Главная страница «Первого сентября»Главная страница журнала «Немецкий язык»Содержание №15/2007

Hauslektüre im Deutschunterricht

Didaktisierungsvorschlag zum Buch von Christine Nöstlinger «Das Austauschkind»

Erstellt von N. Bunjajewa und I. Schorichina, Moskau

Fortsetzung aus Nr. 06, 09, 10, 12, 13, 14/2007

Lesetext
Kapitel 6

Montag, 20. Juli
Bille und ich schliefen lange, weil wir bis spät in die Nacht wach gewesen waren. Zu zweit in einem Zimmer schlafen, mit jemandem, den man mag, kann sehr schön sein. Bille und ich haben das Leben besprochen, halb drei war es, als wir uns endlich gute Nacht wünschten. Über den Jasper haben wir auch geredet. Und wir waren uns nicht einig über ihn. Bille hat gesagt, sie findet ihn überhaupt nicht schrecklich. Sie hat behauptet, ich habe die Vorurteile von Peter Stollinka übernommen. Nach einem halben Tag, hat sie gesagt, kann man über einen Menschen noch kein Urteil abgeben. Und solange man kein Urteil abgeben kann, war ihre Ansicht, soll man von einem Menschen nur Gutes denken. Das klingt sehr edel. Aber ich habe das Gefühl gehabt, Bille nimmt den Jasper bloß in Schutz, weil er sich so benimmt, wie unsere Eltern das gar nicht mögen. Mir ist vorgekommen, sie freute sich diebisch, weil unsere Eltern nicht wussten, wie sie mit Jasper umgehen sollten. Ein völlig fremdes Kind kann man nicht so gut ankeppeln wie ein eigenes. Auch zum Predigten-Anhören eignete sich Jasper nicht. Weil er ja ablehnte, Deutsch zu können. Und so gut Englisch, dass es für Erziehungspredigten reicht, meinte nicht einmal mein Vater zu können. Erst um halb zehn standen Bille und ich auf. Die Mama schaute uns ein bisschen sauer an. Sie hat es nicht gern, wenn man «in den Betten herumkugelt». Auch in den Ferien nicht. Sie selber ist eine Frühaufstehnatur. Und möchte, dass wir auch welche werden. Jasper, sagte uns die Mama, schlafe noch. Das hörten wir. Aus meinem Zimmer drang nämlich kolossales Geschnarche. Eigentlich, sagte die Mama, habe sie die Absicht gehabt, dem Jasper heute den Wienerwald und den Kahlenberg und den Leopoldsberg zu zeigen. Der Papa habe ihr extra deswegen den Wagen dagelassen. «Aber wenn er noch lang schläft», sagte sie unwillig und schaute auf die Uhr, «dann wird es zu spät!» «Weck ihn halt auf!», schlug Bille vor. «Meinst du?» Die Mama zögerte. «Ach nein», sagte sie dann. «Am ersten Tag lasse ich ihn ausschlafen!» Bille stieß mich mit einem Ellbogen in die Rippen. «Sie traut sich einfach nicht», sagte sie kichernd, «das find ich schick! Sie wagt nicht, den Knaben zu wecken! Dafür schenk ich ihm fünf Schilling!» (Meine Mutter ist nämlich ansonsten eine Expertin im Aufwecken. Manchmal könnte man tatsächlich meinen, sie habe ein Vergnügen daran, einen aus dem Schlaf zu rütteln. Besonders, wenn sie mit nassen Waschlappen oder Decke-Wegziehen arbeitet.)

Jasper kam, als wir zu Mittag aßen, aus meinem Zimmer. Er taumelte schlaftrunken ins Vorzimmer. Durch die offene Wohnzimmertür hatten wir einen guten Ausblick auf ihn. Meiner Mutter fiel das Eiernockerl, das sie gerade zum Mund führen wollte, von der Gabel und sie stieß einen leisen Quietscher aus. Jasper taumelte nämlich nackt! Nacktes Herumlaufen ist in unserer Familie nicht üblich. Ein direktes Nacktgehverbot haben wir zwar nicht, aber keiner tut es. (Bloß Bille marschiert hin und wieder nur im Slip aus ihrem Zimmer ins Bad. Aber da schau ich, wenn ich ihr zufällig in die Quere komme, schnell weg.) Jasper taumelte zur Speisekammer und riss die Tür auf. Als er die Regale mit den Marmeladengläsern sah, schlug er die Tür wieder zu. «Take the door on the left side!», rief Bille ins Vorzimmer hinaus. Jasper taumelte nach links und verschwand im Klo.

«Bring ihm deinen Bademantel», sagte die Mama zu mir.

«Wieso meinen?», protestierte ich. (Ich bin nicht geizig, aber der Bademantel ist – speziell in den Ferien – ein sehr wesentliches Kleidungsstück für mich.) «Dann bring ihm meinen», sagte die Mama. «Warum eigentlich?», fragte Bille. In ihrer Stimme war etwas Lauerndes. «Findest du nackte Menschen anstößig?»

«Natürlich nicht», sagte die Mama. «Warum soll er dann nicht? Es ist ja nicht kalt!» Bille schaute unschuldig wie ein neugeborenes Lamm. «Wir gehen eben nicht nackt! Und basta!», rief die Mama, aber ein Basta der Mama wirkt auf die Bille noch lang nicht so hindernd wie ein Basta vom Papa. «Wir brauchen ja nicht nackt zu gehen», sagte Bille. «Es geht doch darum, ob er nackt gehen darf!»

«Findest du etwa den nackten Jasper hübsch?» Die Mama schien eine andere Argumentationstour einlegen zu wollen.

«Mit einer Unterhose ist er auch nicht hübscher», sagte Bille. Ich wollte ihr – aus geschwisterlicher Solidarität – beistehen und sagte: «Außerdem sieht man ja eh nichts! Sein Bauch hängt ja drüber!»

Bille kicherte und die Mama wurde – ich schwör’s –, wurde tatsächlich rot im Gesicht. Draußen rauschte die Wasserspülung. «Ewald!» Ein Hauch von Panik war in der Stimme meiner Mutter. «Den Bademantel, bitte!» Bevor ich noch meinen Hintern richtig vom Sessel gehoben hatte, war aber Jasper schon wieder in meinem-seinem Zimmer verschwunden. Bille grinste. «Leg ihm meinen Bademantel auf sein Bett», sagte die Mama, «dann kapiert er sicher, dass er ihn anziehen soll!»

Bille warf mir einen zwingenden Blick zu. Der hieß: Geh nicht! Trag den Bademantel nicht rein!

Ich sagte: «Dein Bademantel hat drei Reihen Rüschen und ist voll Veilchensträußen! Nie kommt er auf die Idee, dass er den anziehen soll!»

«Dann bring ihm den vom Papa!», rief die Mama.

«In dem stolpert er sich ein Gipsbein», sagte Bille. (Der Papa ist nämlich fast zwei Meter groß.)

Jasper enthob uns der weiteren Debatte. Er kam wieder aus meinem-seinem Zimmer. Diesmal mit einem T-Shirt und einer üppigen, gestreiften Baumwoll-stoffunterhose bekleidet. Er ging in die Küche, ohne uns eines Blickes zu würdigen, man hörte die Kühlschranktür klappen, dann kam Jasper mit einem 1-Liter-Milchpaket retour, durchquerte das Vorzimmer, die aufgerissene Milchpackung an den Lippen, verschwand wieder in meinem-seinem Zimmer und hinterließ – weil man aus Milchpaketen schlecht trinken kann – eine breite Milchtropfenspur. «So was von Kind hab ich noch nie gesehen», sagte die Mama.

«Man lernt eben nie aus», sagte Bille und stand vom Mittagstisch auf. Sie wirkte unheimlich vergnügt. Dreimal an diesem Tag holte sich Jasper noch Milch. Dann war unser Milchvorrat erschöpft. Und dreimal ging er aufs Klo. Außer zum Milchholen und Klogehen kam er nicht aus dem Zimmer. (Ich habe beschlossen, meinen Besitzanspruch an diesem Raum für die Dauer dieser Niederschrift aufzugeben. Ab jetzt werde ich das Zimmer «sein Zimmer» nennen.)

Auch zum Nachtmahl kam Jasper nicht. «He is not hungry», richtete uns Bille aus, die ihn zum Nachtmahl hatte holen sollen.

Irgendwann dann, spät am Abend, Bille und ich waren längst im Bett und der Papa und die Mama auch, hörte ich Schritte im Vorzimmer. Aber Licht wurde nicht gemacht. Das hätte ich gesehen, weil Billes Zimmertür schlecht schließt. Wenn im Vorzimmer Licht brennt, ist an der Tür unten ein heller Streifen.

«Er latscht im Vorzimmer herum», sagte ich zu Bille hinüber. Aber die schlief schon. Ich zog mir die Decke über die Ohren und dachte: Das kommt davon, wenn sie einem ein Austauschkind aufhalsen! Jetzt sollen sie schauen, wie sie mit ihm zurechtkommen! Aber sehr glücklich machte mich dieser Gedanke nicht. Irgendwie waren mir die Schritte im Vorzimmer recht traurig vorgekommen.

Dienstag, 21. Juli
Jasper schlief wieder bis Mittag, trank dann zwei Liter Milch und zog sich in sein Zimmer zurück.

«So kann das nicht weitergehen», sagte meine Mutter sichtlich nervös.

Gegen Abend riefen Mr. und Mrs. Pickpeer bei uns an.

Mein Vater war noch nicht zu Hause. Meine Mutter war gerade zur Milchfrau gegangen, weil die Milch wegen Jasper schon wieder futsch war.

Ich nahm den Anruf der Pickpeers entgegen. Aber mehr, als dass da die Pickpeers aus London sprachen und wissen wollten, wie es ihrem Sohn gehe, verstand ich nicht. Also rief ich nach Bille und übergab ihr den Hörer. Bille übernahm und lauschte. (Dabei hielt sie die Sprechmuschel zu und sagte zu mir: «Sie halten mich schon wieder für die Mama!» Das gefiel ihr sichtlich.)

Dann sagte Bille – in den Hörer hinein – ein paar Mal «Oh no, oh no» und «really not». Und einmal: «No, no, he is a nice fellow! I like him!» Und dann lauschte sie wieder und dann rief sie zu Jaspers Zimmertür hin: «Jasper, your parents!»

Jasper kam, üppig beunterhost, aus dem Zimmer. Bille hielt ihm den Hörer hin. Jasper nahm ihn, lauschte und schüttelte den Kopf. Er gab den Hörer wieder Bille. Aus dem Hörer kamen bloß Knorz- und Knarrgeräusche. Die Leitung nach London musste unterbrochen worden sein.

«Sorry», sagte Bille. Jasper nickte ihr zu und ging in sein Zimmer.

Gerade als er hinter der Tür verschwunden war, kam die Mama keuchend mit vier Milchpaketen in die Wohnung. (Wir keuchen alle, wenn wir heimkommen. Wegen der vier Wendeltreppenstockwerke. Wendeltreppen verleiten nämlich dazu, dass man sie unheimlich schnell erklimmt.)

«Die Pickpeers haben wieder angerufen», informierte Bille die Mama.

«Was haben sie gesagt?», fragte die Mama und trug die Milchpakete in die Küche. Bille ging hinter ihr her. Ich auch.

Bille schloss die Küchentür. «Damit er uns nicht hört», sagte sie. «Ich glaub, der versteht ziemlich gut Deutsch!» Und dann erzählte uns die Bille, was die Pickpeers, soweit sie es verstanden hatte, gesagt hatten:

Die Pickpeers hatten gefragt, ob wir mit dem Jasper zurechtkommen. Wenn dies nicht der Fall sei, dann sollten wir ihn zurückschicken. Er sei nämlich, das wüssten sie selber, ein Problemkind. Ein schwieriger Fall. Und sie hätten ihn auch nie im Leben auf Austausch geschickt, wenn sich das nicht durch Toms Gipsbein so ergeben hätte. «Sein Psychologe nämlich ...», sagte Bille, kam aber nicht zum Weiterreden, weil sie von der Mama unterbrochen wurde. «Sein was?», fragte die Mama. Sie machte ein völlig erschrockenes Gesicht. Bille zuckte mit den Schultern. «Anscheinend hat er einen Psychologen! Und der hat, haben die Pickpeers gesagt, schon lange gemeint, man soll den Jasper einmal in eine andere Umgebung schicken. Dass das vielleicht hilft – oder so.»

«Wieso hat er einen Psychologen?», fragte die Mama, setzte sich aufs Küchenstockerl und legte die Milchpakete in den Schoß.

Bille sagte, das wisse sie nun wahrlich auch nicht. Und überhaupt sei das, was sie eben erzählt habe, beinahe nur Vermutung. Sie sei kein diplomierter Dolmetscher. Sie könne nicht für jeden Satz garantieren. Aber die Pickpeers, sagte Bille, würden morgen oder übermorgen am Abend ohnehin wieder anrufen. Dann könne sich die Mama ja genau erkundigen.

Zum Nachtmahl gab es Tafelspitz, Schnittlauchsoße und Erdäpfelschmarren. Jasper, von Bille aus dem Zimmer geklopft, kam zum Esstisch. Meine Mutter freute sich.

Das sah man ihr an. Mein Vater freute sich auch. Er lächelte meiner Mutter zu. So auf die Art: Na, siehst du! Schön langsam geht es ja! Man darf nur die Geduld nicht verlieren!

Jasper setzte sich zum Tisch. Sehr misstrauisch schaute er auf die Platte mit dem Essen. Meine Mutter nahm Jaspers Teller und legte ihm eine ordentliche Portion auf. Ich beobachtete Jasper und sah, dass sich zum Misstrauen in seinem Blick nun auch Gram – um die Mundwinkel herum – gesellte. Ich verstand das! Meiner Mutter Griff nach meinem leeren Teller ist mir auch nie recht! Schließlich bin ich ja kein Baby mehr. Ich könnte mir selbst nehmen, was ich essen will. Aber meine Mutter ist der Ansicht, dass ich mir die verschiedenen Speisen dann nicht in ausgewogenen Mengen nehme. Also zu viel Fleisch und zu wenig Gemüse. Oder zu viel Soße und zu wenig Erdäpfel. Oder überhaupt: Zu viel! Oder: Zu wenig! Meine Mutter teilt sogar meinem Vater das Essen zu. Nicht einmal den hält sie für reif genug, seine Bedürfnisse zu kennen.

Jasper nahm den gefüllten Teller entgegen, dann stand er auf und holte vom Sideboard die Ketchup-Flasche. Ketchup wird bei uns sonst nur zu Gegrilltem gegessen. Zu Tafelspitz und Schnittlauchsoße passt es ja wirklich nicht! Aber was einer zu was mag, sollte man ihm schließlich selbst überlassen. Ich fand daher das entsetzte «No-no-no, Jasper!» meiner Mutter reichlich übertrieben.

Jasper scherte sich aber ohnehin nicht darum. Er schraubte die Flasche auf und schüttete den gesamten Inhalt der Flasche über Fleisch, Erdäpfel und Soße. Auf seinem Teller war ein großer, roter Berg. An dem löffelte Jasper so lange herum, bis Tafelspitz, Erdäpfel und Soße – rot verschmiert – wieder zum Vorschein kamen. Dann legte er den Löffel weg, goss sich den Rest Bier, der noch in Papas Bierflasche war, ins Glas, trank, rülpste, stand auf und wanderte in sein Zimmer. Meiner Mama stiegen Tränen in die Augen. Sie wischte die Tränen weg, versuchte zu lächeln und sagte: «Das sind nur die Nerven! Die dummen Nerven!»

Mittwoch, 22. Juli
Donnerstag, 23. Juli
Freitag, 24. Juli

Die Situation war unverändert. Jasper trank literweise Milch und aß am Mittwoch das nachgekaufte Ketchup. (Seither hat die Mama kein neues mehr gekauft.) Er blieb in seinem Zimmer. Nur in den Nächten tappte er im finsteren Vorzimmer herum. Seit der Nacht von Donnerstag auf Freitag wusste ich auch, was es damit auf sich hatte! Als ich ihn nämlich da wieder tappen hörte, stand ich auf, schlich zur Tür, machte sie einen Spalt auf und linste hinaus. Im Vorzimmer war es finster, aber die Speisekammertür war offen und in der Speisekammer brannte Licht.

Jasper stand dort und holte aus den Regalen ein Glas Marillenmarmelade und eine Dose Fisch. Und aus der Tiefkühltruhe nahm er eine Familienpackung Eis. Dann löschte er das Speisekammerlicht und tappte im Dunkeln zu seinem Zimmer. Als er an mir vorbeikam, so nahe, dass ich nach ihm hätte greifen können, wollte ich ihm zuraunen: «Von dieser Kombination wird dir doch speiübel!» Das habe ich aber sein lassen, weil ich mir gedacht habe, er könnte erschrecken und das Marmeladenglas fallen lassen.

Am Morgen dann habe ich Bille meine nächtliche Beobachtung erzählt. Sie hat mich auf Vater-Mutter-Kind-tot-blind schwören lassen, dass ich es nicht der Mama sage. Das habe ich aber ohnehin nicht vorgehabt. Weniger aus Zuneigung zu Jasper, sondern weil es die Mama nur noch nervöser gemacht hätte. Ein komplettes Nervenbündel war sie ja schon. Der Papa hat das auch gemerkt. Ich habe gehört, wie er einmal am Abend zur Mama gesagt hat: «Meine Liebe, du gehst ja direkt auf den Wimpern! Den Kerl stehst du keine sechs Wochen durch, das sag ich dir! Wenn die Pickpeers wieder anrufen, erkläre ich ihnen, dass es mit ihrem Sohn einfach nicht geht! Dass wir ihn zurückschicken müssen!» Und dann schimpfte der Papa noch, dass es eine Zumutung von «diesen Leuten» sei, so ein Kind auf fremde Leute «loszulassen».

«Wenn sie sich einen derartigen Untam großziehen», sagte er, «dann sollen sie ihn gefälligst allein ausbaden!» Und dann hat der Papa noch gesagt: «Aber wenigstens über die eigenen Kinder kann man sich wieder freuen, wenn man sieht, wie andere sein können!» Dieser Satz erfüllte mich mit großer Genugtuung!

Fortsetzung folgt

Nach: Christine Nöstlinger: Das Austauschkind. Verlag Beltz, 2. Aufl. 2006.