Sonderthema
Der zynische Tantenmörder
Wedekind und das deutsche Kabarett
Noch auf dem Sterbebett soll Frank Wedekind seine Lieder gesungen haben – so lange, bis er ins Koma fiel. Er muss sie geliebt haben.
Einziger Grund für Wedekinds kabarettistisches Schaffen soll der schnöde Mammon gewesen sein. Denn die Kabarett-Vorstellungen sicherten dem Literaten zum ersten Mal ein regelmäßiges, ohne allzu große Mühe erworbenes Einkommen.
«Ich habe meine Tante geschlachtet, meine Tante war alt und schwach», ist eine Zeile aus einer seiner berühmtesten Balladen. Wedekind, der große Moralist, ein Tantenmörder? Ja. Auf der Bühne der Münchner Gaststätte «Zum Hirschen», dem Domizil der «Elf Scharfrichter». Ein komischer, grotesker und sarkastischer Tantenmörder, der auf dem «Brettl» genauso viel Leidenschaft und Menschliches wie auf der Theaterbühne zeigt.
Kabaretts schießen wie Pilze aus dem Boden
Die «Scharfrichter» sind das erste literarische Kabarett in Deutschland. Kernstücke der monatlich wechselnden Programme sind Chansons, satirische Einakter – und Wedekinds Balladen, immer ironisch, makaber, zynisch und zeitkritisch. Auslöser für die Gründung ist ausgerechnet die «Lex Heinze», ein Gesetzentwurf gegen freizügige Tendenzen in Kunst, Literatur und Wissenschaft, der dem deutschen Reichstag vorliegt. Münchner Künstler, unter ihnen Wedekind, ziehen an Fasching 1901 gegen die «Lex Heinze» durch die Straßen. Sie tragen Kostüme und Transparente, singen in Kneipen und Lokalen «Aber nacket geh’n wir nicht» – und beschließen, ein Kabarett zu gründen. Nicht irgendeines, sondern ein satirisch-politisches. Amüsier-Kabaretts dagegen gibt es in Deutschland bald genug. Wie Pilze schießen sie aus dem Boden, kaum hatte der Schriftsteller Ernst von Wolzogen im Januar 1901 das «Bunte Theater», auch genannt «Über-Brettl», in der «Sezessionsbühne» am Berliner Alexanderplatz eröffnet. Allein in Berlin gründen sich im selben Jahr 40 Kabaretts. Ihr Ziel: unbeschwerte und heitere Unterhaltung.
Ihr Vorbild: das französische Cabaret. Das Paris der Jahrhundertwende ist das El Dorado für Vergnügungssüchtige aus aller Welt. Nach dem Motto «Heiter geht die Welt zugrunde» wird in Pariser Künstlerkneipen gefrotzelt, aber vor allem geschmunzelt.
Das Aus für die «Scharfrichter»
Drei Vorstellungen pro Woche bieten die «Scharfrichter» ihren Zuschauern, die persönlich auf die Holzstühle im «Hirschen» zu Bier, Gesang und Ironie eingeladen werden. Der Status einer «geschlossenen Gesellschaft» hilft, die Zensur zu umgehen. Aber vor öffentlichen Auftritten hagelt es Verbote; stets ist auch ein Polizeispitzel im Saal, um zu kontrollieren, ob nicht Verbotenes gespielt oder gesungen wird.
Zwei Jahre lang betreiben die «Scharfrichter» ihre Exekutionen, dann kommt das Aus. Man ist schließlich nicht nur mit der bürgerlichen Gesellschaft über Kreuz, sondern auch untereinander zerstritten, vor allem über die Gagen.
Wedekind verzichtet aber nicht darauf, auf Vortragsreisen seine Gedichte und Lieder zum Besten zu geben. Vor allem in seine späteren Dramen baut er mit Vorliebe seine Balladen ein. Seine Persönlichkeit, meint seine Tochter Kadidja, sei nirgends so gut zum Ausdruck gekommen wie in seinen Liedern.
Der Text ist entnommen aus:
http://www.frankwedekind.de/