Wissenschaft und Technik
Der erste Krieg der Menschheit
Vor 5500 Jahren wurde die blühende Stadt Hamoukar ausgelöscht – im ersten bekannten Krieg der Menschheitsgeschichte. Forscher haben im heutigen syrisch-irakischen Grenzgebiet neue Spuren der Schlacht gefunden. Gespenstische Details zeugen von einem tragischen Ende.
Den Verteidigern ist klar, dass sie wahrscheinlich nicht mehr lange zu leben haben. Dennoch versuchen sie alles, um die Angreifer aufzuhalten. In einem Wasserbehälter, der bis zum Rand im Boden eingegraben ist, formen nervöse Hände Lehmkugeln, die mit Schleudern auf die Belagerer abgeschossen werden sollen. Doch dazu kommt es nicht mehr: Das Dach und die Wände des Hauses stürzen ein und begraben Mensch und Material unter sich.
5500 Jahre liegen die Spuren der dramatischen Szene unter den Trümmern. Dann, im Herbst 2006, stoßen Archäologen bei der Ausgrabung des alten Hamoukar auf das eingestürzte Haus, dessen Wände einst zwei Meter hoch waren. Im Inneren finden sie rund 1100 Lehmkugeln. Zwei Dutzend liegen noch immer säuberlich aufgereiht neben dem eingegrabenen Gefäß. Sie wurden nie benutzt.
«Man kann sich die Verzweiflung dieser Menschen vorstellen», sagt Clemens Reichel vom Orient-Institut der University of Chicago, das die Ergebnisse der Grabung jetzt veröffentlicht hat. «Es sieht so aus, als ob sie buchstäblich alles auf die Angreifer geworfen haben, was sie finden konnten.» Doch die Verteidiger hätten keine Chance gehabt: «Der Angriff muss schnell und heftig gewesen sein. Gebäude sind eingestürzt und abgebrannt. Sie haben alles unter einem Berg von Schutt begraben.»
Der erste Krieg in der Geschichte der Menschheit?
Seit 1999 graben Archäologen in den Ruinen des alten Hamoukar im äußersten Nordosten Syriens, nur wenige Kilometer entfernt von der irakischen Grenze. Inzwischen sind sie sicher, dort auf die Spuren des vielleicht ersten organisierten Kriegs der Geschichte gestoßen zu sein – und auf neue Erkenntnisse über die Entwicklung der ersten Zivilisationen.
Reichel spricht von einem «schaurigen, fast schon heiligen Element», das die Arbeit seines Teams begleitet. Der deutsche Forscher und seine Kollegen haben auf einem riesigen Gebiet Spuren der alten Stadt und ihres dramatischen Endes gefunden: Unter einem Hügel kamen Ruinen auf einer Fläche von rund einem Quadratkilometer zum Vorschein. Der 160 000 Quadratmeter große Stadtkern war von einer drei Meter dicken Mauer geschützt. Vor der Stadt haben die Wissenschaftler Spuren der groß angelegten Herstellung von Werkzeugen, Waffen und Gebrauchsgegenständen gefunden: Keramik- und Obsidianstücke, verteilt auf der riesigen Fläche von fast drei Quadratkilometern.
Reichel und seine Kollegen sprechen von einer «quasi-industriellen» Produktion von Waffen und Werkzeugen. Schon 2005 haben sie rund 1000 eiförmige Schleuderkugeln aus Lehm entdeckt und daraus gefolgert, dass Hamoukar in einem Krieg vernichtet wurde. «Wir haben die Kugeln in allen Gebrauchsstufen gefunden», erklärt Reichel, «von der Herstellung bis zum Einschlag.» Unter dem Schutt der eingestürzten Häuser fanden die Archäologen auch zwölf Gräber. Sie vermuten, dass die Skelette von Opfern der Schlacht stammen.
Auch angesichts des Musters der Zerstörungen folgern die Wissenschaftler, dass ein Erdbeben als Ursache von Hamoukars Untergang ausfällt. 2005 wollten viele Forscher Reichels Interpretation zunächst nicht folgen. Doch die Geschosse, die zerstörten Wände und das Ausmaß der Verheerung hätten inzwischen «auch die größten Zweifler überzeugt, dass dies ein Beweis für einen Konflikt ist», sagte Guillermo Algaze, ein nicht am Hamoukar-Projekt beteiligter Archäologe der University of California in San Diego, der «New York Times». Die Angreifer kamen derzeitigen Vermutungen zufolge aus dem fruchtbaren Süden des Zweistromlands, möglicherweise aus Uruk, einer der ersten machtvollen Städte der Geschichte.
Aussicht auf Reichtum trieb Menschen in die Stadt
Anhand der Funde glaubt Reichels Team auch herausgefunden zu haben, warum Hamoukar entstanden ist. Die zahlreichen Spuren intensiver Werkzeug- und Waffenherstellung «zeigen, dass diese Dinge hier nicht nur benutzt, sondern auch im großen Maßstab produziert wurden», sagt Salam al-Kuntar, der syrische Co-Direktor der Expedition.
Anders als im südlichen Zweistromland, wo die ersten Städte wahrscheinlich entstanden sind, um die Landwirtschaft und damit die Versorgung der Menschen zu sichern, sei Hamoukar eine Handelsstadt gewesen. Mitten auf einer wichtigen Handelsroute zwischen Anatolien und Südmesopotamien gelegen, konnte Hamoukar dank der Massenproduktion von Gebrauchsgütern großen Reichtum erlangen, glaubt Reichel.
Der überall um die Stadt herum gefundene Obsidian ist ein vulkanisches Glas, das zur Herstellung von Werkzeugen und Waffen verwendet wurde, ehe sich die Metallverarbeitung durchsetzte. In der Gegend um Hamoukar kommt es jedoch nicht vor: Es musste aus einer Entfernung von mindestens 100 Kilometern herangeschafft werden, da sich die nächstgelegenen Vorkommen in der heutigen Türkei befinden.
Ein intensiver Export von Obsidian-Produkten ins südliche Zweistromland könnte die Entstehung von Hamoukar erklären, glaubt Reichel. «Das könnte die Menschen von den Feldern in die Stadt gelockt haben.» Anstatt selbst den Pflug zu bedienen, hätten sie Lebensmittel aus Dörfern in der Umgebung eingeführt. «Und wenn Menschen erst einmal ein Vermögen angehäuft haben, bauen sie Mauern, um es zu schützen – und man hat die erste Stadt.»
Obsidian-Verarbeitung begann schon vor 6500 Jahren
Wann genau die erste Siedlung an der Grabungsstelle entstanden ist, können die Archäologen nicht sagen. «Es könnte viel früher als 3500 vor Christus sein», so Reichel. Die Obsidian-Produktionsstätten in der Umgebung von Hamoukar habe man anhand von Keramikteilen, die in derselben Erdschicht gefunden wurden, auf die Zeit zwischen 4000 und 4500 vor Christus datiert.
Als Hamoukar zerstört wurde, ging die Zeit der Obsidianverwendung bereits zu Ende. Kupfer begann, das Gesteinsglas als Werkstoff abzulösen. Die Entdeckung von zahlreichen Kupfer-Werkzeugen in den Ruinen deutet laut Reichel darauf hin, dass die Stadt möglicherweise bereits Kupfer-Produkte ins südliche Zweistromland exportiert hat.
Mesopotamien-Experte Algaze meint, dass die Funde von Hamoukar die traditionelle Lehrmeinung über die Entstehung der ersten Zivilisationen verändern könnte. Die Existenz von Hamoukar und der nahe gelegenen syrischen Stadt Tell Brak zeigte, dass sich der Norden und Süden des Zweistromlands unabhängig voneinander entwickelt haben. Bisher glaubte man, dass die Zivilisation im Norden Mesopotamiens unter dem Einfluss der südlichen Städte entstanden ist.
Doch offenbar waren die nördlichen Städte zunächst wichtiger als bisher vermutet. Der Handel war in der Region weit verbreitet – und damit auch die bewaffneten Konflikte. Der Ausgang der Schlacht von Hamoukar könnte durchaus zum späteren Übergewicht des Südens beigetragen haben, glaubt Algaze: Durch den Fall der Stadt wurde das südliche Zweistromland zur dominanten Kraft – und anschließend zur Heimat von Königreichen wie Babylonien.
Der Text ist entnommen aus:
http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/0,1518,460283,00.html