Главная страница «Первого сентября»Главная страница журнала «Немецкий язык»Содержание №14/2007

Sonderthema

Schalk, Tabubrecher, Pionier

Gerhart Hauptmann kann man nichts anvertrauen. Da erzählt man ihm brühwarm von dem Stress, den man gerade mit seinen Eltern hat, und dieser Naturalist macht ein Theaterstück daraus – so realitätsnah, dass jeder gleich weiß, um welche Familie es sich da handelt.

So ist es jedenfalls Frank Wedekind ergangen. Friedensfest – eine Familienkatastrophe hat Hauptmann sein Stück ironisch genannt. Und Wedekind beschreibt in seinem Stück Kinder und Narren wiederum, wie mies er sich gefühlt hat, als er auf der Bühne das sah, was er seinem Freund anvertraut hatte. Eine seiner Figuren lässt er sagen: «Wenn sich der Realismus überlebt hat, werden seine Vertreter ihr Brot als Geheimpolizisten finden.»

Frank Wedekind war anders als die anderen: Ein Außenseiter, ein Pionier, ein Bahnbrecher. Er distanzierte sich von dem literarischen Mainstream seiner Zeit, dem Naturalismus. Seine Figuren sind nicht direkt der Realität nachempfunden, sondern konstruiert. In ihnen konzentrierte Wedekind oft die Eigenschaften eines ganzen Menschenschlages, einer Gesellschaftsschicht oder Lobby. Sie sind Modellcharaktere, die mehr repräsentieren als ein Individuum.

Und obwohl Wedekind ganze Handlungsgerüste der Realität entnommen hat, hat er doch stark abstrahiert und montiert. Er wollte eben nicht nur Geschichten erzählen, sondern auf allgemeine Zustände der Gesellschaft aufmerksam machen und Gedanken anstoßen.

Trotzdem hat er mitunter so getan, als sei er Naturalist. Er hat mit den Erwartungen des Publikums gespielt, um es zu locken und dann zu überraschen. So beispielsweise mit dem mehrfach geänderten Titel und Untertitel des Marquis von Keith, der sich zunächst mit genauen Orts- und Zeitangaben sehr naturalistisch gab.

Genarrt hat Frank Wedekind sein Publikum auch in seinen Vorträgen zum Ersten Weltkrieg. Scheinbar politisch korrekt sang er ein Loblied auf sein deutsches Vaterland – zum Beispiel über die Freiheit, die Schriftsteller da genössen. Das war natürlich der blanke Hohn, wenn man bedenkt, dass er der meistzensierte Autor seiner Zeit war – und auch seine Staatsangehörigkeit schon ’mal angezweifelt wurde. Oberflächlich gesehen aber heulte Wedekind mit den Wölfen.

Vielleicht aus Feigheit, möchte man meinen, jedenfalls aus dem Kalkül heraus, wie er sich gerade am besten durchschlagen oder an den Mann und die Frau bringen konnte. Das entsprach seiner Ethik. Märtyrer wollte er nie werden, dafür war er aber der erste professionelle Werbetexter der Firma Maggi. Für die Vermarktung seiner Dramen unternahm er ungewöhnlich viele Promotion-Reisen und -Treffen.

Ohne die eine oder andere Lüge kommen in seinen Stücken selbst strenge Moralisten nicht aus. In seinem Aufsatz Autobiographisches bleibt Wedekind nicht bei der Wahrheit. Um über sein Publikum zu spotten, das sich zu sehr für den Autor anstelle, seines Werkes interessiert, oder um seine Selbstdarstellung aufzupeppen?

Er war ein begnadeter Rezitator im Varieté, Dichter und Sänger. Seine Dramen grenzte er nicht streng von seinen sonstigen künstlerischen Talenten ab. Er schrieb nicht in Schubladen, sondern mischte Genres und spielte mit dem Übergang vom Tragischen zum Lächerlichen. So wurde er zum Tragikomiker und Eulenspiegel. Seine Stücke erforderten einen eigenen Stil des Schauspiels, das Wedekind auf ganz besondere Weise zu beeinflussen suchte, indem er oft selbst wichtige Rollen übernahm. Bei Schauspielern, Publikum und Kritik stieß er damit zunächst auf Unverständnis, wurde aber immer mehr als Pionier erkannt. Als solcher brach er Tabus für moderne Autoren, die von nun an freizügiger über Sexualität schrieben. Darum gehörte Wedekind für seinen Fan Bertolt Brecht auch «zu den großen Erziehern des neuen Europa».

Der Text ist entnommen aus:
http://www.frankwedekind.de/