Das liest man in Deutschland
Statt einer Biografie
Bärbel Reetz’ Roman «Die russische Patientin» stellt eine der «Gründerinnen der Psychoanalyse» vor
Nicht zu Unrecht ist Sigmund Freud als der Vater der Psychoanalyse bekannt. Nun weiß der sprichwörtliche Volksmund zwar spätestens seit Wilhelm Busch, dass es nicht schwer sei, Vater zu werden. Doch ohne dazugehörige Mutter kommt das künftige Kind kaum auf den Weg. Was also weiß man über die Mutter der Psychoanalyse? Herzlich wenig. Dabei kann die Disziplin sich doch nicht nur einer, sondern gar deren zwölf erfreuen. Zumindest, wenn man Inge Stephan folgt, die vor knapp anderthalb Dezennien ungefähr diese Anzahl von «Gründerinnen der Psychoanalyse» ausmachte und in einem Buch vorstellte. Eine dieser Frauen ist Sabina Spielrein.
Ihr hat Bärbel Reetz nun einen Roman gewidmet – einen dokumentarischen, wie man getrost hinzufügen darf. Als Begründerin der Psychoanalyse tritt sie bei Reetz allerdings nicht auf, sondern bleibt – entsprechend des Titels Die russische Patientin weithin auf die Rolle der hilfesuchenden Kranken festgelegt, die aber immerhin selbst zur Psychoanalytikerin avancierte. Darüber, was das – wie Eugen Bleuler Spielrein beschrieb – «Fräulein von gutem Ruf, hoher Intelligenz & großem wissenschaftlichen Interesse» an originären Gedanken zur Psychoanalyse beigesteuert hat, erfährt man allerdings so gut wie nichts.
In Reetz’ Buch wechseln sich «Spuren» betitelte Kapitel, in denen eine Ich-Erzählerin (die wohl mit der Autorin identifiziert werden darf) tagebuchförmig ihre Spurensuche und Recherchen in Sachen Sabina Spielrein beschreibt, mit romanhaften Kapiteln ab, die vom Leben Letzterer handeln. Neben gelegentlichen Ergebnissen besagter Spurensuche teilt die Ich-Erzählerin auch immer wieder Erinnerungen, Assoziationen und zufällige Informationen mit, die mit ihrer eigentlichen Suche oft nicht einmal am Rande zu tun haben und gelegentlich die Grenze zur Belanglosigkeit überschreiten.
Trotz exakter Orts- und Datumsangaben der Tagebucheinträge springen die Erinnerungsfragmente der Ich-Erzählerin immer wieder kunterbunt durch Orte und Zeiten, durch Kindheit, Erwachsenenleben, Alter und Tod Spielreins und auch schon einmal in die eigene Vergangenheit hinein. Dennoch verleitet ihr Stil dazu, diese Kapitel als Teile eines Sachbuchs zu lesen; und da hätte man dann allerlei zu monieren. Doch halt: Das Ganze ist ja als Roman ausgewiesen.
Bemerkenswert ist, dass die Ich-Erzählerin nicht vorgibt, Bescheid zu wissen, weder über die Details von Spielreins Leben, noch gar über deren geheimes Innenleben. «Habe schon so viel gelesen und bewege mich dennoch in Spielreins Leben unsicher wie auf glatter Bahn, immer bedroht zu fallen», räsoniert sie einmal. Und ein andermal bekennt sie, dass sie Spielreins Leben nicht so erzählt, wie es war, sondern wie sie es sich vorstellt: «Ich nähere mich Spielrein, aber erreiche sie nicht, setze mich in Beziehung zu ihr, auch wenn es vielleicht nicht ganz so, sondern nur so ähnlich war.» Derartiges steht einem dokumentarischen Roman gut an. Nicht immer glücklich wird man hingegen mit den immanenten Wertungen der Ich-Erzählerin. Sabina Spielrein, berichtet sie etwa, «spürt ihr Frausein. Sie sehnt sich nach dem Geliebten. Nach einem Kind.» Frausein, so wird insinuiert, drückt sich in der Sehnsucht nach Mann und Kind aus.
Trotz zahlreicher Informationen und Fakten aus Spielreins Leben schafft es Reetz in den «Spuren»-Kapiteln nie, «die russische Patientin» wirklich lebendig werden zu lassen. Das gelingt der Autorin dafür aber um so eindrücklicher auf der anderen, der auch stilistisch als Roman ausgewiesenen Ebene, deren Abschnitte einzelne von Spielreins Lebensphasen literarisieren. Zunächst Kindheit und Jugend in Russland, sodann ihre Patientenzeit bei Jung in der Schweizer Klinik «Burghölzli», dessen unglückliche Geliebte sie zugleich war und schließlich ihre hoffnungsfrohe und zugleich auch zweifelnde Rückkehr ins inzwischen bolschewistische Russland. Nach Rostow am Don, wo sie zunehmend desillusioniert ihre letzten Jahre verbringt.
Mit dem ersten dieser Abschnitte findet auch das vorangegangene «Spuren»-Kapitel seine Rechtfertigung. Ohne es würde man zu unvermittelt eingetaucht in dieses Leben einer Jugendlichen mit dem Hut von Marie Baschkirzew, die aufmüpfig Puschkins Verlangen nach Ruhm rezitiert, Solowjows Sinn der Liebe liest und Du Bois-Reymonds «berühmte Rede über die Grenzen der Naturerkenntnis». «Wenn es so um uns steht», wie darin behauptet, notiert Spielrein nach der Lektüre in ihr Tagebuch, sei das Leben «ein unwürdiger Prozeß», dem man ein Ende bereiten müsse.
Doch verfliegt der Zauber, den Reetz im Jugend-Kapitel über ihre Protagonistin zu legen versteht, mit Beginn des zweiten «Spuren»-Abschnitts, der langatmig und ermüdend einen kurzen Moskau-Besuch der Ich-Erzählerin beschreibt, angetreten, um auch dort den Spuren Spielreins zu folgen. Ein von der Ich-Erzählerin schnell vernachlässigtes und bald vergessenes Vorhaben. Auch diesen Abschnitt des Buches möchte man als Leser schnell vergessen.
Hat man durchgehalten (oder das Kapitel auch einfach überblättert), wird man mit dem nächsten Spielrein-Abschnitt belohnt, in dem die junge Russin als Patientin und unglücklich Liebende in Sachen Jung auftritt.
Interessante biografische Details zu Spielreins Studium sowie über die Trias Spielrein, Freud, Jung bietet vor allem der dritte «Spuren»-Abschnitt. Zwar sind diese der Forschung zu einem Großteil schon länger bekannt. Doch auch für das Gros der Spielrein-ExpertInnen dürfte neu sein, dass nach dem Beitritt der ehemaligen DDR zur Bundesrepublik in Berlin kurzfristig ein «Spielrein-Institut» residierte. Es war während der «Wirren der Wende» mit dem Ziel gegründet worden, ein Forum für den Austausch zwischen den PsychotherapeutInnen der beiden ehemaligen deutschen (Teil-)Staaten zu bieten. Nach einem «enthusiastischen Beginn» habe das Unternehmen allerdings «ein schnelles Ende» gefunden. Es sei eben «ein Frauenprojekt, von Emotionen begleitet», gewesen, erklärt die Autorin mit misogynem Zungenschlag sein nur kurzes Dasein.
Je weiter die Spurensuche der Ich-Erzählerin voranschreitet und sich das Buch seinem Ende nähert, um so deutlicher tritt ihre Identifizierung mit der Psychoanalytikerin hervor. Wenn Spielrein nach der Lektüre eines Briefes von Jung «Schuft» murmelt, «verdammter Schuft», dann murmeln Ich-Erzählerin und Autorin vernehmlich mit. Und sie alle haben guten Grund dazu. Doch bezieht sich das gemurmelte «Schuft» hier nur auf die emotionale Ausbeutung durch Jung, nicht auf die wissenschaftliche, wo es ebenso angebracht wäre.
Näher noch kommt die Ich-Erzählerin Spielrein während ihrer zweiten Russland-Reise, die sie nach Rostow am Don führt. Hier findet sie eine Spielrein gewidmete Gedenktafel, die Wohnung, in der diese mit ihrem Mann und den beiden Töchtern lebte und die nun zu einem Museum ausgebaut werden soll. Sie trifft Nina Pawlowna Snetkowa, «eine der wenigen, die sich noch an Sabina Spielrein erinnern». Und schließlich folgt sie ihrer «fremden Schwester» bis in die Schlangenschlucht vor den Toren der Stadt, wo 1942 der Todesmarsch von 20.000 Rostowern, unter ihnen 12.000 Menschen jüdischen Glaubens, im Kugelhagel deutscher Mörder in Uniformen endete.
Wie sich die Lebensläufe Spielreins und ihrer Schweizer Kommilitoninnen gleichen, sinniert die Ich-Erzählerin: «Jüdinnen, Polinnen, Russinnen, Ärztinnen, Analytikerinnen. Grenzgängerinnen von Land zu Land, Revolutionärinnen im Medizinischen wie Politischen. Sie lernten sich im Studium kennen, famulierten am ‹Burghölzli›, schrieben ihre Dissertationen bei Bleuler und Jung, wandten sich mit Enthusiasmus den neuen Heilmethoden in der Psychiatrie zu und wurden Opfer von Krieg und Verfolgung. Gingen ins Exil, wurden deportiert oder ermordet.»
Klappt man das Buch zu, hat man trotz der einen oder anderen Schwäche – darunter nicht zuletzt einige Moskauer Längen – ein gegen Ende ergreifendes Buch gelesen. Bei allem, was die Autorin an Informationen und Fakten zusammengetragen hat, wäre womöglich dennoch eine handfeste Biografie vorzuziehen gewesen. Aber vielleicht wollte Reetz mit der Wahl der Textsorte Roman dem Umstand Rechnung tragen, dass Biografien nun mal nicht handfest sein können – auch bei noch so akribischer Recherche nicht. Denn wie sie mit Freud weiß, ist die biografische Wahrheit «nicht zu haben», «und wenn man sie hätte, wäre sie nicht zu gebrauchen». Zumindest der erste Teil dieser Aussage trifft zu. Und der zweite? Das kann man nicht wissen. Denn dazu müsste man sie erst einmal haben.
Vielleicht aber firmiert das Buch auch nicht ganz so freiwillig als Roman, wie es scheint. Denn im Kleingedruckten der vorletzten Seite weist Reetz – wie sie unterstreicht, «auf Wunsch der Erbengemeinschaft
C. G. Jungs» – noch einmal daraufhin, «dass ‹die russische Patientin› ein Roman ist, dessen Thema zwar durch historische Fakten angeregt, im Übrigen aber durch die literarische Imagination der Autorin frei gestaltet wurde».
Von Rolf Löchel
Bärbel Reetz: Die russische Patientin. Roman. Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2006.
Der Text ist entnommen aus:
http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=10198&ausgabe=200612