Sonderthema
Die «karolingische Renaissance»
Ein unbestrittenes Verdienst Karls ist die von ihm angestoßene, vorangetriebene und mit allen Kräften geförderte Erneuerung des staatlichen, administrativen und kulturellen Lebens im Frankenreich. Er hebt die Bildung, festigt die Religion, vereinheitlicht das Rechts- und Münzwesen und regt eine immense Bautätigkeit an. Einige hundert Klöster und Abteien, mehr als 20 Kathedralen, Dome und Münster und nahezu 100 Pfalzen werden während seiner Regierungszeit errichtet.
Spätestens 777 beginnt Karl, die größten Gelehrten Europas an seinen Hof zu ziehen, und legt damit den Grundstein jenes kulturellen Reformwerks, das als «karolingische Renaissance» bzw. renovatio imperii bezeichnet wird.
An seinem Hof versammelte Karl bedeutende Gelehrte seiner Zeit, unter anderem den Angelsachsen Alkuin als Leiter der Hofschule, den Langobarden Paulus Diaconus, Petrus aus Pisa, den Westgoten Theodulf von Orléans sowie Einhard. Hildebold, der erste Erzbischof von Köln, war Karls Kanzler und Erzkaplan seines Hofes. Die von Karls Hof geförderte karolingische Minuskel (Carolina), eine aus Kleinbuchstaben gebildete Buchschrift, zeichnet sich durch Klarheit und Einfachheit des Schriftbildes aus. Aus ihr entwickelten sich über die gotische und humanistische Minuskel die heutigen Kleinbuchstaben.
Unabdingbare Voraussetzung einer breitenwirksamen Bildungsreform ist das Bemühen um eine zumindest in Grundzügen gebildete,
d. h. der lateinischen Sprache in Wort und Schrift mächtige Geistlichkeit. Wie schlecht es tatsächlich um das intellektuelle Niveau der meisten Kleriker bestellt ist, zeigen vor allem jene Kapitularien, in denen Karl fordert, die Priester hätten sich wenigstens um ein Mindestmaß an Bildung zu bemühen. In diesen Gesetzeswerken hält Karl die Bischofssitze, Klöster und großen Kirchen an, regelmäßigen Unterricht zu erteilen und Bibliotheken einzurichten.
Das Vorbild für die geistige Erneuerung in allen Reichsgebieten liefert der König selbst. Die von ihm gegründete, vielbestaunte und oft gelobte Aachener Hofbibliothek gibt das Muster vor. Diese Rüstkammer der lateinischen Gelehrsamkeit umfasst, ständig durch neue Ankäufe und sorgfältige Kopien erweitert, alle erreichbaren Werke der Kirchenväter (sacrae litterae) und antiker Autoren (saeculares litterae) in möglichst bereinigten Textfassungen (libri correcti). Noch heute vermitteln die erhalten gebliebenen, ebenso reich illuminierten wie kostbar gebundenen Prachtausgaben der Karolingerzeit einen Begriff jener Wertschätzung, die Karl und der Hofkreis dem Buch als Kulturgut entgegenbrachten.
Durch den Zuzug bedeutender Lehrer baut Karl zugleich mit seiner Bibliothek die Aachener Hofschule (schola palatina) zum Zentrum eines allgemeinen geistigen Aufschwungs aus. Allerdings ist dieser lockere Verbund wechselnder Gelehrter, anders als der Name vermuten lässt, nicht institutionell verankert und hinsichtlich seiner Zusammensetzung, Größe oder Effizienz schwer zu fassen. Feste Lehr- und Stundenpläne sowie Klassenverbände gibt es nicht. Wie alles staatliche Leben auch, ist die personale Bindung – hier zwischen Schüler und Lehrer – Gerüst und Garant des in keiner Weise formalisierten Lehrbetriebs.
Darf man einer auf uns überkommenen Bücherliste Karls und seinem Biografen Einhard trauen, zählte der König, wiewohl nicht schreib-, so doch durchaus lesekundig und vielseitig interessiert, zu den fleißigsten Schülern seiner Hofschule.
Als prägende Gestalt des geistigen Lebens am Hof überstrahlt Alkuin lange Zeit die Riege der in Aachen versammelten Lehrmeister. Der Angelsachse genießt das Vertrauen Karls und steigt zum maßgeblichen Berater des Königs in kirchlichen und wissenschaftlichen Fragen auf. Neben zahlreichen anderen literarischen Werken verfasst er Bücher zur Orthographie und Grammatik, zur Redekunst und Logik. Eines seiner zentralen Anliegen zielt darauf, die lateinische Sprache von zeitgenössischen Verderbungen zu reinigen (correctio).
Karl beauftragt den 782 an seinen Hof gekommenen Angelsachsen, eine sprachlich fehlerfreie, verbesserte Fassung der Heiligen Schrift zu erstellen. Diese sogenannte Alkuin-Bibel gilt als verbindliche Richtschnur für sämtliche Abschriften im Reichsgebiet. Zudem lässt Karl eine Sammlung vorbildlicher Predigten (Homiliensammlung des Paulus Diaconus) zusammentragen, die im gesamten Reichsgebiet nachgeahmt werden sollte. Korrigierte Lehrbücher zu den im Artes-Kanon gefassten wissenschaftlichen Disziplinen runden die Erneuerungsmaßnahmen ab. Um ihre Verbreitung zu sichern, sind die Mönche durch königlichen Befehl verpflichtet, diese Musterbücher sachlicher und sprachlicher Richtigkeit abzuschreiben. Wie der «Wissenschaftsbetrieb» der Zeit Karls des Großen organisiert war und welchen Anforderungen die Gelehrten am Hof und in den Klöstern gerecht werden mussten, zeigt u. a. der Historiker Arno Borst: «Was sie lernen sollten, ließ Karl [im Jahr 809] sogleich in einer siebenbändigen Enzyklopädie zusammentragen. Das Mammutwerk wurde sogar in den Bildungszentren des Reiches nur teilweise kopiert. Es aktualisierte die Verzeichnisse Bedas, das Martyrologium mit den liturgischen und komputistischen Daten des Kirchenjahres, die Tabellen der Mondzyklen und des Osterzyklus, die Chronik der Weltjahre bis ins derzeitige Jahr, das neunte von Karls Kaisertum, das 4761. der Schöpfung. Eine Sammlung komputistischer Regeln lehrte diese Listen und den beigefügten Jahreskalender zu benutzen. Hinzu kamen Texte antiker Autoren, Beschreibungen der Sternbilder nach Hyginus, der Planetenbahnen nach Plinius, der Vermessung von Erde, Sonne und Mond nach Macrobius und Martinanus Capella.»
Damit werden neben dem Königshof die Klosterschulen und ihre Bibliotheken – aller praktischen Vergröberungen des eigentlichen Planes zum Trotz – als regionale Multiplikatoren der Reformbestrebungen zu den maßgeblichen Zentren des karolingischen Bildungsideals.
Auf einen knappen Nenner gebracht, umfasst die «Karolingische Renaissance» eine dreiteilige Bildungsreform mit den Stoßrichtungen:
– Reform der lateinischen Sprache, reines Latein;
– Reform der Schrift (karolingische Minuskel: klare, einheitliche und gut lesbare Schrift als Grundlage der Wissensvermittlung);
– Reform der Bildung: Werke der Literatur, Theologie, Medizin, Astronomie etc. werden in gereinigten, sprachlich verbesserten Fassungen abgeschrieben und vor dem Verfall bewahrt, «Fehler sollen beseitigt und korrigiert, Überflüssiges soll getilgt und die Liebe zum Richtigen gefördert werden», heißt es in einer allgemeinen Grundsatzerklärung des Jahres 789.
Dabei ging es im Grunde stets darum, den Niedergang, die Verwilderung und Unsicherheit zu überwinden, indem man mit Hilfe aller erreichbaren Vorbilder Grundformen, Normen gewann, die ein korrektes Latein, eine klare einheitliche Schrift, eine durch Autoritäten gesicherte Bildung ermöglichten. Dabei wollte man jedoch so wenig etwas Neues, wie man das Alte um des Alten willen erstrebte; erst recht war nicht an eine Wiederherstellung der Antike gedacht. Das eigentliche Ziel war vielmehr das Richtige, Rechte in der Bildung: Norm und Autorität.
Fragen
1. Welche Bestrebungen Karls umfassen die Begriffe «Karolingische Renaissance» («renovatio imperii») und «Bildungsreform»; warum kann man von einer Erneuerung sprechen?
2. Welche Einrichtungen werden zur Zeit Karls des Großen die Bildungszentren des Reiches; wie versucht Karl, die Qualität der Bildung und das Maß des Wissens anzuheben?
3. Wie lässt sich die Aachener Hofschule charakterisieren, was unterscheidet sie von einer heutigen Schule?
4. Welche Bedeutung hat die lateinische Sprache für das Mittelalter? Welche Sprache hat heute ähnliche Bedeutung und warum?