Literatur
Irmtraud Morgner: Amanda
(Fortsetzung aus Nr. 13, 14/2007)
Ich kannte sie von Laura und fand die Redensart für die sonnige Situation auch passender als «Hosen voll». Die Vorstellung von zerlaufender Butter auf den Köpfen der Pyramidenspitze empfand ich entspannend.
Laura aber war noch immer schleierhaft, wieso zwei Mädchen plötzlich gleichzeitig zu wittern vermochten, daß sie jetzt klettern konnten, jetzt oder nie.
«Instinktsicherheit», sagte ich. Und Laura war eine Weile zufrieden mit mir. Zumal ich meinen Mantel inzwischen aufgegeben hatte und ebenfalls lag. Über mir so gut wie keine Sterne. Links Laura. Rechts ein Kaninchen. Als ich die Abnahme der Instinktsicherheit bei zunehmendem Alter bedauerte, wechselte das Kaninchen den Futterplatz. Es fraß nun mindestens drei Meter von mir entfernt.
Laura aber warnte vor nachträglichem Heroisieren. Denn ihre Freundin Inge und sie wären damals selbstverständlich nicht nur sicher gewesen, sondern auch unsicher. Und nachts ganz und gar unsicher und immer noch lieber im schaurig-dunklen, stinkigen, feuchten Keller. Die Erwachsenen schliefen seit Ende April bereits wieder angezogen in den Wohnungen. Die Mädchen schliefen bis Mitte Mai auf einer Matratze, die über Salmans Brikettvorrat gebreitet war – wem die Bomberangst mal in den Knochen sitzt, mein lieber Mann. Außer den beiden Mädchen keine Kinder im Haus. Und auf die Nachbarkinder und die übrige Grundfläche der Pyramide griff der Aufstand nicht über. Er begann, als die beiden Mädchen den nagelgespickten Zaun überkletterten und ihre Kellerschlafdecken auf den Bleichplan breiteten. Dann nahmen sie vorsichtig Platz und blinzelten vorsichtig in den Himmel. In ihm taumelten verkohlte und halbverkohlte Papierschnitzel. Als sich ein Flugzeug zeigte, versicherten sich Laura und Inge leise, daß es nichts mehr runterwerfen dürfte. Als der alte Lehrer Vörkel im letzten Fenster der rechten Trümmerhalde erschien, versicherten sie sich laut, daß sie den noch vor einer Woche mit einer Panzerfaust hätten rumrennen sehen. Vörkel war der gefürchtetste Lehrer der Schule gewesen, und die Mädchen glaubten ihn schon verschwunden nach der Devise: Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß. Aber er verschwand nicht. Und auch die anderen erhalten gebliebenen Fensterhöhlen ringsum füllten sich. Zum Entsetzen der Mädchen waren bald alle Balkone mit Zuschauern besetzt. Inge und Laura starrten auf die stumme Kulisse und erwarteten die Entladung. Als die Folter der Erwartung unerträglich wurde, blieb den Kindern nur die Flucht nach vorn.
Laura sprang auf, zerrte auch mich hoch und rannte zur Ruine des Deutschen Doms. Als sie das Luftschachtgitter betreten hatte, forderte sie mich auf, mir den Hof in gleicher Größe vorzustellen. Ein Klärgrubendeckel am anderen. Aber der Hof wäre den Kindern wie gesagt nicht nur nicht verboten gewesen, sondern als einziger Spielplatz geradezu erlaubt. Betreten erlaubt – mit Ausnahme der eisernen Klärgrubendeckel. Eine Erlaubnis, die den Bedürfnissen jedes ordentlichen Sadisten genügt hätte. Der Pfarrer mit seinen detaillierten Teufels- und Höllenschilderungen anläßlich der Kindergottesdienste wäre auch ein Sadist gewesen. Und Sadisten erzögen Sadisten. «Der Mensch wird von Zufällen geprägt», sagte Laura, «Schwein gehabt, daß ich fünfundvierzig nicht älter als zwölf gewesen bin und auch nicht jünger, Dusel gehabt, unbeschreibliches Glück. Denn älter wäre ich so oder so schon in die Scheiße reingetreten, und jünger hätte ich sie noch nicht begriffen und meine Chance folglich auch nicht. Einmalige Chance: Uns war der Ornat der Unschuld zugefallen, der kostbarste damals, unerschwinglich für die Erwachsenen ringsum, größer als unschuldig war keiner, uns konnte niemand das Wasser reichen, ‹die Bettler werden die Könige sein›, hatte der Pfarrer vom Himmelreich im Himmel behauptet und natürlich nicht für möglich gehalten, daß so was mal auf Erden ausbrechen könnte und er geduckt drinrum tappen müßte – Ornate aber verhelfen zu aufrechtem Gang.»
Laura stellte sich vor das Luftschachtgitter, hob die Arme, federte sie zurück, bis Hohlkreuz erreicht war, bog sich nach vorn, bis die Fingerspitzen die Fußspitzen berührten, zwiefache Berührung im Zweiertakt, vor zwei, zurück zwei, vor zwei, zurück zwei und so weiter und so fort, die anschließende Schilderung der Flucht nach vorn folglich keuchend.
Denn diese Flucht nach vorn wäre die Probe aufs Exempel gewesen. Und so eine Probe hätte nur auf den eisernen Klärgrubendeckeln stattfinden können.
Laura tänzelte auf dem Luftschachtgitter. Schienenstöße von fern, näher, nahe, Rauschen, Verrauschen. Lauras Rock wurde gebläht. Sie sah auf ihn herab, dann aufwärts zur Ruine. Klassizistischer Zentralbau. Die Mauerkronen mit Birken und geköpften Statuen bestanden. Laura zählte die Statuen und sagte, daß sie zur Probe mehr Zuschauer gehabt hätte. Zwickprobe als natürliche Reaktion. «Erst zwickten wir uns gegenseitig in die Arme und stellten fest: kein Traum», sprach Laura. «Dann zwickten wir die Ohren der Folterer, indem wir auf die Deckel sprangen. In normalen Zeiten hatte ein einziger Fehltritt genügt, um Geschnauze von Klofenstern und Balkonen herab in Gang zu setzen. Aber jetzt: Eiserne Kläranlagendeckel und Holzschuhe, das gibt Klänge. Das klirrt. Das dröhnt. Das trieb selbst die schuldbeladensten Feiglinge aus ihren Löchern. Aber nicht weiter. Kein Befehl, aus der Sonne zu gehen. Keine Drohung mit dem lieben Gott oder dem Teufel. Nicht mal Spucken oder Vogelzeigen.»
Laura sah sich mehrmals um, bevor sie praktisch vorführte, wie die Echtheit des Schweigens geprüft worden war. Dann Trampeln, Springen, wechselbeinig, beidbeinig, ein Eisengitter klingt schlechter als ein Eisendeckel, es war auch schnell gedellt. Laura korrigierte die Klangfarbe stimmlich, sie hieb mit Füßen und Kreischen wie besessen auf das abendliche Schweigen ein, sie tobte vielleicht drei Minuten.
Später lugte sie sachlich durchs Gitter und in die Runde. Der unterirdische Verkehr lief fahrplanmäßig. Die Stille der City kehrte in gewohnter Weise zurück. «Keine besonderen Vorkommnisse», sagte Laura. Auch versicherte sie, nicht machtbewußt gewesen zu sein. «Uns sättigte, daß keine Macht uns zwiebeln konnte», sagte Laura.
[…]
schlei|er|haft <Adj.>: in der Verbindung jmdm. s. sein/bleiben (ugs.; jmdm. unerklärlich, ein Rätsel sein, bleibenÿ): wie er das fertig gebracht hat, ist mir s.
wit|tern <sw. V.; hat> [mhd. witerenÿ= ein bestimmtes Wetter sein od. werden; weidm.: Geruch in die Nase bekommen, zu Wetter]: 1. (Jägerspr.) a) durch den Geruchssinn etw. aufzuspüren od. wahrzunehmen suchen; einen durch den Luftzug herangetragenen Geruch mit feinem Geruchssinn zu erkennen suchen: das Reh, der Luchs wittert; b) etw. durch den Luftzug mit dem Geruchssinn wahrnehmen: der Hund wittert Wild, eine Spur; das Pferd lief schneller, als es den Stall witterte. 2. mit feinem Gefühl etw., was einen angeht, ahnen: überall Böses, Unheil, Verrat, Gefahr w.; ein Geschäft, eine Möglichkeit, eine Sensation w.; in jmdm. eine neue Kundin, einen Feind w.
ver|mö|gen <unr. V.; hat> [mhd. vermügen, zu mögen] (geh.): 1. <mit Inf. mit «zu»> die nötige Kraft aufbringen, die Fähigkeit haben, imstande sein, etw. zu tun: er vermag [es] nicht, mich zu überzeugen; nur wenige vermochten sich zu retten; wir werden alles tun, was wir [zu tun] vermögen. 2. zustande bringen, ausrichten, erreichen: sie vermag bei ihm alles, wenig, nichts; Vertrauen vermag viel.
zu|mal: I. <Adv.> [mhd. ze maleÿ= zugleich] besonders, vor allem, namentlich: alle, z. die Neuen, waren begeistert/alle waren begeistert, z. die Neuen; sie nimmt die Einladung gern an, z. da/wenn sie allein ist. II. <Konj.> besonders da, weil; vor allem da: sie nimmt die Einladung gern an, z. sie allein ist.
nach|träg|lich <Adj.>: hinterher geschehend, erfolgend; später, danach: -e Glückwünsche.
über|grei|fen <st. V.; hat>: 1. (bes. beim Klavierspielen, Geräteturnen) mit der einen Hand über die andere greifen. 2. sich auch auf etw. anderes ausdehnen; auch etw. od. (seltener) jmdn. anderes erfassen: das Feuer griff rasch auf die umliegenden Gebäude über; die Epidemie, der Streik hat auf andere Gebiete übergegriffen. 3. unzulässigerweise in einen fremden Bereich eingreifen: in den Bereich der Justiz ü.
blin|zeln <sw.ÿV.; hat> [mhd. blinzeln, wahrsch. verw. mit blinken]: (bes. bei Reizung durch Licht od. bei Müdigkeit) die Augenlider rasch auf u. ab bewegen: angestrengt b.; in der Sonne b.; jmdn. blinzelnd ansehen.
Trüm|mer <Pl.> [spätmhd. trümer, drümer, Pl. von: drum, Trumm]: Bruchstück, Überreste eines zerstörten größeren Ganzen, bes. von etw. Gebautem: rauchende, verstreut liegende T.; die T. eines Flugzeugs; T. beseitigen, wegräumen; die Stadt lag in -n (war völlig zerstört), war in T. gesunken (geh.; war zerstört worden); der Betrunkene hat alles in T. geschlagen (entzweigeschlagen); bei der Explosion sind alle Fensterscheiben in T. gegangen (entzweigegangen); etw. in T. legen (völlig zerstören); viele waren unter den -n begraben; Ü er stand vor den -n seines Lebens. Hal|de, die; -, -n [mhd. halde, ahd. halda = Abhang, Substantivbildung zu einem germ. Adj. mit der Bed. «geneigt, schief, schräg» u. eigtl.ÿ= die Schiefe]: 1. (geh.) [sanft] abfallende Seite eines Berges od. Hügels, Bergabhang: eine lichte H. 2. a) (Bergbau) künstliche Aufschüttung von Schlacke od. tauben Gesteinsmassen: alte -n begrünen; b) Aufschüttung von [zurzeit] nicht verkäuflichen [Kohle]vorräten: die -n zum Verkauf in revierferne Gebiete verlagern; Ü -n (große Lager) unverkaufter Ware; *auf H. (auf Lager, in Vorrat): eine große Zahl von auf H. befindlichen Wagen.
zer|ren <sw. V.; hat> [mhd., ahd. zerren, verw. mit zehren, eigtl.ÿ= (zer)reißen]: 1. mühsam od. mit Gewalt, gegen einen Widerstand, meist ruckartig ziehen, ziehend fortbewegen: jmdn. aus dem Bett, auf die Straße, in ein Auto z.; Ü jmdn. vor Gericht, etw. an die Öffentlichkeit z. 2. (aus Widerstreben, Unmut, Ungeduld o.ÿÄ.) heftig reißen, ruckartig ziehen: er zerrte an der Glocke, der Kordel; der Hund zerrt an der Leine; Ü der Lärm zerrt an meinen Nerven (ist eine große Belastung für meine Nerven). 3. zu stark dehnen, durch Überdehnen verletzen: wann hast du dir die Sehne, den Muskel gezerrt?; die Bänder sind bei der Verstauchung glücklicherweise nur leicht gezerrt worden.
Du|sel, der; -s [aus dem Niederd., zu dösen] (ugs.): a) unverdientes Glück, wobei jmdm. etw. Gutes widerfährt od. etw. Unangenehmes, Gefährliches an jmdm. [gerade noch] vorübergeht: mit ihrem Geschäft hat sie [großen] D. gehabt; b) (landsch.) Benommenheit, Schwindelgefühl; c) (landsch.) leichter Rausch: er war ständig im D.
Or|nat, der, auch das; -[e]s, -e [mhd. ornat < lat. ornatusÿ= Ausrüstung; Schmuck, zu: ornare, Ornament] (bildungsspr.): feierliche [kirchliche] Amtstracht: ein Pfarrer im O.
jmdm. nicht das Wasser reichen können: jmdm. an Fähigkeiten, Leistungen nicht annähernd gleichkommen; im MA. wurde vor den Mahlzeiten Wasser zur Reinigung der Hände herumgereicht; die Wendung meinte urspr., dass jmd. es nicht einmal wert sei, diese niedrige Tätigkeit auszuüben.
die Probe aufs Exempel machen: etw. durch Ausprobieren am praktischen Fall auf seine Richtigkeit prüfen.
Fehl|tritt, der: a) falscher, ungeschickter Tritt: ein F. im Gebirge kann das Leben kosten; b) (geh.) [sittliche] Verfehlung: einen F. tun, begehen; sich eines -s schuldig machen; c) (veraltend) (von der Gesellschaft verpönte) Liebesbeziehung einer Frau, aus der ein nicht eheliches Kind hervorgegangen ist.
Aus: Irmtraud Morgner: Amanda. Ein Hexenroman. Aufbau-Verlag, Berlin & Weimar 1983. S. 19–28.