Sonderthema
«Mit Worten ein Einsehen lernen»
Über Ingeborg Bachmann
Vorwort
«Wenn aber nun die Schreibenden den Mut hätten, sich für utopische Existenzen zu erklären, dann brauchten sie nicht mehr jenes Land, jenes zweifelhafte Utopia anzunehmen – etwas, das man Kultur, Nation und so weiter zu benennen pflegt...» Die Idee des unbedingten Künstlertums, die Utopie der Liebe und einer nicht entfremdeten Sprache: diese Elemente prägen Leben und Werk von Ingeborg Bachmann. Inwieweit halten solche Ideale einer Prüfung durch Realität stand? Der Beitrag «Mit Worten ein Einsehen lernen» skizziert Entwicklungslinien und folgt den Spuren eines unruhigen Lebens: von den schriftstellerischen Anfängen bis zum Brandunfall in Rom. Dabei kommt die Dichterin selbst ausführlich zu Wort, v. a. mit ihren Gedichten und poetologischen Reden.
Die gestundete Zeit
Es kommen härtere Tage.
Die auf Widerruf gestundete Zeit
wird sichtbar am Horizont.
Bald musst du den Schuh schnüren
und die Hunde zurückjagen in
die Marschhöfe.
Denn die Eingeweide der Fische
sind kalt geworden im Wind.
Ärmlich brennt das Licht der Lupinen.
Dein Blick spurt im Nebel:
die auf Widerruf gestundete Zeit
wird sichtbar am Horizont.
Drüben versinkt dir die Geliebte im Sand,
er steigt um ihr wehendes Haar,
er fällt ihr ins Wort,
er befiehlt ihr zu schweigen,
er findet sie sterblich
und willig dem Abschied
nach jeder Umarmung.
Sieh dich nicht um.
Schnür deinen Schuh.
Jag die Hunde zurück.
Wirf die Fische ins Meer.
Lösch die Lupinen!
Es kommen härtere Tage.
Die Stimme von Ingeborg Bachmann. Im Frühjahr 1953 erhält die unbekannte junge Dichterin den Preis der Gruppe 47, im gleichen Jahr erscheint ihr erster Gedichtband Die gestundete Zeit. Ingeborg Bachmann, geboren im Juni 1926 im österreichischen Klagenfurt, ist zu diesem Zeitpunkt 26 Jahre alt. Sie hat Philosophie studiert und über Martin Heidegger promoviert. Der Preis ist sehr angesehen und gibt ihr den Mut, ein Leben als freie Schriftstellerin zu wagen. Innerhalb weniger Jahre wird sie nun zu einer der ersten lyrischen Stimmen im Westdeutschland der Nachkriegszeit.
Alle Tage
Der Krieg wird nicht mehr erklärt,
sondern fortgesetzt. Das Unerhörte
ist alltäglich geworden. Der Held
bleibt den Kämpfen fern. Der
Schwache
ist in die Feuerzonen gerückt.
Die Uniform des Tages ist die Geduld,
die Auszeichnung der armselige Stern
der Hoffnung über dem Herzen.
Er wird verliehen,
wenn nichts mehr geschieht,
wenn das Trommelfeuer verstummt,
wenn der Feind unsichtbar geworden ist
und der Schatten ewiger Rüstung
den Himmel bedeckt.
Er wird verliehen
für die Flucht von den Fahnen,
für die Tapferkeit vor dem Freund,
für den Verrat unwürdiger Geheimnisse
und die Nichtachtung
jeglichen Befehls.
Nachkriegszeit, verdrängte Schuld, Bedrohung durch den Kalten Krieg. Ingeborg Bachmanns Gedichte können politisch gelesen werden, aber nicht nur. Dass eine Geliebte im Sand versinkt, erinnert an surrealistische Bilder. Dass das Licht der Lupinen «ärmlich brennt» und schließlich ganz zu löschen ist, auf diese Idee hätte auch der junge Rilke kommen können. Und auch das spielt eine Rolle: Die junge Dichtergeneration der Nachkriegszeit hat versäumte Stile und Formen, unter anderem die von den Nazis verbotene expressionistische Lyrik, nachzuholen. Das Ganze vor dem Hintergrund, dass überlieferte Bilder von Schönheit und Natur verloren, entwertet, kontaminiert sind.
Theodor Adorno hat dies zugespitzt formuliert mit seinem Satz, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, sei barbarisch. Wie also kann der lyrische Intellekt mit der jüngsten Vergangenheit, mit diesem so gewalttätigen Jahrhundert ins Reine kommen?
Ingeborg Bachmann versucht keine Flucht in die Bilder, – hofft aber doch auf die Widerständigkeit und Vitalität der Sprache. «...ich glaube auch, dass man die alten Bilder, wie sie etwa Mörike verwendet hat oder Goethe, nicht mehr verwenden kann, nicht mehr verwenden darf, weil sie sich in unserem Mund unwahr ausnehmen würden. Wir müssen wahre Sätze finden, die unserer eigenen Bewusstseinslage und dieser veränderten Welt entsprechen», sagt sie 1956 in einem Interview.
In diesem Jahr erscheint ihr zweiter Gedichtband Anrufung des Großen Bären. Anrufung eines Sternbilds also. Es ist eine emphatische Suche, ein hoher und unbedingter Anspruch. Solche Texte können nicht auf sicherem Boden stehen. Und so zeigen die wenigen Filmdokumente, die es von ihren Auftritten gibt, eine scheue und introvertierte Dichterin: Sie bewegt sich unsicher, macht lange Sprechpausen, der Blick irrt umher, es entsteht der Eindruck großer Zerbrechlichkeit.
Dem steht entgegen die Festigkeit und Unbeirrbarkeit einer Person, die zielgenau handelt und sich im damals gerade entstehenden Literaturbetrieb gut positioniert. Die scheinbar Schwache ist imstande, ihr Leben bedingungslos zu poetisieren und in den Dienst der Literatur zu stellen. Während die meisten von Italien nur träumen, nimmt sie ab 1953 Quartier in Rom: Mehrmals in Renaissancepalästen, «denkbar bescheiden», wie sie sagt, in den ehemaligen Wacheräumen dieser Paläste. Das trifft sich gut, denn für eine wie sie besteht Dichten weniger in Handlung oder Geschichtenerzählen, sondern Dichten heißt Wachen, Ausharren, Konzentration. Gerne stellt sie sich eine Eule zur Seite, die Eule der Minerva, Nachttier und Nachtflieger, Symbol der Weisheit und Vernunft.
Auf der Tagseite ist sie eine poeta docta, eine gelehrte Dichterin, die sich gerade in der Frühzeit mit Essays zu philosophischen und ästhetischen Themen zu Wort meldet und deren Werk wichtige Berührungspunkte mit der Sprachphilosophie Ludwig Wittgensteins aufweist. Gleichzeitig mit den Gedichten und Essays veröffentlicht Ingeborg Bachmann Hörspiele: Ein Geschäft mit Träumen, Die Zikaden und Der gute Gott von Manhattan. Vor allem im letzteren kommt ein wichtiges Motiv zur Sprache: die Utopie der Liebe, die einen Wirbel erzeugt «wie vor dem ersten Schöpfungstag», das Subversive, die «Gegenzeit» und Sprengkraft der Liebe, neben der gesellschaftliche Realität unwichtig wird.
1959, ein Jahr nach der Erstsendung erhält sie für dieses Stück den begehrten Hörspielpreis der Kriegsblinden und hält bei der Verleihung eine Rede, die für Person und Werk der Ingeborg Bachmann von zentraler Bedeutung ist: «Wie der Schriftsteller die anderen zur Wahrheit zu ermutigen versucht durch Darstellung, so ermutigen ihn die anderen, wenn sie ihm, durch Lob und Tadel, zu verstehen geben, dass sie die Wahrheit von ihm fordern und in den Stand kommen wollen, wo ihnen die Augen aufgehen. Die Wahrheit nämlich ist dem Menschen zumutbar. Wer, wenn nicht diejenigen unter ihnen, die ein schweres Los getroffen hat, könnte besser bezeugen, dass unsere Kraft weiter reicht als unser Unglück, dass man, um vieles beraubt, sich zu erheben weiß, dass man enttäuscht, und das heißt, ohne Täuschung, zu leben vermag.
Ich glaube, dass dem Menschen eine Art des Stolzes erlaubt ist – der Stolz dessen, der in der Dunkelheit der Welt nicht aufgibt und nicht aufhört, nach dem Rechten zu sehen.»
Gerade für die Jahre um 1960 müsste man nicht eine Skizze der Bachmann versuchen, sondern viele verschiedene, um dieses Leben in seiner Komplexität ein wenig zu fassen.
Eine Skizze, in der die Dichterin räumlich geortet wird, mit ihren häufig wechselnden Wohnsitzen zwischen Rom, München, Zürich und wieder Rom, Reisen in die USA, nach Paris. Eine Skizze, in der man sich ihr über ihre Freundschaften nähert: mit Paul Celan, den sie bei einer Tagung der Gruppe 47 kennenlernte, die etwa vier Jahre dauernde Beziehung zu Max Frisch, die Künstlerfreundschaft mit dem Komponisten Hans Werner Henze, für den sie mehrere Libretti schreibt. Und man kann sich über ihre poetologischen Schriften nähern.
Im Wintersemester 1959 ist sie die erste Gastdozentin auf dem in Frankfurt (am Main) neu eingerichteten Poetiklehrstuhl. Literatur als Utopie ist der Titel einer ihrer Vorlesungen: «Wenn aber nun die Schreibenden den Mut hätten, sich für utopische Existenzen zu erklären, dann brauchten sie nicht mehr jenes Land, jenes zweifelhafte Utopia anzunehmen – etwas, das man Kultur, Nation und so weiter zu benennen pflegt, und in dem sie sich bisher ihren Platz erkämpften. Aber war er je so natürlich? War nicht in diesem Utopia der Kultur zum Glück ein viel reineres Element von Utopie enthalten als Richtung, die einschlagbar bleiben wird, wenn unsere Kultur ihr Gesicht nicht einmal mehr an hohen Feiertagen wahren wird, wenn die Dichtung nicht mehr ‹als geistiger Raum einer Nation› zu denken ist – heute im Grund schon eine Unmöglichkeit –, sondern aus dem Hier-und-Jetzt-Exil zurückwirken muss in den ungeistigen Raum unserer traurigen Länder. Denn dies bleibt doch: sich anstrengen müssen mit der schlechten Sprache, die wir vorfinden, auf diese eine Sprache hin, die noch nie regiert hat, die aber unsere Ahnungen regiert.»
Von Schriftstellern heißt es oft, dass sie sich ihr Leben lang an den für sie prägenden Themen abarbeiten, zwar sich verschiedener Masken und Mittel bedienend, aber lösen können sie sich nicht. Ingeborg Bachmann wendet sich nun der Prosa zu, 1961 erscheint ein Band mit sieben Erzählungen. Und auch hier entsteht der Eindruck, dass sie ihre zentralen Anliegen und Inhalte nur in einer anderen Gattung formuliert hat. Auch ihr Stil ist weiterhin von Musikalität und lyrischem Gestus getragen. In der Titelgeschichte Das dreißigste Jahr macht ein Mann, kurz vor seinem dreißigsten Geburtstag, Bestandsaufnahme von Vergangenheit und Möglichkeiten seiner Zukunft. In der Erzählung Alles macht ein Vater den verzweifelten Versuch, seinen Sohn vor der «Falle» der Gesellschaft und der Dressur durch Sprache zu schützen. In Undine geht verkörpert die Frau Undine das reine, ekstatische, sich verausgabende Lebensprinzip, mit der Konsequenz, dass sie schließlich sprachlos im Wasser versinken muss. Geschichten, die von einer alltäglichen Situation ausgehen und dann rasch kippen ins Extrem, in die Exzentrik.
Collage Alles/Undine geht: «... diese Altäre, auf denen ich blindlings geopfert hatte, aber nicht gewillt war, mein Kind opfern zu lassen. Wie kam mein Kind dazu? Es hatte die Welt nicht eingerichtet, hatte ihre Beschädigungen nicht verursacht. Warum sollte es sich darin einrichten! Ich schrie das Einwohneramt und die Schulen und die Kasernen an: Gebt ihm eine Chance! Gebt meinem Kind, eh es verdirbt, eine einzige Chance. Ich wütete gegen mich, weil ich meinen Sohn in diese Welt gezwungen hatte und nichts zu seiner Befreiung tat.
Ihr Menschen! Ihr Ungeheuer!
Ihr Ungeheuer mit Namen Hans! ...»
In diesen Jahren liefert sie, die immer so großen Wert auf Diskretion legte, Stoff für Klatsch im Literaturbetrieb: die erste Nacht mit Max Frisch, ihr glanzvoller Auftritt beim Wohnungsmakler in Rom, in der gemeinsamen Wohnung dann die Unerträglichkeit des Klapperns der Schreibmaschine des anderen. Hans Werner Henze erinnert sich: «Hörte er ihre Maschine klappern, musste er aufhören zu arbeiten. Er wusste, dass dort drüben, wo es klapperte, Qualität in Arbeit war, Überlegenheit ... Und wenn Ingeborg den Max tippen hörte – er war besonders fleißig, bekanntlich –, ging sie ins Café Greco oder unter die Haube des Friseurs, wo sie stundenlang Illustrierte las.»
Aus der öffentlichkeitsscheuen Dichterin ist eine öffentliche literarische Figur geworden. Besonders kränkend wird für sie, dass sie in der weiblichen Protagonistin von Frischs Gantenbein-Roman deutliche Züge von sich selbst erkennen muss. – Nach der Trennung von Max Frisch im Jahr 1962 fällt sie in eine schwere Krise, die mehrwöchige Klinik- und Kuraufenthalte erforderlich macht. In dieser Zeit, so berichten Weggefährten, beginnt ihre Alkohol- und Tablettenabhängigkeit, von der sie nicht mehr loskommen wird. Sie ist erschöpft, aber zur Ruhe kommt sie nicht. Und sie schreibt, mit einer Unbedingtheit, die sie von sich und vom Künstlertum fordert. Aber sie schreibt anders als in der Zeit ihrer Unversehrtheit. Im Vordergrund steht nun die Frage nach den allgegenwärtigen Herrschafts- und Machtstrukturen. Denn die Gewalt kann ja nach dem Ende der Diktatur nicht einfach aus der Welt verschwunden sein, sie hat sich nur verlagert – hinein in die scheinbar intakten gesellschaftlichen Verhältnisse.
«Ich habe ein Einsehn gelernt
mit den Worten,
die da sind
(für die unterste Klasse)
Hunger
Schande
Tränen
und
Finsternis.»
heißt es in dem Gedicht Keine Delikatessen, mit dem sie sich von der Lyrik verabschiedet. Es erscheint 1968 in dem von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen «Kursbuch» und endet mit dem Satz: «Mein Teil, es soll verloren gehen.» Die Frau als Verlorene, als die Schwächere, die Frau als Opfer? Ingeborg Bachmann wendet sich ganz der Prosa zu, in der nun nicht mehr Musikalität, Form und Klang des einzelnen Satzes wichtig ist, sondern Geschichten versucht werden: weibliche Lebensentwürfe zwischen Leistung, Konkurrenz, Rückzug und Verweigerung. Und auch: die weibliche Welt der Wünsche und Sehnsüchte, im Gegensatz zur männlichen Realität, Selbsterhaltung und kühlen Handlungsfähigkeit. Das wird besonders deutlich im Roman Malina, der 1971 erscheint. Eine Art Versuchsanordnung, «Zeit Heute. Ort Wien», wie bei einem Theaterstück wird die Konstellation zu Beginn vorgestellt: Zwischen der Ich-Erzählerin, ihrer erdachten, idealisierten Beziehung zu dem Ungarn Ivan, der in der benachbarten Ungargasse lebt, und der realen Beziehung zu dem Militärhistoriker Malina, Staatsbeamter der Klasse A im Österreichischen Heeresmuseum. Die Ich-Erzählerin schwankt nicht nur zwischen den beiden Männern, und sie schwankt auch zwischen den gegensätzlichen Lebensprinzipien: «...ich brauche mein Doppelleben, mein Ivanleben und mein Malinafeld, ich kann nicht sein, wo Ivan nicht ist, aber ebensowenig kann ich heimkommen, wenn Malina nicht da ist.»
Todesarten, so heißt das große Projekt, dessen ersten Teil Malina bildet. Es ist angelegt als Zyklus, in dem die Autorin, nach dem Vorbild der großen französischen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, die Gebräuche einer Zeit durch eine Reihe von Porträts sichtbar machen will. Es sind weibliche Todesarten in den Produktionsabläufen des Mannes, eine Art private und berufliche Kolonialisierung der Frau. Nur zwei Teile daraus, Malina und der Erzählungsband Simultan, erscheinen zu Ingeborg Bachmanns Lebzeiten. «Ein Einsehen lernen mit den Worten», das meint also auch den Erfahrungs- und Erkenntniszuwachs, eine Zunahme an Kränkung und Bitterkeit, den Übergang von der lebensuchenden Lyrik hin zur todzentrierten Prosa.
«Die Gesellschaft ist der allergrößte Mordschauplatz. In der leichtesten Art sind in ihr seit jeher die Keime zu den unglaublichsten Verbrechen gelegt worden, die den Gerichten dieser Welt für immer unbekannt bleiben. Ich habe über Gebühr gelebt, darum habe ich alle diese Friedensspiele, so geben sie sich nämlich aus, als wären es keine Kriegsspiele, in ihrer ganzen Ungeheuerlichkeit zu spüren bekommen. Die weltweit weltbekannten, auch die stadtbekannten Verbrechen erscheinen mir daneben so einfach, brutal, geheimnislos, sie sind etwas für die Massenpsychologen, für die Psychiater, die sie auch nicht eindämmen werden, sie geben den allzu Fleißigen und Kundigen nur plumpe Rätsel auf, ihrer grandiosen Primitivität wegen.»
Das ist nun ein neuer Ton bei ihr, ein harter Gegenschlag. Der weibliche Gegenentwurf, die herbeigewünschte «Poesie der Geschlechter» scheint unmöglich oder zumindest vertagt. Die Tötungsarten bleiben den Gerichten verborgen, denn die Menschen ermorden einander ja nicht tätlich, sondern gehen subtiler vor. So stellt auch die Ich-Erzählerin in Malina fest: «..., dass alle abwarten, sie tun nichts weiter, tun nichts Besonderes, sie drücken den anderen die Schlafmittel in die Hand, das Rasiermesser, sie sorgen dafür, dass man kopflos an einem Felsenweg spazierengeht, dass man in einem fahrenden Zug betrunken die Tür aufmacht. Wenn man lange genug wartet, kommt ein Zusammenbruch, es kommt ein langes oder ein kurzes Ende.»
«Man stirbt ja auch nicht wirklich an Krankheiten. Man stirbt an dem, was mit einem angerichtet wird», sagt sie in diesem Zusammenhang 1971 in einem Interview. Und spricht, wieder, von dem seltenen Genie der Liebe: «das erwirbt man sich nicht, deshalb hat es etwas Verbrennendes.»
In der Nacht vom 25. auf den 26. September 1973 erleidet Ingeborg Bachmann einen schweren Brandunfall. Offensichtlich ist sie mit einer glühenden Zigarette eingeschlafen, der Stoff hat Feuer gefangen. Fast die Hälfte der Haut ist verbrannt, teilt das Krankenhaus in Rom mit. Sie wird operiert, 15 Freunde spenden Blut. Drei Wochen lang ringt Ingeborg Bachmann mit dem Tod, am 17. Oktober stirbt sie.
Wenige Wochen zuvor hat sie der ORF-Mitarbeiterin Gerda Haller ein Interview gegeben. Dass es zu einem Vermächtnis werden sollte, konnte damals niemand wissen: «Man hat mich schon manchmal gefragt, warum ich einen Gedanken habe oder eine Vorstellung von einem utopischen Land, einer utopischen Welt, in der alles gut sein wird und in der wir alle gut sein werden. Darauf zu antworten, wenn man dauernd konfrontiert wird mit der Abscheulichkeit dieses Alltags, kann ein Paradox sein. Was wir haben, ist nichts, reich ist man, wenn man etwas hat, das mehr ist als alle materiellen Dinge. Und ich glaube nicht an diesen Materialismus, an diese Massengesellschaft, an diesen Kapitalismus, an diese Ungeheuerlichkeit, die hier stattfindet, an diese Bereicherung der Leute, die kein Recht haben, sich an uns zu bereichern. Ich glaube wirklich an etwas und das nenne ich ‹Ein Tag wird kommen›. Und eines Tages wird es kommen, ja, wahrscheinlich wird es nicht kommen, denn man hat es uns ja immer zerstört. Seit so vielen tausend Jahren hat man es immer zerstört. Es wird nicht kommen, und trotzdem glaube ich daran, denn wenn ich nicht daran glauben kann, kann ich auch nicht mehr schreiben.»
Autorin: Christine Pitzke
Redaktion: Petra Herrmann
© Bayerischer Rundfunk
Zitate aus: Ingeborg Bachmann: Werke. Piper Verlag, München 1993. Bd. 1. S. 37, 46, 172 f.; Bd. 2. S. 147+253; Bd. 3 (Malina). S. 222, 276, 284; Bd. 4. S. 270, 277.
Wir müssen wahre Sätze finden. Piper Verlag, München 1983, S. 19.
Ein Tag wird kommen. Gespräche in Rom. Verlag Jung und Jung, Salzburg 2004. S. 55f.
Henze, Hans Werner: Reiselieder mit böhmischen Quinten. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 1996. S. 236.
Glossar
Auschwitz
Polnische Stadt an der Weichsel. 1940 wurde hier von den Nationalsozialisten ein Konzentrationslager errichtet und ab 1941 zum Vernichtungslager ausgebaut. In den Einzellagern (darunter Birkenau) des rund 40 Quadratkilometer großen KZ-Bereichs starben bis November 1944 über 1 Mio. Menschen, vor allem Juden aus europäischen Ländern sowie Sinti und Roma und Polen, durch Giftgas. Das Konzentrationslager wurde 1979 zum Weltkulturerbe erklärt.
Expressionismus
Stilrichtung in bildender Kunst, Literatur und Musik, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts (um 1905/06) durchsetzte. Sie ist gekennzeichnet durch die Abkehr von der objektiven Weltdarstellung zugunsten einer subjektiven Ausdruckssteigerung der bildkünstlerischen und sprachlichen Mittel. Der Expressionismus kann als Reaktion auf Naturalismus und Impressionismus gedeutet werden. Die Erfahrung des 1. Weltkriegs gab ihm eine politisch-soziale Zielrichtung.
Großer Bär
Lat. Ursa major. Sternbild des nördlichen Himmels, ein Teil davon wird auch Himmelswagen genannt.
Gruppe 47
Kreis von Schriftstellern und Kritikern, der sich von 1947 bis 1967 unter Leitung von Hans Werner Richter zu gegenseitiger Kritik und Förderung zusammenfand, ohne dabei ein festes Kunstprogramm zu formulieren. Zu den Mitgliedern der Gruppe gehörten u. a. I. Aichinger, A. Andersch, I. Bachmann, H. Böll, G. Eich, H. M. Enzensberger, G. Grass, W. Hildesheimer, W. Höllerer, W. Jens, U. Johnson, K. Krolow, M. Reich-Ranicki, W. Weyrauch.
Klagenfurt
Hauptstadt des österreichischen Landes Kärnten (derzeit ca. 91 000 Einwohner). Es ist an der Glan gelegen, östlich des Wörther Sees, hat (seit 1970) eine Universität für Bildungswissenschaften.
Minerva
Alt-italische, später römische Göttin, deren Heimat vermutlich im Süden Etruriens liegt. Sie ist seit dem 3. Jahrhundert v. Chr. der griechischen Athene gleichgesetzt und als solche die Göttin der Weisheit, der Ärzte und Dichter, der Künstler und Handwerker.
Surrealismus
Stilrichtung der modernen Literatur und bildenden Kunst. Sie ist von der Tiefenpsychologie angeregt, wurde 1917 von G. Apollinaire erstmals so benannt und (1924 und 1930) von A. Breton in den «Surrealistischen Manifesten» programmatisch ausformuliert. Im Zentrum steht die Freilegung und Nutzung der Kräfte des Unbewussten und die Hinwendung zur Traum-, Symbol-, Märchen- und Mythenwelt. Logik und die rational arbeitende Psychologie treten dabei in den Hintergrund, ebenso die gewöhnlichen Dimensionen von Raum und Zeit.
Undine
Von Lateinisch unda («die Welle»). Weiblicher Wassergeist. Nach der Beschreibung des Paracelsus (16. Jh.) ein Elementarwesen, das erst dann eine Seele erhält, wenn es sich mit einem Menschen vermählt. Die Figur diente als Stoff zur Märchennovelle von F. Fouqué (1811), außerdem zu Opern u.a. von E.T.A. Hoffmann (1816), A. Lortzing (1845) und H. W. Henze (1958).
Utopia
Von Griechisch ou topos («kein Ort»). Schilderung eines erdachten idealen und nirgends realisierten Gesellschaftszustandes. Häufige Merkmale von Utopien sind Gleichheit bis hin zur Uniformität, Glaube an die Erziehung, Kollektivismus, prophetischer Anspruch sowie die Vorstellung der Harmonie als perfekten Zustands. Namengebend wurde Th. Morus’ Roman Utopia (1516). Nach antiken und mittelalterlichen Vorformen (z. B. bei Platon und Joachim von Fiore) entstanden die ersten eigentlichen Utopienschriften in der Zeit der Renaissance. Neben Morus’ Werk gelten v. a. Th. Campanellas Sonnenstaat (1602) und F. Bacons Nova Atlantis (1627) als prägende Werke. Im 17. und 18. Jahrhundert entstand v. a. in England und Frankreich eine umfassende utopische Literatur. In der deutschsprachigen Literatur zeigt J. G. Schnabels Insel Felsenburg (1731–1743) wichtige Tendenzen der utopischen Literatur auf. In der christlichen Religion zählt die Erwartung des «Reiches Gottes» nicht zu den Utopien, sehr wohl aber ein Leben in Einklang mit den Evangelien. Als Umsetzung einer politisch-soziologischen Utopie gilt die klassenlose Gesellschaft nach K. Marx und F. Engels.
Personen
Adorno, Theodor Wiesengrund (1903–1969)
Deutscher Philosoph, Soziologe, Musiktheoretiker und Komponist. Sein Denken ist geprägt durch das Musikleben Wiens (A. Berg, A. Schönberg) und die Philosophie von G. Lukács, W. Benjamin und E. Bloch. 1934 emigrierte Adorno nach Oxford, 1938 in die USA, wo er durch Vermittlung M. Horkheimers dem aus Frankfurt nach New York verlegten Institut für Sozialforschung beitrat. 1949 kehrte er nach Frankfurt zurück und war dort von 1950 bis 1969 Professor für Sozialphilosophie, seit 1959 Direktor des Instituts für Sozialforschung.
Celan, Paul (1920–1970)
Eigentlich P. Antschel, auch Anczel. Deutsch-jüdischer Lyriker. Er lebte, nach Flucht und Vertreibung, seit 1948 als Sprachlehrer und Übersetzer (u. a. W. Shakespeare, O. Mandelstam, A. Rimbaud, P. Valéry) in Paris. Seine Gedichte sind von biblischen, chassidischen und Ghetto-Erinnerungen geprägt, von Symbolismus und Surrealismus beinflusst, oft in magisch-assoziativer Metaphernsprache geschrieben.
Enzensberger, Hans Magnus (* 1929)
Deutscher Schriftsteller. Er war von 1965 bis 1979 Herausgeber der Zeitschrift «Kursbuch», von 1980 bis 1982 Mitherausgeber der Zeitschrift «Transatlantik», von 1985 bis 2005 Mitherausgeber der «Anderen Bibliothek» im Eichborn Verlag. Er verfasste zeitkritische und sprachvirtuose Gedichte und Essays, Aufsätze, Dramen und Prosawerke: u. a. Verteidigung der Wölfe (1957), Die Furie des Verschwindens (1980), Die Geschichte der Wolken (2003). In seinem wichtigen Drama vom Untergang der Titanic (1978) entgleitet der Fortschritt zur apokalyptischen Vision. Enzensberger erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u. a. den Georg-Büchner-Preis (1963).
Frisch, Max (1911–1991)
Schweizerischer Schriftsteller, bis 1954 auch als Architekt tätig. 1940 veröffentlichte er seine Erfahrungen im Militärdienst (Blätter aus dem Brotsack). Zwischen 1945 und 1953 verfasste er sechs Dramen, die die aktuelle Nachkriegssituation teils direkt zur Sprache bringen, teils parabelhaft thematisieren: u. a. Nun singen sie wieder (1946), Die chinesische Mauer (1947), Graf Öderland (1951). In Dramaturgie und politisch-moralischer Fragestellung war er von B. Brechts epischem Theater beeinflusst. Sein zunächst als Hörspiel geschriebenes Stück Biedermann und die Brandstifter brachte ihm seinen ersten großen Bühnenerfolg. Mit dem Roman Stiller (1954) gelang ihm der Durchbruch auf dem literarischen Markt, es folgten Homo faber (1957), Mein Name sei Gantenbein (1964) und Tagebuchveröffentlichungen. Mit dem Stück Andorra (1961) gelang ihm ein internationaler Theatererfolg. 1958 erhielt er den Georg-Büchner-Preis.
Heidegger, Martin (1889–1976)
Deutscher Philosoph. Er war von 1923 bis 1928 Professor in Marburg, von 1928 bis 1945 in Freiburg im Breisgau, Schüler und Nachfolger E. Husserls, dessen Phänomenologie Heidegger in seinem Hauptwerk Sein und Zeit (1927) unter Aufnahme von Gedanken W. Diltheys und S. Kierkegaards zur Existenzialontologie umbildete. Wegen seiner zeitweilig pro-nationalsozialistischen Haltung (Rektoratsrede von 1933) ist er politisch nicht unumstritten.
Henze, Hans Werner (* 1926)
Deutscher Komponist, Dirigent und Regisseur. Er befasste sich zunächst mit der Zwölftontechnik, die er aber unorthodox handhabte, und gab dann Klang und Melodie den Vorrang. 1953 übersiedelte er nach Italien, 1961 übernahm er eine Professur für Komposition am Salzburger Mozarteum, von 1980 bis 1995 lehrte er an der Musikhochschule in Köln. Sein umfangreiches Werk besteht aus den Opern, Orchesterkompositionen, Sinfonien, Solokonzerten und Kammermusik. Er verfasste u. a. Arbeitstagebücher und die Autobiografie Reiselieder mit böhmischen Quinten (1996).
Rilke, Rainer (René) Maria (1875–1926)
Österreichischer Dichter (geboren in Prag) und Übersetzer. Er führte ein ruheloses Wanderleben, mit Studium in Prag, München, Wien, Berlin, es folgten 1899 und 1900 Russlandreisen (mit L. Andreas-Salomé, Besuch bei L. N. Tolstoi), 1901 in Worpswede die Heirat mit der Bildhauerin C. Westhoff (1902 Trennung). Von 1905 bis 1914 lebte er in Paris (Sekretär bei A. Rodin), machte viele Reisen, besonders in die Mittelmeerländer (1911/12 als Gast der Fürstin Marie von Thurn und Taxis auf Schloss Duino bei Triest). Ab 1921 lebte er in der Schweiz (Turmschloss von Muzot). Sein Werk ist geprägt vom überfeinerten Geist des fin de siècle, religiös-ekstatischem Aufschwung, aber auch asketisch-strenger Arbeit. Zu seinen Hauptwerken zählen: Leben und Lieder (1894), Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910) und die Duineser Elegien (1923).
Wittgenstein, Ludwig Joseph Johann (1889–1951)
Österreichischer Philosoph. Er war von 1939 bis 1947 Professor in Cambridge und gilt als ein Hauptvertreter der modernen Logik. Die Gesamtheit der elementaren logischen Aussagen ist nach Wittgenstein das Bild der Welt. Diese Lehre, formuliert im Tractatus logico-philosophicus (1921) wurde wichtig u. a. für den Wiener Kreis. Später gab Wittgenstein diese Lehre z. T. auf und entwickelte unter dem Einfluss G. E. Moores eine Philosophie der Sprachkritik, und aus dieser eine neue Theorie der Mathematik und Psychologie. Zu seinen Hauptwerken zählen: Philosophische Untersuchungen (1953), Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik (1956) und Philosophische Bemerkungen (1964).
Der Text ist entnommen aus:
http://www.br-online.de/wissen-bildung/collegeradio/medien/deutsch/bachmann/