Sonderthema
Die Sehnsucht der Veronika Voss (1982)
Die Sensationsstory um einen drogenabhängigen ehemaligen UFA-Star, der sich in einen unbedeutenden Sportreporter verliebt, lässt den Film nicht zum bloßen Kriminalfall werden, sondern entwickelt dank seiner überaus glaubwürdigen und sympathischen Schauspieler ein bestechend scharfes Negativbild von der vom Wirtschaftswunder träumenden Bundesrepublik. Gelegentliche kolportagemäßige und klischeehafte Momente werden mühelos durch eine stringente Handlung und stilsichere Inszenierung aufgewogen.
1955. Der ehemalige UFA-Star Veronika Voss wurde von einer Ärztin morphiumsüchtig gemacht. Ein Sportreporter und seine Freundin versuchen, der Ärztin eine Falle zu stellen. In der Nähe der Bavaria-Filmstudios in München-Geiselgasteig liest der Sportjournalist Krohn eine völlig verstörte Frau auf. Am nächsten Tag, als er ihr in einem teuren Café wiederbegegnet, leiht sich die Frau Geld von Krohn, der erfährt, dass seine Gläubigerin in alten Ufa-Zeiten ein gefeierter Filmstar war. Zwischen den beiden beginnt eine seltsame Beziehung. Krohns Interesse an der Frau ist mehr als bloßes Mitgefühl, mehr auch als rein journalistische Neugier.
Veronika Voss wohnt in der Praxis einer merkwürdigen Ärztin. Ihr neuer Freund kommt dahinter, dass die Schauspielerin drogenabhängig ist und von der Ärztin Morphium bekommt. Zusammen mit seiner Freundin Henriette beginnt der Sportjournalist, auf dem ihm unbekannten Terrain zu recherchieren. Offensichtlich weiß das Gesundheitsamt über den Rauschgifthandel der Ärztin, die sich an den abhängigen Patienten bereichert, Bescheid und greift dennoch nicht ein. Krohns Freundin fällt einem Mord zum Opfer; er ruft die Polizei zu Hilfe, kann aber nichts beweisen. Veronika Voss versucht ihr Comeback, mit einer kleinen Rolle, und scheitert. Die Ärztin versucht, Veronika aus dem Weg zu räumen, denn die Recherchen des Journalisten könnten vielleicht doch noch Beweise erbringen; für die Schauspielerin, die angeblich nach Hollywood geht, wird eine große Abschiedsparty veranstaltet. Dann sperrt die Ärztin ihr süchtiges Opfer ohne Morphium in ihr Zimmer ein. Verzweifelt nimmt sich Veronika Voss an einem Ostersonntag mit Schlaftabletten das Leben. Krohn kann nichts beweisen; er kehrt in seinen alten Tätigkeitsbereich zurück und geht zum nächsten Fußballspiel.
Die Sehnsucht der Veronika Voss wurde von Fassbinder als Teil einer Trilogie über die Bundesrepublik der 50er Jahre gedreht. Am Anfang dieser Trilogie steht Die Ehe der Maria Braun, am Ende der bereits vor Veronika Voss produzierte Film Lola.
Veronika Voss erzählt eine Gegengeschichte zu den Erfolgs-Stories der Heldinnen Maria Braun und Lola: Veronika Voss kann sich nicht im Wiederaufbau integrieren und hängt, anstatt sich anzupassen, mit ihren Träumen der Vergangenheit nach – und die Erinnerungen sind es, die sich als unüberwindliches Hindernis vor den Erfolg in der Gegenwart stellen. So flüchtet sie in die Jahre ihrer Karriere bei der von den Nationalsozialisten gelenkten Produktionsfirma Ufa im Kino des Dritten Reichs. «Ufa» ist ein Schlüsselwort zu Die Sehnsucht der Veronika Voss. Ein zweites Schlüsselwort ist «Treblinka», das Konzentrationslager. So taucht in dem Film ein alter Antiquitätenhändler auf, ein überlebendes KZ-Opfer, das ebenfalls mit seinen Erinnerungen nicht zurechtkommt und von Morphium abhängig ist. Er begeht, zusammen mit seiner Frau, Selbstmord, als ihm die Ärztin weiteres Morphium verweigert.
Den Begünstigten des einstigen Systems, die sich nicht anpassen können, was für sie spricht (wie Veronika), und den Opfern, die so zerstört sind, dass sie unfähig sind, weiterzuleben, setzt Fassbinder ein Denkmal. Sein Hass gilt dem neuen Machtkartell, das der Gesellschaft die Drogen liefert, die sie (tatsächlich oder vermeintlich) braucht, der Journalist (der Detektiv dieses Films), der das demokratische System verkörpert, hat gegen das Komplott keine Chance.
Wilhelm Roth
Der Text ist entnommen aus:
http://www.deutsches-filmhaus.de/filme_einzeln/f_einzeln/fassbinder/fassbinder_q_s/sehnsucht_der_veronika_voss_die.htm