Das liest man in Deutschland
Einsamkeit und Unabhängigkeit
Ein Buch komponiert den Nachlass von Hans Jürgen von der Wense zu «Wanderjahren»
Ein seltsamer Mann. Ein seltsames Buch. Ein Geheimtipp? Auf jeden Fall wird ihn kaum jemand kennen: Hans Jürgen von der Wense. Als er 1966 starb, hinterließ er etwa 40 000 auf beiden Seiten beschriebene Manuskriptseiten, fein säuberlich nach Themen in vielen Mappen abgelegt, unzählige Tagebücher, Messtischblätter mit landeskundlichen Notizen, Kompositionen, Fotografien, außerdem über 8000 Seiten Briefe. Viele von ihnen, die er wichtig fand, in Abschrift.
Er muss wohl eine Art Genie gewesen sein: Musiker, Komponist, Dichter, autodidaktischer Landeskundler, Übersetzer, Sprachenerkunder – einmal schrieb er: «Ich lerne jetzt mongolisch, um eine Königschronik von 1400 nachübersetzen zu können, eine der ergreifendsten Balladen der menschlichen Überlieferung, in Granit geschrieben!» Ein Universalgelehrter, ein fleißiger Mann, aber auch ein Besessener, der sich seinem Leben hingab, ohne Kompromisse.
1894 wurde von der Wense in Ostpreußen geboren, studierte wild nebeneinander Musikgeschichte, Maschinenbau und Astronomie. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde er kurzzeitig berühmt als atonaler Komponist, die Kritik stellte ihn neben Bartók, Satie und Schönberg, befreundet war er mit den Komponisten Eduard Erdmann und Ernst Krenek. Aber dann, als er quasi auf dem Sprung in den Ruhm war, brach er mit allem. Er stieg aus, er verweigerte sich dem Betrieb und schließlich auch den Menschen. Er, der sich für die Novemberrevolution begeistert hatte, auch mit vielen Revolutionären und modernen Künstlern wie Kokoschka, Feininger, Murnau eng befreundet war, wurde zum menschenfreundlichen Menschenfeind. Systematisch arbeitete er sich in die Vergessenheit hinein. Er wollte nicht mehr dazugehören: «In vielleicht einzigartiger Zurückgezogenheit, aber auch Freiheit habe ich nun 35 Jahre lang für nichts als mein geistiges Schaffen gelebt; unfähig, ein bürgerliches Leben zu führen mit Beruf, Ehe und Sicherheiten wie auch das betont unbürgerliche eines Anarchisten oder Vaganten.» Und in seinem letzten Lebensjahr resümierte er einmal sein Leben: Er sei «ein extrem anti-intellektueller, rein geistiger, d. h. schöpferischer mensch, ein besessener, dem alles lebenswerte zuwider und gleichgültig ist, ohne bedürfnisse, ohne sogar sex, mit krankhaften anti-eigenschaften wie völlig mangelndem ehrgeiz, erwerbstrieb, eitelkeit usw. [...] Niemand lebt so lebendig und wirklich wie ich, aber ich bin nicht vorhanden.»
In einer Werkausgabe wird Hans Jürgen von der Wense seit einiger Zeit neu entdeckt und neu vorgestellt. Nach der Geschichte einer Jugend (Briefe und Tagebücher, 1999) und einem Sammelband Von Aas bis Zylinder (2005) erschien jetzt Wanderjahre. Auch dieses Buch besteht aus Notizen, Brief- und Tagebuchausschnitten von der Wenses, die er auf seinen vielen Streifzügen gemacht hat. Denn er war auch ein besessener Wanderer: Bis zu elf Stunden täglich ist er draußen unterwegs, manchmal läuft er siebzig Kilometer durch die Landschaften in Westfalen, Niedersachen und Hessen, notiert, kartografiert und fotografiert.
Ein schwieriger Mensch muss er gewesen sein, der sich ganz unbedingt seinen eigenen Zielen hingab. Der Menschen kaum ertragen konnte, Städte schon gar nicht. Immer wieder berichtet er, dass er regelrecht fliehen musste, um überleben zu können, um nicht verrückt zu werden wie seine Zeitgenossen, denen er Geistlosigkeit und Oberflächlichkeit vorwarf. Ein Grauen für ihn. Er suchte die Natur, sie war für ihn ein Fluchtpunkt, ein Anker selbst in schwierigsten Zeiten: «Jede meiner Wanderungen ist eine Flucht vor den Menschen», schreibt er einmal, «dies ist der eigentliche Sieg und Triumph bei jedem meiner Märsche – ich bin unerreichbar, nicht da, nur in mir und bei meinem Gott.» Mit romantischen, beseelten und beseelenden, intensiv empfundenen und pathetisch aufgeladenen Sprachauswürfen feiert er sie immer wieder, wie in einem Brief an seine Mutter aus dem Jahr 1938: «Das Wetter schwoll herauf und ich stürzte ihm entgegen in dreistündigem Gejage durch gottverlassene Halden mit Felsen und Wacholder, durch Schluchten, in denen Schafe und menschenscheue Hirten sich bargen, gegen Eichenberg [...] noch weiter zurück die Landstraße nach Witzenhausen [...]. Der Himmel unversehens fing an zu brennen in Karmesin und Granat, eine Spanne noch finsterschwarz, die andere in dieser tobenden Glut wie von einem Nordlicht durchgossen, ich ruhte auf einer Wiese unter Herbstzeitlosen. Die Nacht stieg auf und die Quellen sprachen Orakel.»
Für von der Wense wird die Natur immer wichtiger. Denn er wollte die Tiefe, wollte mystische Erlebnisse, wollte das All-Eine erleben, und er fand es in der Einheit mit der Natur, mit einem Gott, den er in der Natur fand und in den alten Kirchen: «So trat ich ein: romanisch, mein Stil! Und o, daß ich Dies jetzt erlebe; immer fügt sich in mein Leben aufs Neue Quader zur Quader. Ich erlebe die KATHEDRALEN! Denn sieh: dies hat Deutschland der Welt geschenkt, zweierlei: zuerst seine Musik, das Einsam-Heiligste, was die Welt besitzt, noch von keinem Volk, keiner anderen Kunst überboten, unsere letzte Losung, am Jüngsten Tag wird die Erde auferstehen unter Klängen von UNS gefügt – dann: seine romanischen Dome, nicht seine gotischen, das bleibe, in der Ile-de-France erstanden, dem Nachbar. Uns aber diese gültigen Riesen, Wachgestalten unserer weltherrschenden Weisen und gottgeheiligten Kaiser: ich stehe an ihrem Sarg! Vier Jahrhunderte: zwischen Carolus und Barbarossa gründeten Deutsche das Abendland, Stein und schon Traum geworden in diesen stehenden Domen!»
Und beschwörend ruft er aus: «Und dies alles ist da, für uns da, gehört UNS! Jedem und Dir! Wenn ich einschlafe, ich denke an sie, diese Türme, diesen Kreuzarm, dieses Kapitell, diesen Fries! Denn sieh! Diese Dome sind die Monstranz meines Herzens!» Und es fällt in diesem langen Brief an seine Mutter auch der denkwürdige und sehr passende Satz: «Versteh: meine Wanderungen sind Wallfahrten.»
Und auch die Stefan-George’sche Unterscheidung, der er zeitlebens anhing, mit der er sich aus der Masse herauszuheben versuchte: «WIR – Genie und Aristokrat: nie werden wir imstande sein, uns diesen KLEINEN Leuten zu fügen! Der Geist, indem er der Welt dient, herrscht er über der Welt. Wir, die das dumpfe stumpfe Volk zu Menschen erhoben, weigern uns zu verpöbeln!»
Dieser Satz fällt ganz richtig im Zusammenhang mit den Nazis, von denen er sich abheben will. Die nicht denken, sondern «sie gehorchen. Glücklich, daß sie unter der Peitsche sind.» Denn natürlich hat von der Wense mit den Nationalsozialisten überhaupt nichts gemein. Massenmenschen, Massenaufzüge sind ihm zuwider, diesem Einzelnen. Seltsam aber auch, dass dieser so hellsichtige und sensible Mensch sich in diesem Band nicht sehr viel über das Regime auslässt. Noch viel seltsamer, dass die Unterdrückung nur selten thematisiert wird. Sehr befremdlich ist, dass der Völkermord an den Juden überhaupt nicht vorkommt. Nur einmal schreibt er im Tagebuch, im April 1945, nach einem Verhör durch einen Engländer, den ungeheuerlichen Satz: «Auch die Juden haben sich nicht gewehrt.» Vieles konnte er damals zwar noch nicht gewusst haben, aber die systematische Unterdrückung der Juden hat er ja wohl miterlebt.
Aber er war wirklich eher ein Flüchtender, bis zu seinem Tod. Ekstase, wirkliches Leben, das wollte er. Mit berauschten Sätzen feiert er diese religiöse unio mystica, immer wieder. Es gelingen ihm dabei wundervolle Beschreibungen, in denen die Natur richtig lebendig wird, mächtig, unbeherrschbar, unbezwingbar. Selbst die Erde, die Gesteine werden bei von der Wense fast zu Lebewesen: «Die nobilitè der Erdformen, nämlich die als vollkommenes Kunstwerk in ihrem Feinbau – dies ist mein immer neues und sinne-aufregendes Grund-Erlebnis. Und nun erst in dieser überhaupt nobelsten Landschaft, dem Weti-Gau, geschaffen und durchbrochen von der Ambra, die am Osning entspringt und bei Ohr in die Weser eintrinkt.» Ausgehend von seinen geliebten Karten, diesen «Partituren der Landschaft» erkundet er den Schwalenberger Wald, wo er das Sommerlager des Varus vermutet: «Er ist oben ganz plan und morastig, weglos, man watet durch Nesseln bis an die Brust, durch Kümmerfichten, über Windbrüche, immer belohnt durch eine fast überplastische Aussicht, denn hier ist alles Keuper, der sehr fein modelliert und ein Gewoge schafft von zierlichen Waldkuppen und Mattenrücken, darüber jedoch diese straffen, steilen Härtlinge und Horste hinstellt, von Wildbächen zerrissen und aufgebrochen.»
So genau und gleichzeitig beseelt beschreibt von der Wense die Landschaft, die er auch geologisch genauestens bestimmen und benennen kann, die er aber mehr fühlt und erlebt als analysiert: «Der Basalt ist krank, leidet an Sonnenbrand», schreibt er einmal, und dass er Schiefer liebt, «weil es eine depressive Erscheinung ist.» In langen Briefen entwirft er auch eine neue landeskundliche Wissenschaft, die helfen soll, «die Heimat» kennenzulernen. Erst heute wird das allmählich und sehr langsam in die Tat umgesetzt, aber niemand der heutigen Wissenschaftler hat solch ein Sensorium, solch ein Wissen und solch eine Sprachgewalt wie Hans Jürgen von der Wense.
Einen hohen Preis hat Wense für seine Einsamkeit und Unabhängigkeit bezahlt: Immer war er arm, immer wieder allerdings wurde er auch unterstützt, meist von Frauen, die ihm eine Unterkunft zur Verfügung stellten. Er selbst war praktisch besitzlos. Seine Mahlzeiten nahm er meist in einer Volksküche oder, am Ende seines Lebens, in der billigen Bahnhofsgaststätte ein.
Da kommt er ab und zu mit jungen Männern in Kontakt, die er für seine Weltsicht begeistern will. Meist gelingt ihm das nicht, viel zu kompromisslos wie er ist. Oder die anderen sind viel zu kompromissbereit, um sich mit ihm einlassen zu können. So blieb er einsam, sein ganzes Leben lang in seiner selbstgewählten Klausur.
Von Georg Patzer
Hans Jürgen von der Wense: Wanderjahre. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2006.
Der Text ist entnommen aus:
http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=10500