Главная страница «Первого сентября»Главная страница журнала «Немецкий язык»Содержание №16/2007

Literatur

Herta Müller: Barfüßiger Februar

Barfüßiger Februar
Jetzt ist die Zeit gleich nach dem Tode eines Freundes.

Die lange Reise war ein Schienenstrang, das Eisen der Behörden. Das Abteil fuhr. Die Scheibe hetzte Bilder. Nur der Kieferknochen war zerschlagen. Nur der Blick erfroren von der Kälte der Verhöre. Nur die Briefe und Gedichte nackt und ausgelacht.

Die Ankunft war der Winter. Fremd war das Land und unbekannt die Freunde. Die Bäume zugeschnitten, kalter Februar.
Darüber war ein Fenster.

Ich war nicht dort. Nur in den Nächten fühl ich, was man Nähe nennt und in den Tagen, was man wie Entfernung mit sich nimmt. Und schrittweise lehn ich am straßenhohen Fenster. Und frag, wie soll der Vogel diese Härte haben.

Barfüßiger Februar, ich weiß es nicht. Die Zehen hängen tiefer als der Flug. Ich drück das Fenster zu.

Es kann ein Tag die Straße überqueren.

Kein Wasser und kein Feuer und kein Strick. Die dünnen weißen Sprossen der Gedanken. Man braucht die Hände nicht daran zu tun.

Die Zehe biegt sich leicht. Die Welt ist tief.

Die Welt liegt auf dem Tode eines Freundes. Was vergeht wie Tage, wird kein Leben.

Die Erde liegt. Ich geh auf ihr.

Daß sich die Tage falten. Daß ich älter bin.

Die große schwarze Achse
Der Brunnen ist kein Fenster und kein Spiegel. Wer zu lange in den Brunnen schaut, schaut auch zu oft hinein. Großvaters Gesicht wuchs wie von unten neben meines hin. Zwischen seinen Lippen stand das Wasser.

Durch den Brunnen sieht man, wie die große schwarze Achse unterm Dorf die Jahre dreht. Wer einmal krank bis in die Augen war, und mit dem einen Aug im Tod, hat sie gesehn. Großvaters Gesicht war grün und schwer.

Die Toten drehn die Achse rundherum wie eine Pferdemühle, damit auch wir bald sterben. Dann helfen wir die Achse drehn. Und je mehr Tote sind, je leerer wird das Dorf, je rascher geht die Zeit.

Der Brunnenrand war wie ein Schlauch aus grünen Mäusen. Großvater seufzte leis. In seine Wange sprang ein Frosch. Und seine Schläfe sprang in dünnen Kreisen über mein Gesicht, und nahm sein Haar, und seine Stirn, und seine Lippen mit dem Seufzen mit. Und nahm auch mein Gesicht mit an den Rand.

Großvaters Rockärmel lehnte an meiner Hand. Hinter den Bäumen stand der starre Mittag. Und in den Bäumen war ein Zittern und kein Wind. Und überm Pflaster war ein Mittagläuten wie aus Steinen.

Die Mutter stand im Türrahmen und hatte Dampf im Haar und rief zum Essen. Und Vater kam durchs Gassentor mit einem langen Schatten überm Sand und legte einen Hammer untern Baum. Ich ging auf den Pflastersteinen meinem Schatten nach und hob die Schuhe aus dem Schatten meiner Beine.

Großvater schob mich mit dem Rockärmel durch die halboffene Küchentür. Sein Rockärmel war lang und dunkel war er wie ein Hosenbein. Auf dem Tellergrund, durch die grünen Petersilienadern, wollte ich die schwarze Achse sehn, die unterm Dorf die Jahre dreht. Der Mutter klebte ein aufgeweichtes Petersilienblatt zwischen den Lippen und dem Kinn. Und schlürfend sagte sie: «Die Hunde bellen heute wie verrückt im Dorf.» Vater fischte die ertrunkene Ameise mit dem Zeigefinger an den Tellerrand. Und Mutter schaute hin auf seine Fingerspitze und sagte wie für sich: «Es ist ein Pfefferkorn.» Und Vater schlürfte schon ein Suppenauge und sagte leis: «Die Zigeuner sind im Dorf. Sie sammeln Speck, und Mehl, und Eier ein.» Mutter zwinkerte mit ihrem rechten Aug. «Und Kinder», sagte sie. Und Vater schwieg.

Großvater beugte das Gesicht und stieg mit langen dunklen Hosenbeinen, mit einem nackten Fuß, der einen Löffel hielt, voraus, in den Tellergrund. «Die Zigeuner sind Ägypter», sagte er. «Sie müssen dreißig Jahre wandern. Dann kommen sie zur Ruh.» «Dann helfen sie die Achse drehn», sagte ich und schaute ihn nicht an. Und Vater schob den leeren Teller von sich weg und schnalzte mit der Zunge in seinem hohlen Backenzahn: «Heute Abend spielen sie Theater.» Und Mutter stellte Vaters leeren Teller über meinen Tellergrund.

Großvater schwitzte um den Hals. Sein Hemdkragen war innen feucht und schmutzig.

Hinterm Fensterglas wie unterm Wasserspiegel stand das Gesicht der Nachbarin. Leni hatte zwei Falten auf der Stirn. Die eine Falte kannte ich. Sie war wie eine Schnur.

Seit dem Frühjahr half auch Lenis Vater unterm Dorf die große schwarze Achse drehn. Großvater war ihn an seinem letzten Sonntag, wie die Mutter später sagte, vor dem Mittagläuten noch besuchen.

Es waren weiße Aprikosenbäume überm Hof und Kohlweißlinge flatterten durch die Luft. Und Großvater ging ohne Rock, obwohl es Sonntag war. Großvater ging im weißen Hemd. «Damit ich nicht so schwarz daherkomm», sagte er.

Fortsetzung folgt


Schie|nen|strang, der: (über eine größere Distanz) zu Gleisen montierte Schienen. Schie|ne, die; -, -n [mhd. schine, ahd. scinaÿ= Schienbein; Holz-, Metallleiste, zu einem Verb mit der Bed. «schneiden, spalten, trennen» (vgl. z.ÿB. lat. scindere, Szission) u. eigtl.ÿ= abgespaltenes Stück, Span; 1: seit dem 18.ÿJh.]: aus Profilstahl bestehender, auf einer Trasse verlegter Teil einer Gleisanlage, auf dem sich Schienenfahrzeuge fortbewegen: -n [für die Straßenbahn] legen; der Zug ist aus den -n gesprungen (entgleist).

Ach|se, die; -, -n: 1. (Technik) a) Teil, das zwei in Fahrtrichtung nebeneinander liegende Räder eines Fahrzeugs, Wagens verbindet: die A. ist gebrochen, hat sich heiß gelaufen; *auf [der] A. sein (ugs.; unterwegs, auf Reisen, auf Geschäftsreise sein); per A. (Wirtsch., Verkehrsw.; mittels eines in der Landwirtschaft eingesetzten Kraftfahrzeugs); b) stabförmiges [mit Zapfen versehenes] Maschinenteil zum Tragen u. Lagern von Rollen, Rädern, Scheiben, Hebeln u.ÿa.: die A. der Schleifscheibe. 2. [gedachte] Mittellinie, um die sich ein Körper dreht; Drehachse. 3. a) (Math.) Gerade, die bei einer Drehung ihre Lage nicht verändert; Koordinaten-, Symmetrieachse; b) (Geol.) gedachte Linie, um die die Schichtung herumgebogen ist; c) (Archit.) Linie senkrechter od. waagerechter Richtung, auf die Bauwerke, Grundrisse o.ÿÄ. bezogen sind. 4. (Bot.) Sprossachse. 5. Verbindung, Verbindungslinie: die Bahnlinie als A. zwischen dem Norden u. dem Süden des Landes.

Schlauch, der; -[e]s, Schläuche: 1. a) biegsame Röhre aus Gummi od. Kunststoff, durch die Flüssigkeiten od. Gase geleitet werden: einen S. aufrollen, ausrollen, an eine Leitung anschließen; Ü das Kleid ist ein richtiger S. (ugs.; ist sehr engÿ); *auf dem S. stehen (salopp; etw. nicht sofort verstehen, durchschauen; begriffsstutzig seinÿ); b) durch ein Ventil mit Luft gefüllter, ringförmiger Gummischlauch bei Auto- od. Fahrradreifen: den S. flicken; c) (früher) sackartiger lederner Behälter für Flüssigkeiten: ein S. voll Wein. 2. (ugs.) langer, schmaler Raum o.ÿÄ.: das Zimmer ist ein S.

Schlä|fe, die; -, -n: beiderseits oberhalb der Wange zwischen Auge u. Ohr gelegene Region des Kopfes: graue -n (graue Haare an den Schläfen) haben; sich eine Kugel in die S. jagen.

kle|ben <sw.ÿV.; hat>: 1. durch die Wirkung eines Klebstoffes od. aufgrund eigner Klebkraft fest an etw. hängen, an, auf etw. haften: an der Litfaßsäule kleben Plakate; an seiner Backe, auf der Tischplatte klebt Marmelade; die feuchten Haare kleben ihr im Gesicht; das Hemd klebt ihm am Körper; die Fliege ist am, auf dem Leim k. geblieben; Ü am Radio, Fernseher k.; jmdm. am Auspuff k. (salopp; dicht hinter jmdm. herfahren); drei Wochen kleben wir nun schon in dieser Hafenstadt (ugs.; sitzen wir festÿ); wegen eines Maschinenschadens sind wir hier k. geblieben; die Unterschrift klebt in der rechten unteren Ecke; jmds. Blicke kleben an jmdm., an etw. (sind unablässig auf jmdn., auf etw. gerichtet, geheftet); der Torwart klebte zu sehr an der Linie (Sport; bewegte sich nicht aus dem Tor heraus); am Gegner k. bleiben (Sport; den Gegenspieler ganz nah, eng decken); sie klebt an ihm (salopp; hängt an ihm u. kann sich nicht von ihm trennen); *k. bleiben (salopp; in der Schule nicht versetzt werden); jmdm. eine k. (salopp; jmdm. eine Ohrfeige geben). 2. Klebkraft haben: sehr fest, gut k.; das Pflaster klebt nicht mehr.

schlür|fen <sw. V.> [lautm.]: 1. <hat> a) Flüssigkeit geräuschvoll in den Mund einsaugen: laut s.; b) schlürfend (1 a) zu sich nehmen: ein heißes Getränk vorsichtig s. 2. etw. langsam u. mit Genuss in kleinen Schlucken trinken <hat>: ein Glas Likör s. 3. (landsch.) schlurfen, geräuschvoll [u. schleppend] gehen, indem man die Schuhe über den Boden schleifen lässt <ist>.

zwin|kern <sw. V.; hat>: die Augenlider, oft mit einer bestimmten Absicht, um jmdm. ein Zeichen zu geben o.ÿÄ., rasch auf u. ab bewegen, [wiederholt] zusammenkneifen u. wieder öffnen: nervös, viel sagend, vertraulich [mit den Augen] z.

schnal|zen <sw. V.; hat>: 1. durch eine rasche, schnellende Bewegung mit etw. (bes. der Zunge, den Fingern) einen kurzen, knallenden Laut erzeugen: genießerisch mit der Zunge s.; mit den Fingern s. 2. (seltener) schnippen, mit einer schnellenden Bewegung eines Fingers kleine Teilchen o.ÿÄ. von einer Stelle wegschleudern.

Kohl|weiß|ling, der: gelblich weißer Schmetterling mit schwarzer Zeichnung an den Spitzen der Flügel, dessen gelbgrüne Raupen in großer Zahl als Schädlinge an Kohl auftreten.


Herta Müller

(*17. August 1953 in Nitzkydorf, Rumänien)

ist eine deutsche Schriftstellerin.

Herta Müller wurde im deutschsprachigen rumänischen Banat geboren. Nach dem Abitur studierte sie an der Universität Temeswar Germanistik und rumänische Literatur. Ab 1976 arbeitete sie als Übersetzerin in einer Maschinenfabrik, wurde allerdings 1979 nach ihrer Weigerung, mit der rumänischen Securitate zusammenzuarbeiten, entlassen. Sie verdiente ihren Lebensunterhalt mit zeitweiliger Lehrtätigkeit in Schulen und Kindergärten sowie mit privatem Deutschunterricht. Ihr erstes Buch Niederungen konnte 1982 in Rumänien nur, wie alle Publikationen, in zensierter Fassung erscheinen. 1987 reiste Herta Müller mit ihrem damaligen Ehemann, dem Schriftsteller Richard Wagner, in die Bundesrepublik Deutschland aus. In den folgenden Jahren erhielt sie eine Reihe von Lehraufträgen als «Writer in residence» an Universitäten im In- und Ausland. 2005 war sie Heiner-Müller-Gastprofessorin an der Freien Universität in Berlin, wo sie heute lebt.

Herta Müller, die bis zu ihrem Austritt 1997 dem PEN-Zentrum der Bundesrepublik Deutschland angehörte und seit 1995 Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung ist, erhielt u. a. folgende Auszeichnungen: 1985 Förderpreis des Literaturpreises der Stadt Bremen, 1987 Ricarda-Huch-Preis der Stadt Darmstadt,
1989 Marieluise-Fleißer-Preis der Stadt Ingolstadt,
1993 Kritikerpreis für Literatur, 1994 Kleist-Preis,
1999 Franz-Kafka-Preis, 2002 Carl-Zuckmayer-Medaille des Landes Rheinland-Pfalz, 2004 Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung, 2005 Berliner Literaturpreis.

Werke: Niederungen (1982), Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt (1986), Barfüßiger Februar (1987), Reisende auf einem Bein (1989), Der Teufel sitzt im Spiegel (1991), Der Fuchs war damals schon der Jäger (1992), Herztier (1994), Hunger und Seide (1995), In der Falle (1996), Heute wär ich mir lieber nicht begegnet (1997), Heimat ist das, was gesprochen wird (2001), Der König verneigt sich und tötet (2003), Die blassen Herren mit den Mokkatassen (2005).

Aus: Herta Müller: Barfüßiger Februar. Rotbuch Verlag, Berlin 1987. S. 5–23.