Das liest man in Deutschland
Meisterwerke mit kleinen Mängeln
Duden und Wahrig kämpfen mit der Rechtschreibreform
Duden und Wahrig bleiben auch in den neuesten, 2006 publizierten Ausgaben ihrer Rechtschreibwörterbücher der Tradition ihrer Häuser verpflichtet. Bekanntlich war es Konrad Duden, der mit seinem Schulwörterbuch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Rechtschreibkorrektur mit großem Erfolg zu erleichtern versuchte, indem er die ursprünglich recht liberalen Regelungen der Orthografischen Konferenz von 1901 mehr und mehr vereinheitlichte, sodass der Spielraum des durchschnittlichen Schreibenden verengt, die Korrekturarbeit des Lehrers hingegen erleichtert wurde.
Als in der Mitte der 1950er Jahre das Bertelsmann-Wörterbuch erschien und eine Rückkehr zu den ursprünglichen, liberaleren Amtlichen Regelungen von 1901 wenigstens teilweise zu realisieren versuchte, kam es aufgrund der professionellen Lobbyarbeit des Duden-Verlages 1955 zu jener folgenschweren Duden-Empfehlung der Kultusministerkonferenz, in deren Folge der Duden eine quasi-amtliche Stellung als «offizielles» Standardwerk erhielt.
Die langfristig vielleicht folgenreichste Konsequenz der am 2. März 2006 von der Kultusministerkonferenz und am 30. März 2006 von den Ministerpräsidenten der Länder gebilligten Rechtschreibreform könnte darin zu sehen sein, dass dieses Duden-Monopol gebrochen wurde und dass der von Bertelsmann und Cornelsen ins Rennen geschickte Wahrig neuerdings gleichberechtigt neben dem Duden steht.
Die Unterschiede zwischen beiden Werken sind sehr beträchtlich. Zwar drucken beide die Amtliche Regelung vollständig ab, doch sowohl im Duden als auch im Wahrig findet sich eine Fülle ergänzender Erklärungen, Bestimmungen und Einzelempfehlungen, die mal offen und mal verdeckt als Abweichungen vom Amtlichen Text daherkommen. Anhand einiger Beispiele sei dies veranschaulicht.
Auf der Ebene der Einzelwortschreibung fallen zunächst zahlreiche Differenzen auf, die sich nicht zuletzt darauf zurückführen lassen, dass die Amtliche Wörterliste ja nach wie vor sehr kurz und undetailliert ist, sodass viel Spielraum für ergänzende Regelungen bleibt. So schreibt beispielsweise der Wahrig «Azetylsalicylsäure» und akzeptiert neben «Kathmandu» auch «Katmandu», während der Duden «Azetylsalizylsäure» mit zweifachem «z» und «Kathmandu» nur mit «th» schreibt. Das Wort «Syrer» kann im Wahrig überhaupt nicht, das Wort «Ketsch-up» nur nach dem «sch» und «Zio-nist» nur nach dem «o» getrennt werden. Der Duden trennt hingegen «Ket-sch-up», «Sy-rer» und «Zi-o-nist», ohne dass im Hinblick auf die Auslegungsbedürftigkeit des hierbei relevanten § 113 der Amtlichen Regelungen der Variante eines der beiden Wörterbücher der Vorzug zu geben wäre.
Ärgerlich für alle Korrigierenden ist es nur, dass im Prinzip sowohl im Duden als auch im Wahrig (und ggf. noch weiteren Wörterbüchern) nachgeschlagen werden muss, wenn man die Richtigkeit einer Schreibung oder Trennung rechtsverbindlich – etwa bei der Korrektur von Abiturklausuren oder Examensarbeiten – überprüfen möchte. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch der Hinweis, dass die im Duden gelb unterlegten (und in der Verlagswerbung als großer Vorteil angepriesenen) Empfehlungen keinerlei Verbindlichkeit besitzen und ausdrücklich vom Rechtschreibrat zurückgewiesen wurden. Der Wahrig gibt in Zweifelsfällen, wenn also zwei verschiedene Schreibungen möglich sind, seltener konkrete Empfehlungen, begründet sie dann aber oft detaillierter und nachvollziehbarer.
Auf der Ebene der Regelinterpretation und -erklärung kann den beiden Wörterbüchern naturgemäß nicht angelastet werden, was in den Amtlichen Regelungen selbst an Unvollkommenheiten zu finden ist. Wie allerdings diese Regelungen ausgelegt werden, bedarf durchaus genauerer Beobachtung. So unterliegt insbesondere der § 34 der Amtlichen Regelungen, der die Getrennt- und Zusammenschreibung von Verben mit Partikeln, Adjektiven, Substantiven oder Verben als Verbzusätzen regeln soll, einerseits im Duden unter den Kennziffern 47 bis 56 und andererseits im Wahrig unter den Regeln 14 bis 20 sehr unterschiedlichen Interpretationen, wobei keine der gefundenen Lösungen, weder die in den Amtlichen Regelungen noch die im Duden oder die im Wahrig, als transparent und praxisfreundlich bezeichnet werden kann. Man vergleiche nur die unübersichtlichen Erklärungen unter «kalt» und «kaltstellen / kalt stellen», um die Problematik dieser Sachverhalte nachzuvollziehen.
Als weiteres problematisches Beispiel für eine divergierende Auslegung sei hier § 97 der Amtlichen Regelungen genannt, worin es heißt: «Von dem Apostroph als Auslassungszeichen zu unterscheiden ist der gelegentliche Gebrauch dieses Zeichens zur Verdeutlichung der Grundform eines Personennamens vor der Genitivendung -s oder vor dem Adjektivsuffix -sch: Carlo’s Taverne, Einstein’sche Relativitätstheorie.» Im Duden heißt es dazu unter K 16: «Nicht als Auslassungszeichen, sondern zur Verdeutlichung der Grundform eines Personennamens wird der Apostroph gelegentlich in folgenden Fällen gebraucht: a) Vor der Adjektivendung -sch. b) Vor dem Genitiv-s.» Als Beispiel hierzu nennt der Duden «Andrea’s Blumenecke (zur Unterscheidung vom männlichen Vornamen Andreas)». Wäre hier eine Unterscheidung vom italienischen männlichen Vornamen Andrea ins Spiel gebracht worden, hätte sich dies vielleicht noch nachvollziehen lassen. Der Verweis auf «Andreas» verfängt jedoch nicht, da ja hier nach wie vor «Andreas’ Blumenecke» zu schreiben wäre, was hinsichtlich der «Verdeutlichung der Grundform des Personennamens» nicht an Klarheit zu wünschen lässt. Im Wahrig findet sich unter R 57 die noch liberalere Wendung: «Man kann den Apostroph auch verwenden, wenn die Grundform eines Namens unverständlich zu werden droht.» Zur Illustration wird noch ergänzt: «Carlo’s Taverne (die Taverne des Carlo – aber: Carlos’ Taverne = die Taverne des Carlos)». Ob allerdings jemand, der fälschlich den Ausdruck «Carlos Taverne» im Sinne von «Taverne des Carlos» oder die Bezeichnung «Andreas Blumenecke» als Ausdruck für «Blumenecke des Andreas» interpretiert, durch den (lediglich verschobenen) Apostroph zu höherer Einsicht gelangt, darf wohl stark bezweifelt werden. Eher gewinnt man den Eindruck, dass ein in der parole heimisch gewordener orthografischer Anglizismus, gegen den vom rein linguistischen Standpunkt aus wenig einzuwenden wäre, eingeführt werden soll, ohne dass man im Rechtschreibrat, in der Duden- oder in der Wahrig-Redaktion den Mut hatte, dies offen einzugestehen.
Trotz dieser Mängel, denen sich noch ähnliche anfügen ließen, können beide Wörterbücher jedoch insgesamt als kleine Meisterwerke bezeichnet werden, in denen eine beeindruckende Fülle an orthografischem und grammatikalischem Wissen in für die meisten Nutzer akzeptabler Weise aufbereitet wurde. Dass im Hinblick auf die Auswahl der Einträge manchmal der Eindruck entsteht, man habe jeweils dem Konkurrenten ein Lemma «wegschnappen» und die Definitionshoheit über eine Schreibung an sich ziehen wollen, ist so kurios wie unvermeidlich. So kennt nur der Duden die «Bikinilinie» und nur der Wahrig die «Bikinifigur». Nur im Duden finden sich ferner die «Bodenvase», die «K-Frage» und der Ausruf «Mannomann», während nur der Wahrig mit «anstupsen», «futschikato» und «Passiflora» aufwartet. Wer einmal alle Einträge zu einem bestimmten Buchstaben in beiden Wörterbüchern genau miteinander vergleicht, wird jedenfalls auf zahlreiche Unterschiede stoßen und nicht selten ins Schmunzeln geraten. Vielleicht ist das nicht das Schlechteste, was sich über zwei dickleibige Rechtschreibwörterbücher sagen lässt ...
Von Jost Schneider
Die deutsche Rechtschreibung Wahrig. Cornelsen Verlag, Berlin 2006.
Duden. Die deutsche Rechtschreibung. Das umfassende Standardwerk auf der Grundlage der neuen Amtlichen Regeln. Herausgegeben von der Dudenredaktion. Bibliographisches Institut, Mannheim 2006.
Der Text ist entnommen aus:
http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=10261&ausgabe=200701