Главная страница «Первого сентября»Главная страница журнала «Немецкий язык»Содержание №12/2007

Das liest man in Deutschland

Das bisschen Glück

Ulrike Edschmids Roman über «Die Liebhaber meiner Mutter»

Mütter stehen wieder hoch im Kurs, zumindest literarisch. Die Vorteile dieser Stoffwahl liegen auf der Hand: Wer das Leben der eigenen Mutter erzählt, hat nicht nur die Dignität1 der Wirklichkeit auf seiner Seite. Er kann Zeit- mit Familiengeschichte vereinigen und oft nebenbei ein Stück Autobiografie vorlegen. Ulrike Edschmid erzählt von einer (ihrer?) Mutter und ihren «Liebhabern» im Nachkriegsdeutschland.

Die Berliner Autorin ist auf Geschichten von Frauen abonniert2. Sie schrieb über die Frauen schreibender Männer und unter dem Titel Frau mit Waffe. Zwei Geschichten aus terroristischen Zeiten über Astrid Proll und Katharina de Fries, danach über die Zeichnerin Erna Pinner. In ihrem neuen Roman stimmen die Lebensdaten der sich an ihre Kindheit und Jugend erinnernden Ich-Erzählerin mit denen der Autorin überein: Beide sind 1940 in Berlin geboren und in der Rhön aufgewachsen. Dort, auf einer abgelegenen Burg, hat die Mutter der Erzählerin, die wie die meisten Figuren des Romans namenlos bleibt, gegen Kriegsende mit ihren Kindern Zuflucht gefunden, zusammen mit anderen entwurzelten und geflohenen Menschen.

Das nach der Auflösung der gesellschaftlichen Ordnung erwartbare Chaos bleibt an diesem Ort aus. Verglichen etwa mit dem Horrorszenario aus dem Tagebuch der Berliner Anonyma ist das Leben der Familie, der äußeren Not zum Trotz, die reinste Idylle. Für die Kinder, deren Vater gefallen ist, bietet die Burg einen romantischen Spielplatz, für die Mutter einen Schutzraum, von dem aus sie die neu gewonnene Freiheit nutzen kann. «Alles, so schien es, wäre in diesen Augenblicken möglich gewesen. Für das Neue aber, das meine Mutter empfand, gab es keine Übereinkunft, keine Geschichte, an die sie sich hätte halten, nichts, woraus Bilder von Zukunft hätten aufsteigen können. Ein freies Feld, in dem sie sich nicht zurechtfand, überschattet von Trauer.»

Bemerkenswert an dieser Frau, die sich und ihre Familie mühsam von Webarbeiten ernährt, ist, wie lange sie sich die neue Unbestimmtheit ihres Lebens zu bewahren weiß. Wen immer die Mutter in der Folge kennenlernt: «Sie bestimmte, wann die Zeit um war.» Immer wieder tauchen Männer auf, mit denen sie Beziehungen oder auch nur Freundschaften eingeht, die ihr und den Kindern eine Zukunft bieten wollen. Männer, für die die Bezeichnung «Liebhaber» ebenso reißerisch wie euphemistisch ist. Denn was der Krieg übrig ließ, sind keine Helden, sondern gebrochene Naturen: wie der verängstigte, schwermütige Flötist, der Schmetterlinge sammelnde Hausarzt oder der einsam tanzende Wunderheiler. Dass sie alle den Willen der Mutter akzeptieren, ist ebenso ungewöhnlich wie die Tatsache, dass es kaum zu ernsteren Konflikten zwischen ihnen und den Kindern kommt.

Fast scheint es, als wollten sich die Überlebenden nach all der Gewalt nur noch Gutes tun und hätten gar gelernt, fremde Leben zu respektieren. «Meine Mutter folgte einem Ziel, das noch keine Gestalt angenommen hatte», heißt es in Edschmids behutsam-stiller Prosa, «sie ließ sich davon leiten, ohne zu wissen, wohin sie unterwegs war, und sie hielt daran fest mit einer Hoffnung ohne Grund.» Beeindruckend ist diese Eigenwilligkeit, die sich nach all der Zeit des dem Schicksal Ausgeliefertseins das bisschen Glück und Selbstständigkeit nicht mehr aus den Händen nehmen lassen will. Später, Mitte der Fünfzigerjahre, beginnt die Mutter sogar noch einmal ein Studium, nimmt abgerissene Fäden aus der Vorkriegszeit wieder auf. In dieser Phase ohne «Liebhaber» setzt sie sich auch mit ihrem Leben in der NS-Zeit auseinander, als sie, die nie an Politik interessiert war, oft zu Hause auf ihren von Hitler begeisterten Mann, einen Architekten, wartete, der Zielen folgte, «die seine waren, nicht ihre».

Da, in der Zeit des Wirtschaftswunders, sind die gesellschaftlichen Ordnungen längst wieder erstarrt, ebenso die Geschlechterverhältnisse. Ihr letzter «Liebhaber» wird ein Konservator, ein Kopfmensch, der der Frau und ihren Kindern immer fremd bleibt. Warum ihre Mutter ausgerechnet bei ihm bleibt, weiß die Erzählerin nicht zu beantworten. Vielleicht ist es Resignation, vielleicht schon der Schatten, den ihre Krankheit zum Tode vorauswirft. Kein «wichtiges» Buch, aber ein leise berührendes.

Von Oliver Pfohlmann

Ulrike Edschmid: Die Liebhaber meiner Mutter. Roman. Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2006.

Der Text ist entnommen aus:
http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=10422&ausgabe=200702


1Di|gni|tät, die; -, -en [lat. dignitas, zu: dignus = würdig]: 1. <o.Pl.> (bildungsspr.) Würde: er waltet seines Amtes mit einer gewissen D. 2. (kath. Rel.) a) Amtswürde eines bestimmten hohen Geistlichen; b) hoher geistlicher Würdenträger: an der Spitze der Prozession schritten die -en.

2auf etw. abonniert sein: 1. etw. abonniert haben; ein Abonnement haben. 2. etw. immer wieder haben, bekommen, erringen: auf Erfolg abonniert sein; die Mannschaft ist auf Sieg abonniert.