Literatur
Werner Kofler: Konkurrenz
Niemand hatte mich beobachtet oder gar erkannt. Der anhaltend heftige, stürmische Regen kam mir zu meinem Vorhaben gerade recht; wer nur auf sein Weiterkommen im Sturm bedacht sein muß, achtet nicht auf Einzelheiten. Außerdem hatte ich den Mantelkragen hochgestellt und den Hut in die Stirn gezogen; den Schirm hielt ich schräg vor mich hin, gegen die Windrichtung, daß auch mein Gesicht niemand hätte sehen können. Der Autobus war weitergefahren, außer ihr war niemand ausgestiegen. Bevor sie sich, nach kurzem Zögern, entschloß, über die Straße zum von der Haltestelle etwas entfernten Brücken-Wirtshaus zu gehen, war ich rasch hinter dem Wartehäuschen hervor und neben sie getreten, mit der einen Hand den Schirm so haltend, daß wir beide dahinter verschwanden, mit der anderen ihren Unterarm fest umschließend. Einen Augenblick zu Tode erschrocken, dann nur noch erstaunt hatte sie gesagt: Du? Und, wieder gefaßt, spöttisch: Und ich bin ohne Zeugen, nicht einmal ein Auto fährt vorbei, das ich schreiend aufhalten könnte! Bitte, sagte ich, eine letzte Aussprache, und zog sie mit Bestimmtheit in einen Feldweg, der zum Wald führte, laß uns dorthin gehen, unter die Bäume, ins Trockene ... In den Wald, höhnte sie, oho, du willst es doch nicht etwa mit mir treiben? So einen tollen Hecht hätte ich also immer noch zum Mann? Oder was hätten wir sonst am Waldrand zu tun? Ihre herausfordernde Furchtlosigkeit überraschte mich; war ich wieder in eine Falle getappt, hatte sie etwa eine Waffe bei sich oder Zeugen postiert im Wald, da sie so widerstandslos, ja bereitwillig mit mir ging, würden Bäume und Sträucher etwa plötzlich sich bewegen und sich als Tarnung zu erkennen geben?
Unter den ersten, den Regen einigermaßen abhaltenden Bäumen angekommen, entzog sie sich meinem Griff, riß, wie mir in meiner Verblüffung schien, mit einer einzigen raschen Bewegung ihren Regenmantel auf... Bitte, sagte ich, laß uns den Prozeß beenden, laß uns ein Einvernehmen herstellen und die Gütergemeinschaften auflösen; es klang flehentlicher, als ich es gemeint hatte. Laß uns ein Einvernehmen herstellen, machte sie mich nach und warf verächtlich den Kopf zurück, und für diese unwürdige Vorstellung lockt er mich hierher, spioniert er mir nach, lauert mir auf, der steirische Wischbaumtangler! Wenn er am Verlieren ist, will er mir Angebote machen, er ist und bleibt der Hausmeistersohn!, rief sie und suchte mit den Augen die Bäume ab, als sollten diese meine Lächerlichkeit bestätigen. Nein, Zadrazil, ich werde mich nicht anders besinnen, niemals, erst wenn du –
Dann werde ich es mir anders überlegen, sagte ich leise, holte aus und gab ihr eine Ohrfeige, so heftig, daß es sie von den Beinen riß und sie rücklings ins Unterholz fiel. Schon war ich über ihr, drückte sie zu Boden –- wie war ich überrascht von meiner plötzlichen Kraft! – und preßte eine Hand auf ihren zum Schrei geöffneten Mund. Die Überraschung, daß ich es wagte, bewirkte einen unsagbar törichten Ausdruck ihrer Augen. Ich verpaßte ihr einen Jagdhieb gegen die linke Schläfe, der Old Shatterhand Ehre gemacht hätte. (Old Shatterhand! Seit meiner Kinderzeit hatte ich nicht mehr an seinen Jagdhieb gedacht, und ausgerechnet in dieser Situation, in Sekundenbruchteilen, fiel mir diese bewährte Schlagtechnik wieder ein, mehr noch, ich vollführte sie!) Überhaupt, wie leicht, wie von selbst alles ging, mir von der Hand ging! So, rief ich, und meine Hände hielten ihren Hals umspannt, daß kein Entkommen möglich war, er ist und bleibt ein Hausmeistersohn, der steirische Wischbaumtangler? Dann wollen wir ihn tüchtig rangeln, den Wischbaum! Hier, das ist für den Hausmeistersohn – damit schlug ich sie mit dem puppenhaft willenlosen Kopf gegen einen Felsbrocken – und das für den Zadrazil, lustig war das, nicht wahr, und das – meine Hände arbeiteten ununterbrochen – für den Herrn Doktor, den Ziegenficker Leibnitz, und das für die Scheidungsklage, und das – zehn Hände schienen mir gewachsen zu sein – für den Niedergang meiner Agentur, für deinen so listigen vertragsbrüchigen Vater, für – ich sprang auf und riß auch sie in die Höhe – das Herrenhaus samt Ländereien in Zell, für Zell! Damit schleuderte ich sie wie eine Puppe weit ins Gestrüpp, die blöde Gans.
Plötzlich war sie wieder auf den Beinen. Sieh nur, was du angerichtet hast, rief sie, die Frisur ist zerstört, die Kleider in Unordnung! Außerdem hast du mich erwürgt und erschlagen, und, in deiner grenzenlosen Bosheit, ohne Zeugen! Aber es wird sich zweifelsfrei nachweisen lassen, zweifach ermordet, man denke, erwürgt und erschlagen. Jetzt bist du ruiniert, zweifach ruiniert, zerstört und kaputtgemacht! Einem auflauern, einen erwürgen und erschlagen, auf was für Gedanken der Mann kommt! Verloren hast du!
Nein, schrie ich, nein und nochmals nein! Das könnte dir so passen, gerade jetzt! Nein!
Natürlich paßt es mir! Ein doppelter Erfolg! Erwürgt und er- ...
Nein! Ich stampfte mehrmals mit dem Fuß auf und stieß gegen Holz; war denn der Waldboden aus Holz? Noch einmal stieß ich gegen das Holz, das Holz des Bettgestells, dann schlug ich die Augen auf und war wach.
Geträumt! Gegen die Fensterläden trommelte immer noch der Regen. Nein, es war nicht passiert, nichts war passiert, erwürgt und erschlagen, unglaublich. Das wäre ihr gelegen gekommen. Mit offenen Augen lag ich da, immer noch vom Traum benommen und nur langsam mich beruhigend; das Herz arbeitete mühsam, ich atmete schwer und doch erleichtert. Wo hatte ich so etwas schon gelesen, in welchem Kriminalroman, daß der Mann an der Bushaltestelle lauert und die Frau um eine letzte Aussprache bittet? Bei Simenon, bei Hans Possendorf? Und was war ein Wischbaumtangler, die anderen Beschimpfungen hatte sie oft genug gebraucht, aber ein steirischer Wischbaumtangler? Merkwürdiger Traum.
Merkwürdiger Traum. Allerdings, damals, als ich ihre Scheidungsklage zum ersten Mal in der Hand hielt, zerschlagen noch von einem bis spät in die Nacht ausgedehnten Arbeitsessen mit Geschäftsfreunden am Vorabend, ich erinnere mich genau, damals hätte ich sie tatsächlich aus Haß erschlagen können, nicht weil sie mich verlassen wollte, sondern weil sie sich anschickte, mir den eigenen Grund und Boden unter den Füßen wegzuziehen. Nie hätte ich gedacht, daß es einmal so kommen würde, als ich, nach Durchsicht meiner Bücher, der Geschäfts- und Auftragsbücher meiner Werbeagentur – eine erschreckende Lektüre! –, im Katasteramt und bei Bekannten unter Vorwänden ihre Vermögensverhältnisse erkundete. Je öfter ich das Schriftstück – Klage, verbunden mit dem Antrag auf Abstandnahme vom Sühneversuch wegen völliger Aussichtslosigkeit – durchging, desto mehr kam ich zur Einsicht, daß ich sie unterschätzt hatte.
(Fortsetzung folgt)
an|hal|tend <Adj.>: unaufhörlich, ununterbrochen, permanent, ausdauernd: -er Regen; a. husten, lachen.
be|dacht <Adj.> [mhd. bedaht, adj. 2.ÿPart. von: bedenken, bedenken]: 1. besonnen, überlegt, umsichtig: b. handeln, vorgehen; 2. in der Verbindung auf etw. b. sein (auf etw. besonderen Wert legen, etw. sehr wichtig nehmen; auf etw. genau achten): er war immer auf seinen guten Ruf b.
Fal|le, die; -, -n: 1. in unterschiedlicher Weise konstruierte Vorrichtung zum Fangen von Tieren: die F. schnappt zu, schlägt zu; -n stellen; eine F. aufstellen; ein Tier in, mit der F. fangen; der Fuchs ist in die F. gegangen; Ü dieses Angebot ist nur eine [plumpe] F.; jmdm. eine F. stellen (jmdn. mit einer List überraschen, hereinlegen wollen); jmdn. in eine F. locken (durch eine List überraschen, hereinlegen); wir sitzen in der F. (wissen keinen Ausweg aus dieser Lage); er ist in eine F. geraten; er ist der Polizei in die F. gegangen (ist von ihr durch eine List dingfest gemacht worden). 2. (salopp) Bett: in die F. gehen. 3. a) (der durch Niederdrücken der Türklinke bewegte) Riegel am Türschloss; b) (schweiz.) Türklinke.
be|sin|nen <st.ÿV.; hat> [mhd. besinnenÿ= nachdenken, refl.ÿ= sich bewusst werden]: 1. <b.ÿ+ sich> nachdenken, überlegen: sich kurz, eine Weile b.; ich habe mich anders besonnen (meine Meinung geändert); sie hat sich endlich besonnen (ist zur Vernunft gekommen); er musste sich erst einmal b.; <subst.:> nach kurzem/ohne langes Besinnen. 2. <b.ÿ+ sich> a) sich an jmdn., etw. erinnern: ich kann mich nicht mehr auf sie, auf ihren Namen b.; sie besann sich dessen wieder; jetzt besinne ich mich wieder (jetzt fällt es mir wieder ein); wenn ich mich recht [darauf] besinne, war er schon einmal hier; b) sich bewusst werden: sie besann sich endlich auf sich selbst; (geh.:) wir besannen uns der Würde des Ortes; (geh.:) endlich besann sie sich ihrer Situation. 3. bedenken, über etw. nachsinnen: er besann sich der Märchen, die ihm die Großmutter erzählt hatte; ich hatte einiges zu b.
ge|le|gen [2: mhd. gelegen, ahd. gelegan, urspr.ÿ= angrenzend, benachbart, dann = verwandt u. passend, geeignet]: 1. liegen. 2. <Adj.> in einem günstigen Augenblick [geschehend, eintretend]; zu jmds. Absichten passend: zu -er Stunde; dein Besuch ist, kommt mir sehr g.
be|nom|men <Adj.> [zu: benehmen (2), eigtl. = dem Bewusstsein entzogen]: durch eine bestimmte [äußere] Einwirkung auf die Sinne wie leicht betäubt, in seiner Reaktionsfähigkeit eingeschränkt: ein -es Gefühl; er war durch den Sturz ganz b.; sich [wie] b. erheben.
an|schi|cken, sich <sw.ÿV.; hat> (geh.): sich bereitmachen, im Begriff sein, etw. zu tun: sich a. zu gehen; sich zum Gehen a.
Ka|tas|ter|amt, das: amtliche Stelle, die die Register über alle Grundstücke eines bestimmten Bezirks führt.
Werner Kofler
(* 23. Juli 1947 in Villach, Kärnten) ist ein österreichischer Schriftsteller.
Werner Kofler ist der Sohn eines Kaufmanns. Eine Ausbildung zum Lehrer an der Lehrerbildungsanstalt in Klagenfurt brach er nach vier Jahren ab und ging auf Reisen. Anschließend übte er verschiedene Tätigkeiten aus. Ab 1963 ist er literarisch tätig; seit 1968 lebt er als freier Schriftsteller in Wien.
Werner Kofler verlegte sich nach frühen ausgesprochen poetischen Werken in der Hauptsache auf Prosawerke, in denen er die Techniken der Collage und Montage als Mittel der Sprach- und Gesellschaftskritik einsetzt. Inzwischen ist der Autor vor allem wegen seiner an Thomas Bernhard erinnernden Beschimpfungen bekannt, die sich häufig gegen den von Kofler vehement abgelehnten Realismus österreichischer Schriftstellerkollegen richten.
Werner Kofler erhielt u. a. folgende Auszeichnungen: 1976 den Theodor-Körner-Preis, 1980 den Förderpreis der Stadt Wien, 1983 den Prix Futura Berlin, 1990 den Österreichischen Würdigungspreis für Literatur, 1991 den Großen Preis der Stadt Wien, 1996 das Arno-Schmidt-Stipendium sowie 2001 den Peter-Rosegger-Literaturpreis.
Werke: Analo (1973), Örtliche Verhältnisse (1973), Guggile (1975), Aus der Wildnis (1980), Konkurrenz (1984), Amok und Harmonie (1985), Am Schreibtisch (1988), Hotel Mordschein (1989), Der Hirt auf dem Felsen (1991), Herbst, Freiheit (1994), Dopo Bernhard (1996), Üble Nachrede. Furcht und Unruhe (1997), Manker (1999), Zerstörung der Schneiderpuppe (1999), Mutmaßungen über die Königin der Nacht (2000), Tanzcafé Treblinka (2001), Kalte Herberge (2004).
Aus: Werner Kofler: Konkurrenz. Roman. Medusa-Verlag, Wien, Berlin 1984. S. 5–12.