Sonderthema
Egon Erwin Kisch: Audienz beim Katholikos der Armenier
Das Auto steht bereit, aber etwas am Kühler ist nicht in Ordnung, der Chauffeur macht sich daran zu schaffen.
Und der Himmel öffnete seine Schleusen, und es regnete vierzig Tage und vierzig Nächte, und die Arche Noahs stieg immer höher und höher.
Endlich rattert der Motor, es geht durch das Morgengetriebe von Eriwan, an Moschee und Festung und orientalischen Weingärten vorbei, über den Sangafluß, durch kahle Landschaft.
Und am siebzehnten Tage des siebenten Monats ließ sich die Arche nieder auf das Gebirge Ararat. Es regnet in Strömen, wir fahren zwischen Allahgoes, dem Gottesauge, und Ararat, dessen zwei spitzen Firne leuchten, als hätte niemals ein lebendiges Wesen sie betreten, und doch war von jedem Getier ein Pärchen da, ein Männlein und ein Fräulein, dieweil Noahs
Kasten oben landete. Ochsenfuhren kommen des Weges und Eselreiter und Kamelkarawanen und ein Wagen, dem ein Pferd vorgespannt ist; alle Tiere scheuen vor dem Automobil, sie haben so etwas noch nicht erlebt und wissen nicht, was das für eine Arche ist, die auf dem Lande fährt, oder vielleicht protestieren sie dagegen, daß eine Neuerung sich hier vollzieht, hier, angesichts des Ararat, von dem die Taube hinunterflatterte und mit einem Ölblatt zurückkehrte.
Es regnet noch immer, ganz gut könnten die Pfützen sich zu einer Sintflut auswachsen. Die Häuser am Wege, sie sahen vor fünftausend Jahren kaum anders aus: müde Lehmhütten, ein Loch ist das Tor, das horizontale Dach ist von Steinen beschwert, damit der Orkan nicht alles wegfege; nackte Kinder; altersgraue Eselchen, die lange suchen können, bis sie einen Grashalm finden, ein Schöpfbrunnen, an dem irgendeine Rebekka Kamele tränkt; hie und da der grüne Fleck eines Weingartens, eben noch fruchtbar genug, daß Noah sich dort betrinke und mit entblößter Scham umfalle. Daraufhin kam, wenn man recht berichtet ist, die große Wassernot; rechts am Straßenrand starrt eine Säule, möglicherweise ein armenisches Grabmal, weshalb aber nicht der salzige Rückstand von Frau Lot, die sich damals umgewendet hat? Das Auto watet vorbei, ohne sich umzuwenden. Ruinen alter Kirchen. Links vom Wege liegt ein ganzes Pompeji, schöner als das italienische, nicht nur, weil keine Reisegesellschaften samt Baedeker, Lorgnon und vorgeschriebenem Entzücken es durchstöbern, sondern auch, weil es voll ist von merkwürdigen Ornamenten, Kapitellen, Säulen, Podesten und Arkaden, weil es mehr ist als Pompeji: Pompeji und Forum Romanum zugleich, mit Resten alter Gerichtsstuben, Kerkerzellen und Richtstätten, mit Bädern und Kemenaten – wer weiß, aus welchem Jahrhundert des frühen Altertums die Unterlage stammt, wer weiß, ob Zuartnots ein Kloster war oder eine Zitadelle.
Der Regen besprengt das verfallene Gemäuer, glasiert es, wie alle andern Häuser, die das Auto mit Kot bespritzt, wie die Friedhöfe und quadratischen und runden Kirchenruinen mit ihren geborstenen oder vor tausend Jahren renovierten Kuppeln. Endlich ein Dorf, Wagarschapat, gleichfalls mit Lehmhütten, aber zwischen ihnen steht schon eine Baumwollfabrik, und auf einem einstöckigen Haus besagt die Tafel: Sowjet der Arbeiter und Bauern. Eine Karawane schaukelt im Gänsemarsch, an einem Gittertor hängen Photos als Reklame für ein Kino, wir fahren ein.
Das große Haus war einmal die geistliche Akademie, das Dschemaran der Armenier, und über der roten Kuppel ragte wohl ein Kreuz; der weltliche rote Stern mit fünf Zacken war jedenfalls vorher nicht da. In den weitläufigen Gebäuden, von denen die Kathedrale im Oblong umgeben ist, sind Museum und Priesterwohnungen untergebracht. Das ist der Vatikan der armenischen Kirche seit sechzehn Jahrhunderten, hier residiert seit sechzehn Jahrhunderten Seine Heiligkeit der Papst. Jetzt ist es Georg V., armenisch Geworg Hinkerort, mit seinem bürgerlichen Namen Surenian, der über die Millionen der armenischen Kirche als Katholikos regiert. Wir treten ein in den langen Audienzsaal, an dessen Längswänden Stühle stehen und oben ein prächtiger Thronsessel für den Statthalter Gottes auf Erden, auf armenischen Erden. Die Decke Stalaktitengewölbe, an den Wänden Gemälde, Gobelins und Holzschnitzereien, alle mit den Sujets der benachbarten Landschaft, die gleichzeitig ein religiöses Symbol ist: die beiden gezackten Eisdome des Ararat von einer Gloriole umleuchtet und vom Regen schräg gestrichelt; am Bergesgipfel ist mitten in den schiefen Linien ein Schiff vertäut, Noahs Arche; warum sollte ein Schiff bei ewigem Regen im ewigen Schnee nicht landen können, dreieckig strahlt ja das Auge Gottes herab. Intimer Audienzsaal für intime Empfänge; Gobelin mit dem Kloster Etschmiadsin, zwei Fahnen, die Stange der einen endigt als Kreuz, die andere als Inful. Aber für einen einzelnen Audienzwerber braucht man nicht einmal das kleine Empfangszimmer zu bemühen, er durchschreitet nur die offiziellen Säle; an dem Schlafzimmer vorbei, dessen Türe offen steht, so daß man sehen kann, Seine Heiligkeit benützt ein einfaches Messingbett, kommt man in ein Arbeitskabinett, in dem der Katholikos sitzt.
Georg V. ist ein rüstiger Greis von achtzig Jahren, Hüne von Gestalt, und sein Bart, der sich nach vorn wölbt, weist noch braune Fäden auf. Auf den Scheitel gedrückt: eine runde Kappe. Der Katholikos spricht keine europäische Sprache, aber der Erzbischof neben ihm, Dr. Garigin Howespian, hat an der Leipziger Universität seine archäologischen Studien beendet und dort das Doktorat gemacht; er übersetzt, geht über sein Amt als Dolmetsch hinaus, mit Wärme erklärt er und fügt aus eigenem hinzu, wenn der freundliche Papst Erläuterungen gegeben hat. Und schweift das Gespräch aus Altertum und Mittelalter. In die neueste Neuzeit, nicht in die des Weltkrieges, über den sich Georg V. auch vor dem fremden Besucher mit unverhohlener Erbitterung äußert, sondern in die bolschewistische Gegenwart, die eine gewisse Reserve erfordert, dann überläßt der Papst mit einem kurzen Blick seinem weniger verantwortlichen Erzbischof das Wort. Während der Unterhaltung fällt draußen der Regen noch immer herab, klatscht auf die Scheiben, trocken bleibt der Doppelgipfel des Ararat, und seine Weiße durchdringt, ein Naturspiel, die Nebelschwaden, unten aber trieft alles, die Kreuze und Kirchen und der rote Stern auf dem ehemaligen Seminar.
Zuerst gibt Georg V. dem Gast eine historische Lektion. Die armenische Kirche ist die älteste der Erde, wenn man dem Eusebius von Cäsarea glauben darf, standen bereits in der ersten Hälfte des dritten Jahrhunderts armenische Bischöfe mit dem alexandrinischen Bischof Dionysios in Korrespondenz. Die Organisation der Kirche ist am Ende des dritten und anfangs des vierten Jahrhunderts durch Gregorius Illuminator durchgeführt worden; hier vor dem Fenster, wo sich jetzt, vom Regen gepeitscht, die Kathedrale erhebt, ist dem heiligen Gregorius der Sohn Gottes erschienen – Etschmiadsin heißt: «Der Eingeborene ist herabgekommen!» – und hat ihn sozusagen zum ersten Katholikos gesalbt. Solches begab sich jedoch bloß das eine Mal. Seither wird das Oberhaupt der armenischen Kirche von der ganzen Nation gewählt, von den russischen, türkischen, persischen und nun auch von den armenischen Armeniern. Die Geistlichen werden von der Gemeinde, die Bischöfe von den Eparchien und Diözesen, und der Katholikos von den Vertretern aller armenischen Gläubigen aus der Türkei, aus Europa und aus Amerika gewählt, die je einen Geistlichen, den Bischof und einen Laienvertreter aus jeder der sechzig Eparchien zum Konzil entsenden. So ist auch der jetzige Katholikos zu seinem Amte gekommen, aber über seinen Nachfolger werden bereits weniger Wahlmänner abstimmen, denn Türkisch-Armenien existiert nicht mehr. Der fünfte Georg erzählt von dem unmenschlichen Leid, das die Armenier in der Türkei zu erdulden hatten, und da er merkt, wie wenig der Besucher darüber unterrichtet ist, wird er noch offener, ja: davon wußte man in Deutschland und Österreich nichts, man durfte nicht erfahren, daß der türkische Bundesgenosse einen Massenmord beging, wie ihn die Geschichte nicht kennt. Die türkischen Armenier wurden verfolgt, weil der Großteil ihrer Glaubensgenossen in «Feindesland» lebte. Sie wollten nach Mesopotamien auswandern, aber man drangsalierte sie unterwegs derart, daß Hunderttausende und aber Hunderttausende, Männer, Frauen und Kinder vor Hunger und Durst und Entkräftung gestorben sind. Der Rest wurde zu Tode gemartert oder, in Säcke genäht, ins Meer geworfen. Jetzt gibt es fast keinen Armenier mehr in der Türkei. Vor dem Kriege zählte die armenische Kirche insgesamt vier Millionen Seelen, jetzt nur drei, eine Million ist ermordet worden.
Der Katholikos von Etschmiadsin ist das Haupt der Kirche, in Beirut residiert noch ein zweiter Katholikos und in Konstantinopel und Jerusalem je ein Patriarch, aber sie unterwerfen sich in allen Fragen dem Heiligen Vater auf heiligem Boden, trotzdem jahrelang jeder Verkehr unterbunden gewesen ist. Seit zwei Jahren tauschen die kirchlichen Behörden des Auslands von neuem Briefe mit dem Heiligen Stuhl, fordern Gutachten ein und sein Urteil in kirchlichen Streitfragen, und das oberste Konzil «Geraguin Chorurt» kann wieder zusammentreten. In der Sowjetunion wirken acht Bischöfe, außerdem einer in Boston, zwei in Persien, einer in Paris, dem die Kirchen von London, Berlin und Wien unterstehen, je einer in Rumänien, Griechenland, Ägypten und Bulgarien.
Das Schrifttum der armenischen Kirche reicht bis zum Anfang des fünften Jahrhunderts zurück, es gibt nicht nur Übersetzungen der gesamten biblischen Literatur, die in den Urtexten erhalten ist, sondern auch solche, deren griechische oder syrische Niederschriften verlorengegangen sind. Armenische Pergamente von allgemein wissenschaftlicher und künstlerischer Bedeutung sind vorhanden, theologische, poetische und historische Werke, die sich vor allem auf Persien, Syrien, den Kaukasus, Kleinasien und Byzanz beziehen.
In der Sakralbaukunst existieren kaum ältere Denkmäler, als sie die Armenier aufzuweisen haben, Ruinen aus dem fünften, sechsten und siebenten Jahrhundert, in welcher Zeit die Kirche der Gregorianer ihre erste Blüte erlebte. Damals wurden auf basilikale Gebäude armenisch-iranische Kuppeln gestülpt, der eigentliche armenische Ekklesiastil geschaffen. Vom Ende des neunten bis zur Mitte des elften Jahrhunderts kommt während der Bagratidenherrschaft die zweite, und unter der Regierung der Sachariden die dritte große Epoche der Architektur. Ungemein entwickelt war auch die Miniaturmalerei und die Buchkunst. Unten im Museum sind Porträts der Fürsten, der Könige und der Heiligen und Szenen aus der Heiligen Schrift zu sehen, Gebetbücher, kostbare Evangeliare und Memoria aus dem zehnten Jahrhundert, mit reichgeschmückten geschnitzten Elfenbeineinbänden, goldenen und silbernen Initialen – Schätze in wissenschaftlicher Obhut, wie man sie hier an der Grenze Asiens kaum vermuten würde. Archiv und Museum sind gegenwärtig nicht mehr unter der Verwaltung des Heiligen Stuhles, sondern Staatseigentum.
Das Gespräch zwischen dem Katholikos, seinem Erzbischof und dem Besucher wendet sich jetzt von Altertum und Mittelalter der Neuzeit zu, und die kirchlichen Würdenträger sprechen über die Stellung der armenischen Kirche in Rußland. In der Zarenzeit wurde die armenische Kirche mit allen Machtmitteln unterdrückt. Von der Förderung, die die griechisch-katholische Kirche als Staatsreligion erfuhr, war natürlich für die armenische keine Rede. Aber darüber hinaus versuchte der Prokurator viele Schulen unter allerhand Vorwänden zu schließen, sämtliche religiösen Schriften mußten der Zensur vorgelegt werden, und der orthodoxe Zensor in Tiflis waltete orthodox seines Amtes. Es war schon in der kaiserlichen Ära ganz klar, wenn es auch nicht ausgesprochen werden durfte, daß die großen Pogrome, welche die Tataren in Baku, in Nachitschewan, in Tschutscha und in zahllosen Dörfern gegen die Armenier verübten, von der Regierung geduldet und von ihren Organen unterstützt wurden. Viele Armenier kamen hierbei ums Leben; als Fürst Golizin kaiserlicher Statthalter im Kaukasus war, nahmen diese inszenierten Ausschreitungen sehr überhand und wurden wiederholt zu regelrechten Massaker.
Seitdem die Bolschewiki die Herrschaft ausüben, besitzt die armenische Kirche kein Eigentum mehr außer einigen Weinbergen, etwa vierzig Desjatinen für die Landwirtschaft, und die Kirchengebäude und die Wohnungen der Geistlichen, obwohl auch hier Grund und Boden Eigentum des Staates sind. Während viele griechisch-katholische Kirchen im Kaukasus, wo sie von Staats wegen ohne besonderes Bedürfnis aufgebaut worden waren, von den Kommunisten geschlossen und andern Zwecken dienstbar gemacht sind, ist dieses Schicksal den armenischen Kirchen fast nirgends widerfahren. Allerdings haben wir dem Staat keinerlei Anlaß zum Einschreiten gegen uns gegeben. Wir haben von dem Augenblick an, da das kommunistische Regime platzgriff, uns positiv dazu gestellt und haben in unseren Kirchen in diesem Sinne gepredigt. Tatsächlich führte unsere loyale Haltung dazu, daß man uns im großen und ganzen ungeschoren läßt. Anfangs wurde die Kirche von Anhängern der antireligiösen Bewegung, den Besboschniki, verhöhnt; jetzt hat diese Art der Propaganda bei uns jeden Boden verloren. Schmerzlich ist nur, daß wir kein geistliches Seminar besitzen, aber wir erhielten bereits die Versicherung, die Regierung habe im Prinzip nichts dagegen, wenn wir eine geistliche Hochschule eröffnen, die wissenschaftlichen Zwecken dient. Das Recht, die Schuljugend zu erziehen, ist uns von den Sowjetgesetzen genommen worden, aber nach dem siebzehnten und achtzehnten Lebensjahr darf jeder lernen, was ihm beliebt, und es kann uns daher nicht verwehrt sein, Jünglinge dieses Alters, die die Mittelschule absolviert haben, in unsern Spezialschulen für den geistlichen Beruf vorzubereiten. Wenn man uns gestattet, unsere Kirche zu haben, so muß man uns selbstverständlich auch erlauben, Seelsorger für diese Kirche heranzubilden.
Dieses war das Gespräch im Vatikan von Etschmiadsin. Der Papst reicht dem Gast zum Abschied die Hand und entzieht sie ihm, bevor dieser den Versuch machen kann, sie – sich dem strengen Rituale unterwerfend – zu küssen. Wir passieren den Audienzsaal, an dessen Wänden man die gemalten Spitzen des Ararat von Regensträhnen schraffiert aus der Sintflut emporragen sieht, wir gehen über den Hof, den noch immer der wirkliche Regen peitscht, wir bestaunen die Schätze des Museums, die Pergamente des Archivs und die Wände der Bibliothek, wir treten wieder hinaus und steigen in das Auto, dieweil der Himmel die Landschaft übergießt, als wollte er sie ertränken. Der Besucher, im Fond des Wagens sitzend, notiert sich einiges von den Mitteilungen des armenischen Papstes und seines Erzbischofs, denn – denkt er wenn selbst die Sintflut kommt, das Interview ließe sich auch nachher verwerten – könnte die Arche des zwanzigsten Jahrhunderts nicht ein Automobil sein?
Entnommen: Egon Erwin Kisch: Zaren, Popen, Bolschewiken. Berlin 1927, S. 237–246
Der Text ist entnommen aus: http://www.avantart.com/armenia/kisch.html