Главная страница «Первого сентября»Главная страница журнала «Немецкий язык»Содержание №16/2007

Sonderthema

Von Ost nach West.

Selbstbiographie von Hermann Löns

Während eines schweren Vormorgengewitters kam ich als erstes Kind meiner Eltern, des Gymnasialoberlehrers Friedrich Löns und seiner Frau Klara, einer geborenen Kramer aus Paderborn, zu Kulm an der Weichsel zur Welt. (…)

Konrad von Kardorff (1877–1945): Hermann Löns. Kohlezeichnung aus dem Jahre 1892Nach ungefähr Jahresfrist wurde mein Vater nach Deutsch-Krone, einem reizend zwischen zwei großen Seen gelegenen Städtchen Westpreußens, versetzt. Meine erste Erinnerung ist die, dass ich in einem blauen Kittel auf einem gepflasterten Hofe saß und die grün und rot gefärbten kleinen Blattkäfer, die auf dem zwischen den Steinen wuchernden Vogelknöterich umherkrochen, in eine Pillenschachtel sammelte. (…)

Schon als ganz winziges Kind war mein größtes Vergnügen, den Fliegen am Fenster zuzusehen, und mit fünf Jahren lockte mich eine tote Maus mehr als ein Stück Kuchen. Rebaus Naturgeschichte wurde so lange gelesen, bis nichts mehr davon übrig war, und ohne irgendwelche Anleitung zu haben, sammelte und bestimmte ich, so gut es ging, Steine, Pflanzen und Tiere. Mit zwölf Jahren durchstreifte ich meist ganz allein, meilenweit die Heiden, Moore und Wälder. (…)

Teils durch meinen Vater, teils durch das Leben auf Gütern und Förstereien, auf denen ich meist die Ferien verbrachte, wurde ich Fischer und Jäger, doch war mir schon damals ein unbekannter Fisch, ein seltener Vogel, eine regelwidrig gefärbte Eichkatze von größerem Werte denn ein gutes Gehörn oder ein ganzer Galgen voller Hühner. Der Begriff des sportlichen Rekordes ging mir nie ein. Mein erster Rehbock erregte mich lange nicht so wie der erste Seidenschwanz, den ich im Sprenkel fing, und als ich einen achtzehnpfündigen Hecht schottete, war ich längst nicht so stolz als an dem Tage, da ich in der Küddow die erste Groppe, ein spannenlanges Fischchen, kätscherte. Ich schoss auf meinen ersten Hirsch wie nach der Scheibe, aber als ich in den Sagemühler Fichten die Schwarzdrossel als Brutvogel fand, flog mir das Herz.

Löns-Grab unter einem Findling im Tietlinger Wacholderhain bei WalsrodeSchon damals war ich der Heide angeschworen. Ich konnte vor Freude über die Pracht des maigrünen Buchenwaldes nasse Augen bekommen, aber die Heiden, Kiefernwälder, Moore und Brüche lockten mich noch mehr. Ähnlich ging es mir mit den Menschen; auch bei ihnen lockte mich das Ursprüngliche. Ich war der Freund der Hütejungen, Fischerknechte, Waldarbeiter; meine sehr zivilisierten Mitschüler, die mit sechzehn Jahren Zigaretten rauchten und Fensterpromenaden machten, langweilten mich. Einer meiner Lehrer sagte mir einmal: «Gewöhnen Sie sich die Tendenz nach unten ab!» Es ist mir nicht gelungen. Mein Interesse, oder mein Herz, ist bei dem breiten Unterbau meines Volkes geblieben, auf dem das Leben der Nation schließlich beruht, bei den Bauern, Handwerkern und Arbeitern. Mir schmeckt es stets besser, wenn ich am gescheuerten Tisch über den Daumen frühstücke, als wenn ich mich in Frack und Lack zwischen weißen Schultern durch zehn Gänge durchesse und Konversation machen muss.

Oft genug hat die sogenannte Gesellschaft darüber die Nase gerümpft, dass ich mich in anderer als der vorschriftsmäßigen Weise dem sogenannten Volke näherte, oder man sagte mir, wie um mich zu entschuldigen: «Sie machen dann wohl Studien?» Ach nein, so ist das nicht! Ein Schriftsteller, der bewusst sein Volk studiert, wird es nicht weiterbringen als ein Emile Zola, nämlich zu lose verbundenen Einzelheiten. Leben muss man darin, ganz darin aufgehen, sich als eins mit seinem Volke fühlen, um etwas so Großes zu schaffen, wie es Jeremias Gotthelf glückte. Ob mir das je gelingen wird, weiß ich nicht, aber ich weiß, dass das starke Interesse, das ich von jeher der breiten Masse des Volkes entgegenbrachte, ein unbewusstes Studium war, und dass es ein Glück für mich war, in einer kleinen Ackerbürgerstadt aufgewachsen zu sein, in der bei allem Kastengeiste die verschiedenen Volksklassen fortwährend miteinander in innige Berührung traten.

In der Großstadt flirren die Menschen an einem vorbei wie die Landschaft am Fenster der Eisenbahn; in der Kleinstadt sieht man seine Nebenmenschen so genau wie die Landschaft bei einer Flusswanderung. Alle behielt ich sie im Gedächtnisse, die Leute der kleinen Stadt, vom vornehmen Gerichtsrat bis zum trunkfälligen Arbeiter, der jeden Sonnabendabend in der Gosse lag, von der strahlenden Stadtschönheit bis zu der schmierigen Armenhäuslerin, die Haus bei Haus betteln ging. Ein volles Bild der ganzen Landschaft mitsamt der Stadt und ihren Menschen habe ich in mir: jetzt, wo ich vierundzwanzig Jahre von dort fort bin. Als Knabe habe ich es gelernt, eine Stadt als ein Erzeugnis der landschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse aufzufassen, ein lebendiges Wesen in ihr zu sehen, an dem jedes Organ seinen Wert hat und bei dem sogar die Schmarotzerexistenzen von Belang sind.

Ich habe später oft genug beklagt, dass ich nicht in einer größeren Stadt aufwuchs, die mich mehr Weltklugheit gelehrt hätte, in der ich mein Zeichentalent besser hätte ausbilden können, in der ich die Möglichkeit hätte, mir mehr naturwissenschaftliche Literatur zu beschaffen. Heute weiß ich, dass ich es nicht besser treffen konnte. Ich bildete nicht alle meine Fähigkeiten aus und wurde dadurch nicht flach; ich trat, ohne befangen zu sein durch Bücherstudium, vor die Natur, und lernte sie so besser kennen, als wenn ich vor der Zeit mich mit Einzelheiten beschwert hätte; und dass ich nicht ein kalter, weltkluger Mensch geworden bin, das hat mir oft geschadet, aber im Grunde bin ich froh darüber. Ich hätte vielleicht mehr erreicht, aber ich glaube nicht, dass ich dadurch zufriedener geworden wäre.

Als ich achtzehn Jahre war, wurde der Wunsch meines Vaters, wieder zurück in die Heimat zu kommen, endlich erfüllt; er wurde nach Münster versetzt. (…)

Es dauerte aber nicht lange, und der Anpassungskater war überwunden. Ich sah bald ein, um wie viel gebildeter im besten Sinne meine Mitschüler waren, wenn sie auch lange nicht so zivilisiert waren wie die Gymnasiasten im Osten; bald hatte ich Freunde, wirkliche Freunde, und es waren kaum zwei Jahre vergangen, da war ich bewusst das, was ich unbewusst immer gewesen war, Niedersachse.

Ein Heißhunger nach tieferer Bildung kam über mich. Zum ersten Male in meinem Leben arbeitete ich zäh und zielbewusst für die Schule und sogar die Mathematik, die ich bisher gehasst hatte, lernte ich beinahe gern haben. Heute ist es mir unfassbar, wie ich neben den Vorbereitungen zur Abgangsprüfung eine solche Unmenge von westfälischer Geschichte, neuer Literatur und Zoologie habe bewältigen können. Denn in Münster lernte ich, was es heißt, systematisch Naturwissenschaft treiben. (…)

Ich studierte nun Naturwissenschaften, musste aber auch Medizin studieren. Diese gefiel mir gar nicht, und die Zoologie, die damals fast ganz in der Mikroskopie aufging, erst recht nicht. Außerdem drängte es mich zur Literatur. In wenigen Jahren verschlang ich alles, was ich an deutscher und fremder Literatur in die Finger bekam. Zu meinem Entsetzen sah ich ein, dass ich ein ganz altmodischer Mensch war, der romantische Balladen schrieb, Zola langweilig fand und wider Willen höchst bösartige Epigramme gegen Lew Tolstoi schreiben musste. Der ganze hochgepriesene naturalistische Quark war mir in der Seele zuwider; mein Herz war bei Annette von Droste-Hülshoff und nachher bei Liliencron. Nietzsche war mir nur interessant, da er so hübsch dunkel über die hellsten Sachen schrieb.

Löns-Zimmer im Heidemuseum Walsrode mit Einrichtungsgegenständen aus seinem Nachlass und einer Werksammlung Im Grunde war es eine schlimme Zeit. Ich war mit mir nicht zufrieden und andere erst recht nicht. Arzt mochte ich nicht werden, und die zoologische Laufbahn sah damals kläglich aus. So sprang ich mit beiden Beinen in das Zeitungsfach. Erst war ich in der Pfalz im Feuilleton, dann reiste ich für einige größere Zeitungen als Stimmungsberichterstatter. Dabei lernte ich äußerlich allerlei, denn heute schrieb ich über eine Fürstenzusammenkunft, morgen über Streikunruhen und übermorgen über die Cholera in Hamburg. Schließlich blieb ich in Hannover hängen. Ich begnügte mich damit, ein annehmbarer Schilderer, lustiger Plauderer und gewandter Redakteur zu sein; dass ich je ein guter Schriftsteller werden würde, glaubte ich nicht mehr, und, wenn ich das Heftchen sah, in das ich als Bursche meine Verse geschrieben hatte, überkam mich ein aus Spott und Wehmut gemischtes Gefühl. Jahrelang kam ich kaum zu mir selbst. Ich führte ein ganz äußerliches Leben, das sich in der Hauptsache zwischen der Zeitung und der Jagd abspielte.

Schließlich war wohl die Jagd meine Rettung. Suche und Treibjagd langweilten mich; die heimliche Pirsch in Heide, Moor und Wald brachte mich wenigstens einige Stunden zum Nachdenken. Ich sah, während ich an Bock und Fuchs dachte, die Natur in ihren großen Umrissen; ich lernte, dass mir das Landvolk mehr bot als das der großen Stadt. Ganz urplötzlich entstand mitten zwischen den journalistischen Arbeiten ein Gedicht, das sich sehen lassen konnte, eine Skizze, die Form besaß; ein paar tüchtige Männer, hier ein Volksschullehrer, da ein Maler, die mir Freunde wurden, boten mir mehr als die flachen Salonbekanntschaften, aber die beste Lehrerin war mir doch die Heide. Ich durchstreifte sie, die Büchse über das Kreuz geschlagen, nach allen Richtungen, wohnte wochenlang in der Jagdbude, lebte monatelang unter Bauern, und dann, wenn ich wieder im Stadttrubel war, formte sich das, was mir der Wind, der über die Heide ging, erzählt hatte, zu fester Gestalt. […]

Entnommen aus: «Von Ost nach West, Selbstbiographie» von Hermann Löns, Verlag der Schriftenvertriebsanstalt, Berlin 1921.

Der Text ist entnommen aus:
http://www.loens-verband.de/loens/selbstbiogr.html