Главная страница «Первого сентября»Главная страница журнала «Немецкий язык»Содержание №16/2007

Das liest man in Deutschland

Der Magier des Banalen

Mit seinem Erzählungsband «HANDY» ist der listenreiche Erzähler Ingo Schulze wieder auf dem Höhepunkt seines Könnens.

«Überall ist Wunderland / Überall ist Leben / Bei meiner Tante im Strumpfenband / Wie irgendwo daneben.» Das dichtete der gute alte Ringelnatz, schräg und frivol, wie er halt so war, melancholisch und skurril, mit den neugierigen Augen eines Kindes und mit den spöttischen eines Alten auf die Welt blickend.

Beim Lesen von Ingo Schulzes neuen Geschichten hat man wieder dieses Ringelnatz-Gefühl – wie schon damals bei seinem Erzählungsband Simple Storys von 1998. Nach seinem umfangreichen Roman Neue Leben (2005) ist er dorthin wieder zurückgekehrt, wirkt jetzt aber noch etwas schräger und auf den ersten Blick wirklich «irgendwo daneben», weil diese dreizehn geschichten in alter manier (so der Untertitel) selten eine Pointe haben und keineswegs immer ein zentrales Thema.

Schon wahr: Es sind einige der schönsten Liebesgeschichten darunter, die man sich heutzutage denken kann, erzählt mit intelligenter, verkappter Sentimentalität und doch insofern realistisch, als klar ist, dass auch die Liebe vom Gesetz des Zufalls nicht frei sein kann. Diesem Zufall gibt sich Schulze mit einiger Kühnheit hin und geht manchmal bis an den Rand der Dreistigkeit. «Bevor ich von unseren Tagen in Käsmu erzähle, will ich noch eine Episode erwähnen, die eigentlich nichts mit dieser Geschichte zu tun hat», heißt es einmal, und was dann kommt, ist wirklich die bloße Abschweifung. Man muss sich seiner Sache schon ziemlich sicher sein, um dermaßen regelwidrig und scheinbar fahrlässig herumzufuhrwerken, aber der überraschende, der wunderbare Effekt stellt sich ein: Die Wirklichkeitsillusion ist perfekt. Man hört diesem unaufgeregten Erzähler zu, als erzähle er die aufregendsten Dinge. Uns ist, als würden wir Zeugen realer, handgreiflicher Vorgänge, als wären wir nicht bloß Leser einer Geschichte, die jemand kunst- und absichtsvoll zu Papier gebracht hat.

Diese Kunst völliger Kunstferne, diese Literatur des scheinbar Nichtliterarischen wirkt, je länger man sich ihr aussetzt, wie ein Geniestreich. Nehmen wir die Geschichte Eine Nacht bei Boris. Dieser Boris ist ein nicht mehr ganz junger Mann, mit dem der Erzähler auf unklare Weise befreundet ist. Sie kennen sich flüchtig aus der Schulzeit und sind einander immer wieder mal über den Weg gelaufen. «Wir trafen kurz nach Weihnachten vor dem defekten Leergutautomaten der Extra-Kaufhalle aufeinander. Boris geriet in übertriebene Aufregung, wie ich fand.» Der defekte Leergutautomat – was so anfängt, geht entweder völlig daneben, oder es wird interessant.

Es gibt also eine Einladung zum Essen, Boris ist Hobbykoch. Der Abend beginnt ausgesprochen verkrampft, der Erzähler, seine Frau und die weiteren vier Gäste kennen sich nicht oder kaum, Boris hantiert in der Küche, und seine neue Freundin Elvira, ein geradezu erschreckend junges Ding, bleibt stumm. Man bringt das Essen hinter sich. «Bis wir den Tisch verließen und uns auf die Viersitzer verteilten, war eigentlich nichts passiert, was zu berichten sich lohnte.»

Das ist wieder einer dieser unverfrorenen Sätze. Immerhin sind bis dahin schon sechs Buchseiten vergangen, denen man nicht ohne Interesse gefolgt ist. Warum? Zunächst deshalb, weil Schulze ein begnadeter Erzähler ist, der Menschen und Situationen mit wenigen Strichen zeichnen kann. Dann aber, weil jeder Leser die Peinlichkeit solcher Abende kennt. Zuweilen entlädt sich da etwas, steigert sich – vielleicht entfesselt vom Alkohol – zur kleinen Katastrophe.

Die Katastrophe liegt auch hier in der Luft, denn niemandem bleibt die wachsende Gereiztheit zwischen Boris und Elvira verborgen. Sie zeigt sich, als das blasse Mädchen endlich zu sprechen beginnt und harmlos eine alltägliche Geschichte erzählt. Je lebendiger sie wird, umso häufiger wirft sich der allmählich unerträgliche Boris besserwisserisch dazwischen, und weil das nicht mehr zum Aushalten ist, fängt eine Frau ihrerseits an, eine Geschichte zu erzählen, die dann im Dialog mit dem Ehepartner («Na warte mal», sagte Pawel, «so wie du das erzählst, versteht das niemand») weitergeführt wird; und kaum ist die zu Ende, fängt jemand anderer eine neue an, damit nur ja die Peinlichkeit nicht wiederkehre, und so trinkt man, erzählt man und bemerkt plötzlich, dass Elvira eingeschlafen ist. Auch den Leser ergreift eine schlafwandlerische Leichtigkeit, als wäre schlechthin alles, was passiert, erzählenswert, und als könnte, so lange erzählt wird, nichts passieren.

Dabei sind alle diese Binnengeschichten nicht besonders sensationell. Sie handeln von einer abenteuerlichen Bootsfahrt im Urlaub oder von einer missglückten ersten Liebesbegegnung, und nur der Erzähler, also gewissermaßen Ingo Schulze, bekennt: «Ich selber habe nichts erzählt. Mir widerfährt nichts, was sich zu einer Geschichte fügen würde.» Dennoch fällt ihm eine ein, die er neulich im Radio gehört hat, und er stellt sich vor, davon zu erzählen, aber er tut es nicht, bis es heißt: «Ines und Pawel sagten, sie würden jetzt aufbrechen. Boris nickte, aber weder er noch die beiden erhoben sich.» Und jeder weiß, dass es nun spät werden wird. So auch hier, und den Erzähler ergreift eine solche Müdigkeit, dass auch er entschläft. Am nächsten Morgen erfährt er von Boris den überraschenden Grund seiner Gereiztheit, aber das muss hier nicht auch noch erzählt werden.

Ingo Schulze ist ein Magier des Banalität. Er bringt sie zum Leuchten, indem er so tut, als wäre er bloß Berichterstatter dessen, was ohnehin geschieht. In der weiteren Erzählung einer überaus merkwürdigen alltäglichen Begebenheit heißt es: «Ein paar Wochen später schrieb ich diese Geschichte auf. Vielleicht konnte ich sie anstelle eines zugesagten Zeitungsartikels verwenden. Allerdings hatte ich bisher noch nie von der Wirklichkeit abgeschrieben. Deshalb war mir mein Vorhaben etwas unheimlich.»

Von der Wirklichkeit abschreiben? Wer will, kann über diesen Satz lange nachdenken und wird vermutlich zu keinem Ende kommen. Klar ist nur, dass Ingo Schulze ein listiges und am Ende befreiendes Spiel mit den Möglichkeiten des Schreibens betreibt. Er tut so, als wäre der Erzähler mit dem realen Ingo Schulze identisch, aber wenn wir genau hinsehen, bemerken wir, dass die verschiedenen Erzähler Vervielfältigungen von Schulze sind, dass sie verschiedene Aspekte einer multiplen, geradezu monströs aufmerksamen und aufnahmefähigen Persönlichkeit verkörpern, die ebenso Schulze wie Nichtschulze ist.

Da gibt es zum Beispiel den cleveren Geschäftsmann in der fast schönsten Erzählung Die Verwirrungen der Silvesternacht. Die Geschichte beginnt mit dem Umsturz in der DDR und mit der ebenso umstürzenden Liebesgeschichte zwischen dem Erzähler und einer jungen Schauspielerin. Die beiden sind tätiger Teil jenes enthusiastischen Aufbruchs, der für einen Augenblick den Himmel auf die Erde holte – und beide sind in diesem Augenblick füreinander der Himmel.

Aber dann beginnt die Normalität. Der Erzähler, der für die Demonstranten Flugblätter kopiert hatte, macht wenig später einen Kopierladen auf, und während seine Julia in einem fernen Stadttheater spielt, geht ihm eine gewisse Ute bei der Ausdehnung seiner Geschäftsfelder zur Hand. «Was Sex betraf, waren Ute und ich wie füreinander geschaffen. ‹Wir rammeln ganz schön rum›, sagte Ute einmal. Sie sagte es wie ‹Wir machen ganz schön viel Geld.› Sie hätte aber auch das Gegenteil behaupten können. Verstehen Sie?»

Das Ende der großen Liebe nähert sich unausweichlich, der Leser merkt es schneller als der Erzähler. Der nämlich hängt an seiner Verflossenen wie an einem großen Traum. Und als sich – immerhin zehn Jahre danach – die Silvesternacht des Jahres 1999 nähert, begegnet er Julia endlich wieder. Aber diese Nacht ist wirklich fast so verwirrend, als wäre Kuttel Daddeldu an Land gegangen. Denn irgendwie mischt sich plötzlich eine sehr attraktive Claudia dazwischen, und als er seine Julia endlich in den Armen hält, heißt es: «Wir hielten uns fest, zwei Schauspieler auf einer Probe, die die nächste Regieanweisung erwarten. Ich versuchte noch, meine Hand unter Julias Bluse zu schieben, gab es aber schnell auf.» In diesem Augenblick sehen wir den ehemaligen Revolutionär nur noch als kleinen Kopierladenbesitzer, der mit seiner Ute gut bedient ist (bei der er dann auch bleibt).

So erzählt, wirkt die Geschichte umweglos und schnell, was Schulzes Sache selten ist. Denn da ist noch ein Bagger wichtig, der auf einen Blindgänger stößt; auch der Blick ins Fenster gegenüber, wo am Vorabend der Jahrtausendwende ein Paar sich liebt. So wie in jener anderen Geschichte vom Nachbarssohn Kevin, der nach einem Unfall ins Koma gefallen ist, eine Mausefalle ihre etwas unklare, unheimliche Rolle spielt.

Nichts ist, wenn man es genau nimmt, ohne Belang, überall ist Wunderland, und was Schulze in seinem ebenso tröstlichen wie schönen Geschichtenbuch zeigt, ist eine Illustration dessen, was Kafka einmal notiert hat: «Das ganze Leben ist eine einzige Ablenkung, die nicht einmal darüber zur Besinnung kommen lässt, wovon sie ablenkt.» Der Unterschied ist nur, dass man bei Ingo Schulze die Ablenkungen lieben lernt.

Von Ulrich Greiner

Ingo Schulze: HANDY. dreizehn geschichten in alter manier. Berlin Verlag, 2007.

Der Text ist entnommen aus:
http://www.zeit.de/2007/13/L-Schulze?page=all