jagdw.) (einem Beizvogel) die Kappe über den Kopf ziehen: einen Falken v.
ver|bies|tern, sich <sw. V.; hat> [aus dem Niederd. < mniederd. vorbisteren, zu: bister = umherirrend; gereizt < (m)niederl. bijster]: 1. (landsch.) sich verirren: sich im Wald, im Dunkeln v. 2. (ugs.) bei einer Arbeit o. Ä. in eine falsche, nicht zum Ziel führende Richtung geraten: er hat sich hoffnungslos verbiestert.
flap|sig <Adj.> (ugs.): in der Art eines Flapses, schlechte Manieren zeigend: eine -e Antwort.
ver|laut|ba|ren <sw. V.> [mhd. verlutbæren]: 1. [amtlich] bekannt machen, bekannt geben <hat>: er ließ v., dass er ein Fest geben werde; über den Stand der Untersuchungen wurde noch nichts verlautbart. 2. (geh.) bekannt werden <ist>: ein Vorkommnis, worüber nichts verlautbarte; <auch unpers.:> es verlautbarte (hieß, wurde erzählt), der Staatschef sei erkrankt.
der|lei <indekl. Demonstrativpron.> [-lei]: a) <attributiv> solch, derartig, von solcher Art, dergleichen: d. Worte hört man oft; auf d. Reisen erlebt man viel; b) <selbstständig> so etwas, solches: d. kommt häufig vor.
hur|tig <Adj.> [mhd. hurtec, zu: hurt[e] = Stoß, Anprall < afrz. hurt, zu: hurterÿ= stoßen] (veraltend, noch landsch.): schnell, flink u. mit einer gewissen Behändigkeit tätig, sich [auf ein Ziel] bewegend: etwas h.!/h., h.! (Aufforderung, sich zu beeilen).
bie|der <Adj.> [mhd. bider(be), biderb]: 1. (veraltend) rechtschaffen, aufrichtig u. verlässlich, ehrenwert u. anständig: ein -er Bürger; von -er Gesinnung sein. 2. auf beschränkte Weise rechtschaffen, allzu naiv; einfältig, treuherzig: einen Befehl brav und b. ausführen. 3. etwas einfallslos, hausbacken u. unoriginell; langweilig u. ohne Reiz: eine -e Zeitschrift; ein -es Unterhaltungsprogramm.
Aus: Rainer Kerndl: Eine undurchsichtige Affäre. Mitteldeutscher Verlag, Halle –Leipzig 1981. S. 5–15.