Literatur
Heinz Czechowski: Gedichte
Nahe Wettin
Jahrelang schwelten
Die unterirdischen Feuer
In den nicht mehr fündigen
Steinkohlengruben, so,
Daß das Gras
Schon im Januar grün war.
Die Schönheit der Distel,
Gemieden.
Aber in Mücheln,
Unter der Decke der Tempelherrenkirche,
Jetzt ein verfallender Speicher,
Blüht sie,
Zu Ornamenten vereint.
Hier ritt auf staubüberzogenen Wegen
Aus seinem Exil
Prinz Louis Ferdinand
Zu Reichardt nach Giebichenstein,
Dem Untergang Preußens entgegen.
Über die Burg und die Stadt
Hat die Zeit
Ihr Vergessen gebreitet.
Fontane
Ist hier nicht gewandert.
Wo so viel Geschichte
Auferstand
Vor dem Sturm.
Im Seekreis
Bauerngeschlechter,
Grabgelegt hangwärts: der Toten Blick
Gerichtet ins Tal. Wer
Bewahrt ihr Gedächtnis?
Das Rad der Geschichte,
In Fördertürme montiert:
Zwölf Stunden am Tag
Im Achtzig-Zentimeter-Streb,
Den Berg auf dem Buckel.
Drei Morgen Wind hinterm Haus,
Und im Gasthof,
Wenn der Stammtisch des Ortsbauernführers leer war,
Die alten Legenden
Vom Hölz-Max (aus Moritz bei Riesa),
Geflüstert. Wenn jetzt.
Früh halbfünf, der Schichtbus nach Eisleben
Abgefahren ist, schlappen später
Die alten Weiber des Dorfs
Zum Konsum nach Milch. Ein einsamer Hund
Schläft auf der Treppe der Kirche,
Deren Uhr
Keine Zeiger mehr hat.
Die alte Schnapsbrennerei,
Eine Apsis
Der Herrschaftskapelle,
Wo hinter erblindeten Scheiben
Das Blut der Rebellen
Den März 23 markiert. Dahinter
Der Blick auf sich langsam
Wiederaufrebende Hänge und
Seeaugen, aus denen, fast über Nacht,
Das Wasser verschwand:
Senkungsgebiet, eine
Von unzählbaren Geschlechtern
Um- und umgewendete Landschaft,
Seit Luthers und Müntzers Zeiten
Abgetäuft und unterminiert.
An der Efeumauer von Zscherben
Das Grab des verarmten Barons,
Der zu Buche gebracht hat,
Was die Lebenden langsam vergessen,
Während unten die Stadt aus weißem Beton
Ihre Straßenzungen bergan schickt
Und die Kinder die neuen Legenden
Zu buchstabieren beginnen.
Abendblatt
Es kann ja nicht wahr sein, aber
Es stimmt: daß der Himmel
An manchen Tagen großartig ist, hier
Über der Neustadt: schönste Fern
sicht
Über die Dächer hinweg, Konturen,
Der Harz, davor
Die Halden von Hettstedt und Mansfeld,
Oder, in nördlicher Richtung:
Der Petersberg (von Goethe bestiegen), dahinter
Die Zuckerrübensteppe von Anhalt,
Ein paar Silos darin, Betonungeheuer,
Ähnlich dem Mischfutterwerk,
Das die Aussicht auf Querfurt verstellt.
Also auch hier von den Dächern
Der Wohnverliese: eine konkrete
Mannigfaltigkeit, nicht zu verwechseln
Mit dem Leben, das weitergeht,
Trotzdem und trotzdem und obwohl
Jede Stunde aus allen
Radiolautsprechern das Säbelrasseln ertönt
Und täglich
Ein neues Damoklesschwert
Über unsere Köpfe gehängt wird.
Mein Gott; und der Beton
Frißt sich weiter und weiter
In die Altstadt hinein:
In die Abrißviertel der Leute,
Die von der gestundeten Zeit reden,
Um zu vertauschen Außenabort und Rattenplage
Gegen Dusche und Innenklosett. Dazwischen
Steht schwarz noch und schweiget
Der Rote Turm. Alles
Hat seinen Preis, auch der Fortschritt.
Ich zieh einen Schlußstrich
Unter alle Philosophie:
Denn der altehrwürdige Dom
Zerfällt sowieso, und die Türme
Von St. Marien werden vielleicht eines Tages
Nur noch auf einem Bild
Von Feininger konserviert sein.
Mit solchen Gedanken, mein Freund,
Schläft sich gut ein. Wo aber
Werden wir eines Tages erwachen?
Aus: Heinz Czechowski: Was mich betrifft. Gedichte. Mitteldeutscher Verlag, Halle – Leipzig 1981. S. 8–17.