Главная страница «Первого сентября»Главная страница журнала «Немецкий язык»Содержание №14/2007

Das liest man in Deutschland

Der Schraubstock der Heimat

Über Urs Mannharts Heimat-Romane

Nicht genau zu wissen, was man will, ist in der Literatur vor allem das Problem junger Männer. Unentschlossen bis missmutig schaut man um sich, um zu erkennen, wann und womit das «richtige Leben» beginnen könnte. Entweder hat man gerade eine Hürde genommen (Ausbildung, Prüfung, Studium etc.) oder man lebt schon eine geraume Weile vor sich hin. Spätestens mit Nick Hornby kam man besonders gewitzigt respektive einfallslos auf den Trick, die scheinbare Ausweglosigkeit, die eigene Unzufriedenheit und das Versagen vor sozialen Normen, die man irgendwie ablehnt, gegen die man sich aber auch nicht richtig auflehnen will, zu zelebrieren1.

Die Selbstironie ist eine Kippfigur: schnell wird eine coole2 Pose draus. Das Jammern kann schnell in Aggression umschlagen. Auch die Protagonisten in Urs Mannharts Romanen stehen an der Schwelle zum sogenannten «richtigen Leben». Aber zum einen wird ihr Leben nicht wie für einen Lifestyle-Ratgeber ausgemalt, und zum anderen verfügt der durch sie hindurchgehende Blick des Autors über genügend Trennschärfe, um klar zu erkennen, was sie nicht wollen. Wie es dann weitergeht, das kann man dann ja noch sehen.

In Mannharts Debüt Luchs beobachtet der Zivildienstleistende Leen mit einem Forscher-Duo und einem weiteren Zivi in den Schweizer Bergen einige Luchse, die regelmäßig per Funk geortet, markiert und untersucht werden müssen. Von den Einheimischen werden sie angefeindet, weil jene gegen die Wiederansiedlung der Luchse sind. Eine Stammtischrunde schließt eine Wette darüber ab, wer zuerst eines der Tiere schießt. In der Neuerscheinung Anomalie ist ein junger Mann in dem kleinen Ort Domodossola stecken geblieben, weil die italienische Bahn streikt. Offensichtlich ist es wieder Leen (Mannhart gibt einen Hinweis), nun «gerade erst ein paar Zentimeter aus dem Studium heraus, einer dieser überqualifizierten Teilzeitverlegenheitsarbeiter», ein «Lebensanwärter». Er ist auf dem Weg zu seiner Freundin in Rom. Stecken geblieben sind auch sein Leben und seine Beziehung. Von beidem weiß er nicht, wie viel und welche Zukunft sie haben könnten, denn diese ist «nur ein ferner Dunst, zu dem kein Auge reicht». Sollte er weiter so verharren3, so fürchtet er, irgendwann «ein alter Dattersack» zu sein, «eingesperrt in nichtige Verrichtungen, zu müde, etwas zu unternehmen, und zu beschämt, um nur zu faulenzen. Wirst mit hundert möglichen Aktivitäten im Kopf herumhocken, aber niemanden jemals ansprechen und dich bei denen, die dir über den Weg laufen, den du nicht mehr gehst, pausenlos für Dinge entschuldigen, die ohne dein Zutun passiert sind.» Vieles kann man sich überlegen und sich vornehmen, «aber du weißt schon, alles bleibt im Konjunktiv». Über seine Überlegungen, die er anstellt, während er durch den Ort streift, erfährt der Leser die Entstehung und die Problematik der Beziehung sowie aus dem weiteren Leben des jungen Mannes. Der Ort, die Umstände, das Leben des jungen Mannes überhaupt, der Zug – all dies verschwimmt zum «Gemütsverkehr». «Mühsam rangierst du deine Gedankenwaggons hin und her.»

Im Gegensatz zur Anomalie ist Luchs voller Geschehen. Mannhart verflechtet geschickt das Agieren von ca. einem Dutzend Personen, die fast gleichberechtigt neben Leen stehen. Das Gemeinsame der beiden Bücher – und Thema auffallend vieler Bücher im «bilgerverlag» – ist ein zunächst unauffälliger Heimat-Diskurs. Die Heimat in der Anomalie ist allgemein. Sie ist eine Welt, die «zu klein [ist] für Himmelsrichtungen», sodass man kaum aus ihr herausfinden kann. Den Erzähler beschleicht das ungute Gefühl, «du seist nicht einmal dem schweizerischen Mittelland entkommen». So wenig er Heimat schätzt, so wenig möchte er später nichtmals ein Grab haben, denn an diesem bedrückt ihn «seine Schwere, dass es sich nicht bewegt, nur lastet».
Die Flucht aus der Heimat soll nicht in eine neue führen. «Das bisschen Anonymität», das in der Großstadt Basel «möglich ist, willst du nicht mit Treppenhausfreundlichkeiten aufs Spiel setzen». Der Verlust von Vertrautheit und Verwurzelung ist tröstlich. Wäre das Zimmer in Domodossola «auch nur ein bisschen weniger trostlos, du würdest es nicht ertragen». Die Heimat in Luchs ist die Realität hinter dem volkstümlichen Klischee: das Land, auf dem es Natur gibt, die Landschaft im Gegensatz zur Stadt. Doch «die Ruhe im Dorf schien hinterhältig».

Hier sind alle wie eingesperrt: die Alten, die ihre Sehnsüchte depravieren4, indem sie sie wegzulügen versuchen, und die Jungen, die fort möchten «aus diesem Schraubstock5 eines Simmentals». Der Bauer Rusterholz erblickt in den genügsamen, ökonomisch zuverlässigen Kühen der Rasse «Limousin» «ein Sinnbild für sein eigenes, stehen gebliebenes Leben». Er, der Hinzugezogene, ist noch zur Schwarzsicht fähig, wahrscheinlich weil er von den anderen Dörflern nicht akzeptiert wird. «Er wusste, das Leben rinnt wie ein Urinstrahl in eine übel riechende Schüssel, wenn es zu Ende geht, schließt jemand den Deckel und spült.»

Aber er will nur dann eine Veränderung wagen, wenn er sicher sein kann, nichts wagen zu müssen. Anstatt diesem Leben zu entkommen, will er dazugehören. Einen Luchs zu erlegen, das brächte ihm Anerkennung, neue Freundschaften und machte ihn interessant für Frauen. Die Einheimischen sind im Kampf mit karger Natur und ökonomischen Zwängen zu Gestellen mutiert. Die Bauern haben «Unterarme wie griffbereites Werkzeug», ihre Schultern sind «von der Last der Arbeit gekrümmt über den Biergläsern, und so würden sie immer sitzen, so waren sie immer schon gewesen, gleich mürrisch, gleich reizbar, auch gleich alt. Junge Männer gab es im Oberland keine.»

Die gehen nämlich weg, so wie Marc, der Sohn des Bauern Fennler, es möchte. Er drückt sich vor dem Militärdienst, wofür er von seinem Vater rausgeworfen wird. Und er möchte Theater spielen: «Ich will darstellen, will nicht immer ich sein müssen.» Leen hat die Möglichkeit, am Wochenende nach Bern zu fahren. Dort freute er sich, «wie anonym alles vor sich ging» und genießt es, «von niemandem erkannt zu werden». Mannhart baut aber keinen simplen Gegensatz auf, sodass das Land per se6 schlecht und die Stadt per se gut wären. So sehr Leen in Luchs den Aufenthalt in der Stadt genießt, so stellt er auch eine Affinität7 zur Natur bei sich fest. Aber diese kann wahr sein, denn sie resultiert aus freier Wahl. Dass ihm die Stadt auch kein Glück brachte, das erfährt der Leser dann in der Anomalie.

Von Fabian Kettner

Urs Mannhart: Luchs. bilgerverlag, Zürich 2004.
Urs Mannhart: Die Anomalie des geomagnetischen Feldes südlich von Domodossola. bilgerverlag, Zürich 2006.
http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=10409&ausgabe=200702


1ze|le|brie|ren <sw. V.; hat> [lat. celebrare= häufig besuchen; festlich begehen; feiern, preisen, zu: celeber= häufig; berühmt, gefeiert]: 1. (kath. Kirche) eine kirchliche Zeremonie abhalten, durchführen: die Messe z. 2. (bildungsspr., oft scherzh.) (bewusst) feierlich, weihevoll tun, ausführen: ein Essen z. 3. (bildungsspr. selten) feiern, feierlich ehren.

2cool [ku:l] <Adj.> [engl., eigtl.= kühl] (salopp): 1. [stets] die Ruhe bewahrend, keine Angst habend, nicht nervös [werdend], sich nicht aus der Fassung bringen lassend; kühl u. lässig, gelassen: als Trainer muss man ziemlich c. sein; lass dich nicht provozieren, bleib [ganz] c.! 2. keine Gefahren bergend, risikolos, sicher: ein -es Versteck; das ist die -ste Art, den Stoff über die Grenze zu bringen. 3. keinen, kaum Anlass zur Klage gebend, durchaus annehmbar, in Ordnung: 1000 Euro ist doch ein -er Preis für die Anlage. 4. in hohem Maße gefallend, der Idealvorstellung entsprechend: auf der Fete waren unheimlich -e Leute; die Musik war echt c.

3ver|har|ren <sw. V.; hat> [mhd. verharren] (geh.): a) [in einer Bewegung innehaltend] sich für eine Weile nicht von seinem Platz fortbewegen, von der Stelle rühren: einen Augenblick v.; unschlüssig an der Tür, auf dem Platz v.; Ü die Zinsen verharren schon länger auf hohem Niveau; b) [beharrlich] in, bei etw. bleiben: in Resignation, in Schweigen v.

4de|pra|vie|ren <sw.V.; hat> [lat. depravare = verzerren, entstellen]:
1. (bildungsspr.) verderben: depravierte Sitten. 2. (Münzk.) durch Verschlechterung des Edelmetallgehalts im Wert mindern.

5Schraub|stock, der <Pl. ...stöcke>: zangenartige Vorrichtung, zwischen deren verstellbare Backen ein zu bearbeitender Gegenstand eingespannt wird: ein Werkstück in den S. [ein]spannen.

6per se [lat.] (bildungsspr.): von selbst, aus sich heraus: das versteht sich p. se.

7Af|fi|ni|tät, die; -, -en [lat. affinitas, zu affin] hier: Wesensverwandtschaft, Ähnlichkeit u. dadurch bedingte Anziehung: zu jmdm., etw. eine A. haben, fühlen.

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http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=10409&ausgabe=200702