Sonderthema
Riemenschneider – Das Heilige im Holze
Tilman Riemenschneider ist ein Meister geschmeidiger Wiederholung. Streng in der Gesamtanlage und eng an eine eigens entwickelte Typologie der Figuren angelehnt, schafft er das kleine Wunder, jede Gestalt, so entrückt1 sie auch wirken mag, ganz und gar individuell dem Betrachter verbunden erscheinen zu lassen. So wird man auch heute noch auf wundersame Weise von den hölzernen Figuren des «fürsichtigen ersamen meysters» angezogen.
In Werken wie dem Johannes der Täufer aus dem Schrein des Hochaltars der Pfarrkirche in Hassfurt erscheint die Spannung zwischen Entrücktheit und Vertrautheit so fein austariert2, die Komposition, von den Füßen über die Röhrenfalten des Gewands bis zu dem vom Kopf des Lamms auf den des Heiligen umgelenkten Bewegungsimpuls, derart vollkommen, dass die Botschaft des Heiligen, der zu Umkehr und Buße aufruft, niemals abstrakt verkündet wird. Wie in stummer Zwiesprache gilt sie jedem Einzelnen.
«Der Eindruck seiner Formenwelt», schreibt der Kunsthistoriker Wilhelm Pinder 1929, «muss verblüffend gewesen sein, selten haben größere Meister eine solche individuenvernichtende Wirkung für eine ganze Provinz gehabt, wie dieser zarte Tyrann für die unterfränkische ... Ganz offenbar ist eine ganze Landschaft unter den Bann dieses Meisters gekommen.»
Eine Phase stürmischen Wachstums
Bis in die siebziger Jahre des fünfzehnten Jahrhunderts war Würzburg eine recht friedliche Stadt. Die Lage an wichtigen Nord-Süd-Verbindungen und dem in ost-westlicher Richtung verlaufenden Main war vorteilhaft. Gleichwohl fühlten sich Tilman Riemenschneider und die Bürger, für die er arbeitete, in einer Zwickmühle3 zwischen dem Regiment des Fürstbischofs und dem latent revolutionären Aufruhr der Bauern. Bestimmte kirchliche Kreise erschienen obendrein hoffärtig4 und dekadent. So beklagte der energische Reformbischof Rudolf von Scherenberg im Jahr 1494, dass der adlige obere Klerus spitze Schuhe, geschlitzte Hosen und modische Haartracht trage.
Mag die Behauptung, der desolate Zustand der kirchlichen Pastoralpraxis sei einer der Auslöser der Reformation gewesen, auch nur eine «deutsch-protestantische schwarze Schreibtischlegende» sein, die Zeiten waren alles andere als ruhig. Die auf der Stadt lastende finanzielle Schuld machte es Scherenberg, dessen Grabmal Riemenschneider später schuf, schwer, das größte Übel, die von Steuereintreibern erzwungenen Abgaben, zu mildern. Um Abhilfe zu schaffen, setzte der Bischof auf Expansion und Zuwanderung, wetteiferte mit Frankfurt. Die süddeutschen Bildhauer der Zeit lebten also in straff organisierten Reichsstädten, die trotz aller Lasten ökonomisch eine Phase stürmischen Wachstums erlebten, von der weniger die Habenichtse als die Reichen profitierten.
Kein Außenseiter der Gesellschaft
Tilman Riemenschneider, um 1460 in Heiligenstadt in Thüringen geboren, kam vermutlich über Ulm, wo er einen wesentlichen Teil seiner Ausbildung – möglicherweise in der Werkstatt Michel Erharts – absolvierte, nach Würzburg. Er hatte schnell Erfolg: 1485 erwarb er Bürgerrecht und Meisterwürde, schloss nacheinander mehrere vorteilhafte Ehen und brachte es nach langjähriger Mitgliedschaft im Rat der Stadt 1520 sogar für eine Amtsperiode zum Bürgermeister.
Seine politische Karriere zerbrach schließlich am Bauernkrieg von 1525. Riemenschneider war somit alles andere als ein Außenseiter der Gesellschaft: Als erfolgreicher Unternehmer und Politiker wirkte er in einer Stadt, die Mittelpunkt einer mächtigen Diözese war, von der aus sich das nördliche Franken bestens mit Schnitzwerken beliefern ließ.
Zwischen Formbarkeit und Zerbrechlichkeit
In unsicheren, von einem Verfall der Sitten bedrohten Zeiten wächst die Sorge um das Seelenheil und der Wunsch nach Gewissheit. Das Leben im fünfzehnten Jahrhundert war aufs Innigste von Religiosität durchdrungen, das Heilige beständig und unlösbar mit dem alltäglichen Leben verbunden. Nach der Menschwerdung Gottes und unter dem neuen Bund war dessen Darstellung nicht nur erlaubt, von einem seelsorgerischen Standpunkt aus sogar ausdrücklich erwünscht, um der Unwissenheit der einfachen Leute, der Trägheit des Gefühls und der Unbeständigkeit des Gedächtnisses entgegenzuwirken.
Erschien die Gestalt Gottes einst in unendliche Ferne entrückt, so wurde alles Heilige nun bis in Einzelheiten hinein bildlich gestaltet. Was man ausdrücken wollte, fasste man in ein Bild. Und die Bildschnitzer spielten mit ihrem Material, dem relativ teuren Holz der «zahmen», großblättrigen Linde, um zu erfassen, «warzu es taugt», um die im Holz angelegten Kräfte und Qualitäten im Hinblick auf das Spannungsverhältnis zwischen Formbarkeit und Zerbrechlichkeit zu nutzen. Im Gegensatz zu Holz war Stein ein verhältnismäßig unkompliziertes, homogenes Material, das keinen Schwankungen oder Schrumpfungen unterliegt.
Feinheit und Präzision der Details
Riemenschneider war einer der Ersten, der – als Alternative, nicht als Ersatz – farbig ungefasste Werke schuf. Dabei zeigen seine Skulpturen nicht das blanke Holz; um es zu schützen und eine einheitliche Wirkung zu erzielen, wurden braungetönte Lasuren verwendet. Der entscheidende Unterschied gegenüber den farbigen Werken liegt in der Feinheit und Präzision, mit der nun Details herausgearbeitet werden.
Solange die Bildwerke mit Kreidegrund überzogen wurden, hatte es dazu keinen Anlass gegeben. Um die Wirkung der monochromen Figuren zu steigern, gestaltet Riemenschneider Gewänder und Falten jetzt besonders geschmeidig, lässt Kanten deutlicher hervortreten, formuliert Genähtes oder Gesticktes durch kurze Schnitte mit Stechbeitel oder Hohleisen.
Nicht einsam Schaffender, sondern Meister
War Riemenschneider in Bezug zu seinen Hauptquellen auch ein Eklektiker, der sich niederländischer und oberrheinischer Vorbilder bediente, die er vermutlich von Stichen Martin Schongauers kannte, so waren seine Werke hinsichtlich ihrer Wirkung doch stets eigenständig. Um das Singuläre seines Schaffens anzuerkennen, muss man den «Werkstattleiter» indes nicht schmähen: Riemenschneider hat eine wahre Skulpturen-Fabrik aufgebaut.
Hier wurde in Holz, Marmor, Sandstein und Alabaster gearbeitet, Modelle für Goldschmiedearbeiten hergestellt und spezialisierte Handwerker beschäftigt. Nicht als einsam Schaffender, wie das neunzehnte Jahrhundert glaubte, sondern als Meister im Zeitalter handwerklicher Reproduzierbarkeit hält Riemenschneider die Balance zwischen emotionaler Beteilung und Bildergläubigkeit. Wir sehen Heilige, aber auch ihr Bild.
Von Thomas Wagner
(gekürzt)
1ent|rü|cken <sw.V.; hat> [mhd. entrücken, zu rücken] (geh.): a) einem bestimmten Bereich od. Zustand entziehen: die Musik hat sie der Gegenwart entrückt; <häufig im 2.Part.:> der Wirklichkeit entrückt sein; b) auf wunderbare Weise in eine andere Welt, in einen anderen Zustand versetzen: <häufig im 2. Part.:> [im Traum] selig entrückt sein; entrückt auf etw. blicken.
2aus|ta|rie|ren <sw.V.; hat>: ins Gleichgewicht bringen: eine Waage a.; das Verhältnis zwischen Sicherheit und Freiheit a.; Ü Rechte und Pflichten a. (abwägen).
3Zwick|müh|le, die; -, -n [zu mhd., ahd. zwi- (in Zus.)= zwei-, also eigtl.= Zweimühle, Zwiemühle, nach der Möglichkeit im Mühlespiel, durch den gleichen Zug eine Mühle zu öffnen u. eine zweite zu schließen]: 1. Stellung der Steine im Mühlespiel, bei der man durch Hin- u. Herschieben eines Steines jeweils eine neue Mühle hat. 2. (ugs.) schwierige, verzwickte Lage, aus der es keinen Ausweg zu geben scheint: in einer Z. sein, sitzen, stecken.
4hof|fär|tig <Adj.> [spätmhd. hoffertig für mhd. hochvertec = stolz, prachtvoll] (geh. abwertend): dünkelhaft, verletzend überheblich, anmaßend stolz: ein -es Wesen zur Schau tragen.
Der Text ist entnommen aus:
http://www.faz.net/s/RubEBED639C476B407798B1CE808F1F6632/Doc~
EC44802E16BC84A348635E4CD31DEC86E~ATpl~Ecommon~Scontent.html