Sonderthema
Jean Paul: Zwischen Klassik und Romantik
Die manchmal geheimnisvollen Wege der Literaturgeschichtsschreibung haben dahin geführt, dass eine entscheidende Periode der deutschen Literatur, die etwa das letzte Viertel des 18. und das erste des 19. Jahrhunderts umfasst, in zahlreiche Strömungen unterteilt worden ist, die sich teils ablösen, sich teils überlappen, teils sogar parallel verlaufen. Diese differenzierte Betrachtungsweise hat den – paradoxen oder folgerichtigen? – Effekt, dass drei der wichtigsten Autoren dieses Zeitraums ohne Zuordnung zu einer Strömung «übrig» geblieben sind: Jean Paul, Friedrich Hölderlin und Heinrich Kleist. Gelegentlich als Paraklassik oder Gegenklassik etikettiert, werden sie als etwas sperriger Block in den einschlägigen literarischen Handbüchern behandelt, wobei genauso gut Bezeichnungen wie Neben Klassik und Romantik, Weder Klassik noch Romantik oder Sowohl Klassik als auch Romantik zur Kennzeichnung des literaturhistorischen Standortes dienen könnten.
Megalithisch ragen die drei genannten Autoren aus der literarischen Landschaft heraus: nicht einzuordnen und unbequem – am unbequemsten vielleicht jener, der durch sein behäbiges Äußeres eher als gemütlicher fränkischer Dorfpoet einzuschätzen wäre: Johann Paul Friedrich Richter, mit Dichternamen Jean Paul. Diesen wählte er als Zeichen seiner Bewunderung für Jean-Jacques Rousseau, dessen zwiespältiges Verhältnis zur Aufklärung sich auf etwas vertrackte Weise bei Jean Paul wiederfinden lässt. Denn für einen «echten» Aufklärer war er viel zu empfindsam – die rationalistische Strenge blieb ihm zeitlebens fremd. Für einen Empfindsamen oder gar einen Romantiker war er aber wiederum zu analytisch, zu ironisch und auch zu bescheiden.
Jean Paul konnte satirisch sein bis zur Bösartigkeit und gleichzeitig von tiefer Wärme für alles Menschliche, mit dem er sich ganz und gar verbunden fühlte, sodass seine Uneinordbarkeit geradezu als programmatisch angesehen werden kann. Als Meister der Digression (Abschweifung) hinterließ er eine Reihe von Prosawerken, die manchen heutigen Leser in der Tat eher abschrecken, und zwar nicht nur wegen ihres Umfangs. An keine Norm gebunden, wechseln sich bei Jean Paul Passagen von hoher lyrischer Intensität mit ironisch-satirischen Betrachtungen und naturwissenschaftlich orientierten Ausführungen ab. Vor allem aber durchbricht er permanent die Erwartungshaltung des Lesers, der von Einschüben, Unterbrechungen, Nebenepisoden und seltsamen Zwischentiteln dauernd irritiert wird und oft nur mühsam den Gang der spärlichen Handlung verfolgen kann.
In seinen Erzählungen und Romanen (u. a. Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wuz in Auenthal. Eine Art Idylle, 1793, Hesperus oder die 45 Hundsposttage, 1795, Leben des Quintus Fixlein, aus 15 Zettelkästen gezogen, nebst einem Mußteil und einigen Jus de Tablette, 1796, Flegeljahre, 1804, Dr. Katzenbergers Badereise, 1808) lässt er einen Kosmos teils wechselnder, teils wieder auftauchender skurriler Figuren entstehen, von denen auch seine drei großen Werke erfüllt sind: Der Titan (1800–1803) mit dem bitter-sarkastischen Anhang Des Luftschiffers Giannozzo Seebuch, einer der großen Bildungsromane der deutschen Literatur, in dem das Erwachsenwerden des Jünglings Albano erzählt wird, verflochten mit einer undurchschaubaren, scheinbar trivialen Intrigenhandlung und der Auseinandersetzung mit der Philosophie Fichtes; Der Komet oder Nikolaus Markgraf (1820–1822), sein letzter, unvollendeter Roman, die absurd-komische Geschichte eines fränkischen Don Quixote, die mit dem Wort «Entsetzen» abbricht, und, schließlich Jean Pauls Meisterwerk: Blumen-, Frucht- und Dornenstücke oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F. St. Siebenkäs im Reichmarktflecken Kuhschnappel (1796/97).
Als eine in sich geschlossene Welt enthält dieser, bei aller gewollt barockisierenden Erzählhaltung außerordentlich unkonventionelle Roman einen Reichtum an Stimmungen, Themen und Einzelbeobachtungen, der an die großen narrativen Werke der europäischen Moderne denken lässt. Handfeste Gesellschaftssatire wechselt sich ab mit der hintergründigen Durchleuchtung des Problems der Identität, kabarettähnliche Szenen aus einer bürgerlichen Ehe kontrastieren mit dem apokalyptischen Traum, der in der Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei, kulminiert (welche die französische Romantik stark beeinflusste), an Nonsense grenzende Betrachtungen und Episoden durchkreuzen eine romantisch-idealistische, ohne jegliche Ironie erzählte Liebesgeschichte.
«Ein Schriftsteller wie Jean Paul ist mir noch nicht vorgekommen, unter allem, was ich seit jeher gelesen habe. Eine solche Verbindung von Witz, Phantasie und Empfindsamkeit möchte auch wohl ungefähr das in der Schriftsteller-Welt sein, was die große Konjunktion dort oben am Planeten-Himmel ist. Einen allmächtigern Gleichnis-Schöpfer kenn ich gar nicht», notierte Georg Christoph Lichtenberg.
Bedeutung und Nachwirkung
Jean Paul nimmt in der deutschen Literatur eine Sonderstellung ein und hat das Lesepublikum schon immer gespalten. Bei den einen erntete er höchste Verehrung, bei anderen Kopfschütteln und Desinteresse. Er trieb die zerfließende Formlosigkeit des Romans der Romantiker auf die Spitze. August Wilhelm Schlegel nannte seine Romane «Selbstgespräche», an denen er den Leser teilnehmen lasse. Jean Paul spielte ständig mit einer Vielzahl witziger und skurriler Einfälle. Seine Werke sind geprägt von wilder Metaphorik sowie abschweifenden, teilweise labyrinthischen Handlungen. In ihnen mischte Jean Paul Reflexionen mit poetologischen Kommentaren – neben geistreicher Ironie stehen unvermittelt bittere Satire und milder Humor, neben nüchternem Realismus finden sich verklärende, oft ironisch gebrochene Idyllen, auch Gesellschaftskritik und politische Stellungnahmen sind enthalten.
Besonders weibliche Leser schätzten seine Romane – dies lag vor allem an der Empathie, mit der Jean Paul die Frauenfiguren in seinen Werken gestalten konnte: Nie zuvor waren in der deutschen Literatur weibliche Charaktere mit einer solchen psychologischen Tiefe dargestellt worden. Allerdings finden sich auch nirgends sonst derart vergnüglich-misogyne Sticheleien wie bei Jean Paul.
Ähnlich vielgestaltig und verwirrend wie viele seiner Romane muss auch Jean Pauls Charakter gewesen sein: Er war wohl sehr gesellig und geistreich, gleichzeitig extrem sentimental, von fast kindlichem Gemüt und schnell zu Tränen gerührt.
Bei einem so kapriziösen Autor ist es kaum verwunderlich, dass sein Verhältnis zu den Weimarer Klassikern Goethe und Schiller immer zwiespältig war. Herder und Wieland allerdings haben ihn geschätzt und unterstützt. Obwohl er immer auf Distanz zu den die Kunst verabsolutieren wollenden Klassikern blieb und obwohl in seinem theoretischen Ansatz – etwa in seiner Vorschule der Ästhetik – deutliche Einflüsse der Romantik festzustellen sind, ist er nicht zu den Romantikern zu rechnen. Er hielt auch hier kritischen Abstand; denn bei allem Subjektivismus verabsolutierte er das Ich des Autors nicht: Er besaß, was zwischen klassischem Ernst und romantischer Ironie selten geworden war: Humor (mit dessen Wesen er sich auch als Erster eingehend auseinandersetzte). Sowohl die Aufklärung als auch die Metaphysik waren für ihn gescheitert, gleichwohl hatten sie ihren Platz in seinem Weltbild. So gelangte er zu einer Weltanschauung ohne Illusionen – verbunden mit humorvoller Resignation. Dazu passt, dass Jean Paul einer der ersten Fürsprecher der Philosophie Arthur Schopenhauers war. Er versuchte nicht zu indoktrinieren, sondern das Glück des Menschen darzustellen, auch und gerade in einer sich zunehmend entfremdenden Umwelt – in Rokoko-Schlössern und kargen Dörfern Oberfrankens.
Jean Pauls Werk spiegelt das gesamte weltanschauliche Spektrum seiner Zeit wider. Obwohl E.T.A. Hoffmanns Werk in seiner grotesken Komik dem von Jean Paul nahestand – Nachfolger im eigentlichen Sinne hatte er nicht. Jedoch stand etwa der frühe Stifter unter seinem Einfluss und im Werk Wilhelm Raabes sind zahlreiche Anleihen an Jean Paul zu finden. Allenfalls können auch Autoren aus dem 20. Jahrhundert wie Georg Heym, Hermann Burger oder Arno Schmidt aufgrund ihrer Sprachartistik und Digressionskunst als Erben der Jean Paul’schen Prosa angesehen werden. Jean Paul genoss in diesen späteren Dichtergenerationen immer wieder höchstes Ansehen. Für Arno Schmidt ist Jean Paul «einer unserer Großen ... einer von den Zwanzig, für die ich mich mit der ganzen Welt prügeln würde».
Der Text ist entnommen aus:
http://www.xlibris.de/Autoren/Klassiker/Literaturepochen.htm