Literatur
Irmtraud Morgner: Amanda
(Fortsetzung aus Nr. 13/2007)
Ich folgte widerwillig. Laura wälzte sich. Um mir zu zeigen, wie sie sich damals gewälzt hätte. Auf dem Bleichplan so und so von einem Zaun zum anderen. Hinter den Hofzäunen Ruinenfassaden, auf die unter anderem mit Kreide geschrieben gewesen wäre: «Olga, Laura, lebt ihr?» Als Lauras Kleider rundum grasgrün gewesen wären, hätte sie mit einem Ziegelbrocken daneben gekratzt: «Gewaltig». Das geschah mittags nach der bedingungslosen Kapitulation. Und dann lebten Laura und ihre Freundin so weiter. Immer so weiter vierzehn Tage lang auf einem Kriegsschauplatz. Der Bleichplan wäre nämlich der Ersatzkriegsschauplatz für die Hauspauker gewesen. Wobei der Bleichplan verglichen mit dem Hof noch wenig Brisanz hergegeben hätte. Das Betreten des Plans war Kindern nämlich glatt verboten, das heißt mit Vorhängeschloß. Da der Hausbesitzer das Gatter und die anderen Zaunlatten zudem mit Nägeln hatte spicken lassen, konnten die Herren Schreibart, Broker und Klotz Bleichplandelikte fast nur an Untererwachsenen ahnden. Ulanen, Steuerrevisoren, Volkssturmmänner, Feldwebel und Hausverwalter gehörten zu den Obererwachsenen. Eine Sorte, die sich selbstverständlich wieder in sich gliederte. Die Gliederung war aus der Reihenfolge der Aufzählung zu ersehen. Klarer Fall, daß Ulanenfeldwebel a. D., Steuerrevisor und Volkssturmmann Schreibart dreimal soviel zählte wie der gemeine Unteroffizier a. D. Broker und Broker wiederum mindestens dreimal soviel wie der Scheißzivilist Klotz, auch wenn der als Hausverwalter mit Hausbesitzers verkehrte. Die Obererwachsenen hätten untereinander auf Abstand geachtet und auf Ordnung. Nach der Devise: getrennt wohnen, vereint zwiebeln. «Hinterm Mond sein ist schon schlimm», sagte Laura. «Aber immer und ewig hinter der Sonne ... wo war sie eigentlich heute?»
Ich erklärte, daß die Sonne zur Zeit der Tag- und Nachtgleiche in ihrer scheinbaren Bahn im Schnittpunkt der Ekliptik mit dem Himmelsäquator stünde: Der Schnittpunkt, in dem die Sonne vom Süd- zum Nordhimmel überwechselte, hieße Frühlings- oder Widderpunkt, der Gegenpunkt Herbstpunkt.
«Widderpunkt», grölte Laura und verteilte wieder Gelächterhiebe in die Stille. «Widder, haha, Böcke, gehörnt hab ich die Stinktiere, von Ehefrauen gehörnte Kerle sind fad dagegen, und ich war ein Kind, wir waren Kinder und plötzlich ganz groß in der Sonne und die Hornviecher plötzlich ganz klein mit Hut hahaha, mit Butter auf dem Kopf, so was von Sonne hast du nicht erlebt ...»
Ich saß steif. Bemüht, die Auflagefläche so klein wie möglich zu halten. Denn ich wußte, daß Grasflecken indanthren sind. Außerdem sah der Rasen gepflegt aus.
Laura beobachtete meine Bemühungen mit verächtlichen Blicken. Sie war nicht halb so zahm wie im Roman beschrieben. Das Buch der Morgner stinkt nach innerer Zensur. Und trotzdem steht noch zu viel drin. Fürn Teufel zu viel, für Menschen zu wenig.
Auf dem Rasen des Deutschen Doms nannte Laura den Teufel und den lieben Gott Paukerpopanze. Im Gegensatz zu den anderen Paukersorten wurde die Popanzsorte an die Wand gemalt. Wenn Kinder beim Malen von Ballzielkreisen auf die Hofwand erwischt worden wären, hätte der Hausverwalter Klotz Kopfnüsse verteilt und gebrüllt «geht aus der Sonne», was so viel hieß wie «verschwindet». Laura beschrieb seine Inbrunst beim Verteilen. Dann beschrieb sie inbrünstig den Aufstand in Schutt und Asche. Rundum Ruinen, die ganze Stadt ein Trümmerhaufen und Maisonne nach dem Kalender. Aber tatsächlich himmelweit von diesem Frühlings- oder Widderpunkt entfernt; tatsächlich hochsommerlich und schamlos und krachend. Aber nur für Laura und deren Freundin Inge. Die Erwachsenen wären weiter im Gemäuer rumgekrochen. Auch die Untererwachsenen. Obgleich gerade die nicht schlechter vom Kellerrheuma gezwackt gewesen wären als die Kinder. Und gegen Rheuma hülfe bekanntlich Sonne besser als Rotlicht.
Zu den Untererwachsenen zählten die Frauen – auch gegliedert selbstverständlich. Wenn die Frau vom Frontgefreiten erster Stock links die Wäsche dampfend auf den Plan gebreitet hätte, so daß auf vergilbte Rasenflächen zu hoffen war, hätten die Pauker lediglich von den Balkonen gehustet oder sich gegenseitig Vögel auf ihren Stirnen gezeigt. Wenn jedoch die Wäsche vom alten Fräulein Röhr gegen Abend noch nicht vom Rasen gewesen wäre, hätten sich die Pauker «Nachtbleiche» zugerufen, von ihren Balkonen gespuckt und einander versichert, daß Nachtbleicher Volksverräter wären, die Feindbomber anlockten. Da Lauras Mutter nicht genau gewußt hätte, in welche Kategorie der Gliederung sie als Lokführersfrau gezählt worden wäre, hätte sie sich die Rasenbleiche versagt und Leinenbleiche betrieben. Trotzdem hätte sich auch Olga Salman wie alle anderen Frauen der Mietparteien im fünfundvierziger Mai nur bis in den Hausflur getraut. «Höchstens bis hinter die Haustür, wo ein Topf stand», sagte Laura. «Und die Restmänner, die vom Krieg altershalber im Haus belassen worden waren, haben vierzehn Tage ihre Wohnungen überhaupt nicht verlassen. Sie haben ihre Eheweiber geschickt. Vor allem hinter die Haustür. Manche beauftragten sogar ihre Eheweiber, die bisher nichts zu sagen hatten, zu reden. Jetzt erst verstand ich die Pauker-Losung: ‹Genießt den Krieg, denn der Frieden wird furchtbar.› Die Haustür wurde von einem Stein einen Spalt offengehalten. Sobald Frau Schreibart durch den Spalt einen Soldaten ausmachen konnte, rief sie und schenkte mit einer Kelle Brombeertee aus dem Einwecktopf. Die Soldaten wollten in amerikanische Kriegsgefangenschaft fliehen. Die amerikanischen Truppen hielten an der westlichen Stadtgrenze, die sowjetischen an der östlichen. Frau Schreibart sagte: ‹Wennch wüßte, daß die Amis kämen, tätch mein Mann seine schoine Ulanenuniform nich verbrenn.› Die Schreibarten hatte die Uniform dreißig Jahre mit Pfeffer vor Mottenfraß bewahren können. ‹Stoff brennt noch schlechter als Papier›, sagte die Brokern. Und die Klotzen behauptete, daß Ihr Mann noch lange nach dreiunddreißig und eigentlich schon immer Vegetarier gewesen wäre. ‹Und christlich›, ergänzte die Brokern, ‹mein Mann war auch schon immer christlich.› Das konnte ich bestätigen. Denn beide Männer pflegten bei jeder Gelegenheit zu drohen, sie und Gott sähen alles und würden schon dafür sorgen, daß Gesindel ins Loch käme. ‹Raus aus der Sonne und rin ins schwarze Loch›, sagte Klotz und zeigte dabei mit Vorliebe auf die Kläranlagendeckel im Hof. Und Broker sagte mit Vorliebe: ‹Der Teufel ist gründlich.› Und ich zweifelte nicht daran, weil ich Broker hatte erzählen hören, wie er Juden in einer Jauchengrube ertränkt hatte. Kein Wunder also, daß während der märchenhaften Tage die rührigsten Frauen fast ebenso ungefährlich waren wie die Männer. Aber auch die anderen Frauen haben sich nicht getraut, uns Kinder ernstlich anzumeckern. Auch meine Mutter Olga nicht, die trotz Vaters Verbot regelmäßig den Londoner Rundfunk gehört hatte. Alle Erwachsenen hatten Nazidreck am Stecken, mehr oder weniger, alle hatten Butter auf dem Kopf. Außer uns Kindern alle. Kennst du die Redensart: ‹Butter auf dem Kopf›?»
(Fortsetzung folgt)
Bri|sanz, die; -, -en [zu brisant]: 1. (Waffent.) Sprengkraft: die B. einer Bombe, Granate; die Sprengkörper haben unterschiedliche -en. 2. <o.ÿPl.> (bildungsspr.) brennende, erregende [Zündstoff für Konflikte od. Diskussionen liefernde] Aktualität; zündende Wirkung; die politische B. eines Themas.
glatt <Adj.; -er, -este, ugs.: glätter, glätteste> [mhd. glat = glänzend, blank; eben; schlüpfrig, ahd. glat = glänzend]: hier: (ugs.) so eindeutig od. rückhaltlos [geäußert], dass das damit Beabsichtigte offensichtlich ist, dass kein Zweifel daran aufkommen kann: eine -e Lüge, Irreführung, Provokation; das ist ja -er Wahnsinn; er schrieb eine -e Eins, Fünf; sie konnten ihre Gegner g. (mit großem Vorsprung) schlagen; er sagte es ihr g. ins Gesicht; das haut mich g. um (salopp; ich bin fassungslos; damit werde ich nicht fertig!).
Gat|ter, das; -s, - [mhd. gater, ahd. gataroÿ= Gatter als Zaun od. Tor; Pforte aus Gitterstäben (an Burgen), verw. mit Gitter]: a) [Latten]zaun: die Wiesen sind durch ein G. voneinander getrennt; b) Latten-, Gittertor; c) (Reiten) senkrechter Lattenverschlag zwischen zwei Pfosten als Hindernis bei Springprüfungen.
zwie|beln <sw. V.; hat> [H. u., viell. nach der Vorstellung, dass man jmdm. wie einer Zwiebel nach u. nach die Häute abzieht od. ihn wie beim Zwiebelschälen zum Weinen bringt] (ugs.): jmdm. hartnäckig [mit etw.] zusetzen; schikanieren: der Lehrer zwiebelt die Schüler.
grö|len <sw.ÿV.; hat> [aus dem Niederd. < mniederd. gralenÿ= laut sein, lärmen, zu Gral, eigtl. = lärmendes Turnierfest im späteren MA. in niederd. Städten] (ugs. abwertend): a) (bes. von Betrunkenen) laut u. misstönend singen od. schreien: die Betrunkenen grölten vor dem Wirtshaus; die Zuschauer grölten vor Begeisterung; <häufig im 1.ÿPart.:> eine grölende Menge; b) laut in nicht sehr schöner Weise singend [od. schreiend] von sich geben: die Menge grölte alte Trinklieder.
Butter auf dem Kopf haben (südd., österr. ugs.; ein schlechtes Gewissen haben; nach dem Sprichwort «wer Butter auf dem Kopf hat, soll nicht in die Sonne gehen»; die Butter wurde früher von den Bauersfrauen in einem Korb auf dem Kopf zum Markt getragen).
ind|an|thren <Adj.>: (in Bezug auf gefärbte Textilien) licht- u. farbecht: der Stoff ist i.
Po|panz, der; -es, -e [über das Ostmd. wohl aus dem Slaw., vgl. tschech. bubák]: 1. a) (veraltet) künstlich hergestellte [Schreck]gestalt, bes. ausgestopfte Gestalt, Puppe; b) (abwertend) etw., was aufgrund vermeintlicher Bedeutung, Wichtigkeit Furcht, Einschüchterung o.ÿÄ. hervorruft od. hervorrufen soll: einen P. errichten; etw. zum P. machen. 2. (abwertend) jmd., der sich willenlos gebrauchen, alles mit sich machen lässt.
In|brunst, die; - [spätmhd. inbrunstÿ= innere Glut; vgl. Brunst] (geh.): starkes, leidenschaftliches, hingebendes Gefühl, mit dem jmd. etw. tut, sich zu jmdm., einer Sache hinwendet: die I. seiner Liebe, seines Glaubens.
zwa|cken <sw. V.; hat> [mhd. zwacken, ablautend zu zwicken] (ugs.): kneifen: die Krabbe hat mir/mich in den Zeh gezwackt; Ü er wird von Neid gezwackt.
Spalt, der; -[e]s, -e [mhd., ahd. spalt, zu spalten]: a) einen Zwischenraum bildende schmale, längliche Öffnung: ein schmaler, tiefer S.; ein S. im Fels, im Gletschereis; die Tür einen S. offen lassen, öffnen; die Augen einen S. weit öffnen; b) (vulg.) Spalte.
Kel|le, die; -, -n [mhd. kelle, ahd. kella, H.ÿu.]: Schöpfgerät, großer Schöpflöffel in der Form einer Halbkugel o.ÿÄ. mit langem Stiel; Schöpfkelle: Suppe mit der K. ausgeben; *mit der großen K. anrichten (schweiz.; mit etw. verschwenderisch umgehen; etw. vergeuden).
Ge|sin|del, das; -s [Vkl. zu Gesinde, urspr. = kleine Gefolgschaft, kleine (Krieger)schar] (abwertend): Gruppe von Menschen, die als asozial, verbrecherisch o.ÿä. verachtet, abgelehnt wird: lichtscheues G.
Dreck am Stecken haben, (ugs.): nicht ganz integer sein, sich etw. haben zuschulden kommen lassen.
Aus: Irmtraud Morgner: Amanda. Ein Hexenroman. Aufbau-Verlag, Berlin & Weimar 1983. S. 19–28.