Landeskunde
Brotzeit, Bier und Belustigung – Das Münchner Oktoberfest
Fortsetzung aus Nr. 17/2007
Es kam die Zeit der großen Festwirte. Einer von ihnen, Georg «Schurschi» Lang aus Nürnberg, brachte die erste Stimmungsmusik auf die Wiesn. Die ersten «Wiesnhits» entstanden – und die Besucher konnten Liederhefte kaufen und mitsingen.
Wir wissen auch, dass Lang den Refrain eingeführt hat mit «1, 2, 3 g’suffa.» Das ist schon 1898 belegt, dass dies da gesungen worden ist, und da geht diese ganze Bierstimmung auf der Wiesn erst los.
Ab 1872 verlegte man den Beginn des Oktoberfestes des besseren Wetters wegen in die letzte Septemberwoche. Jahrmarktattraktionen wie Völker- und Tierschauen und die ersten Kinos brachten zu Wiesenzeiten das Flair der großen weiten Welt ins kleine München. Die einzigartige Atmosphäre vor und in den Bierzelten haben viele Schriftsteller beschrieben. Kaum einer aber hat sich so weit ins Geschehen hineinbegeben wie der Amerikaner Thomas Wolfe. 1928 berichtet er einer Freundin in einem Brief von seinem Wiesnbesuch. Zunächst mokiert er sich über den Lärm in den Festzelten, über die schlechte Luft und das fürchterliche Gedränge: «In diesen Lokalen entdeckt man das Herz Deutschlands, nicht das Herz seiner Dichter und Denker, sondern sein wahres Herz, das weiter nichts ist als ein ungeheurer Bauch. Sie essen, trinken und atmen sich in einen Zustand tierischen Stumpfsinns hinein – das ganze Lokal wird zu einer heulenden, brüllenden Bestie, und wenn die Musik eins von den Trinkliedern spielt, stehen sie an allen Tischen auf, steigen auf die Stühle und schaukeln mit untergehakten Armen hin und her.»
Als er diese Zeilen schrieb, war Wolfe allerdings bereits selbst Teil der «Bestie» gewesen: Bei einem Festbesuch war ihm das starke Wiesenbier zu Kopf gestiegen.
Als seine Begleiter nach Hause gingen, blieb er zurück: «Ich hatte sieben oder acht Liter getrunken, das heißt fast einen Liter Alkohol – und war völlig betrunken. Ich ging durch einen Gang zu einem Seitenausgang, wo ich ein paar Männer traf – vielleicht war auch eine Frau dabei, aber die bemerkte ich erst später. Sie standen im Gang neben ihren Tischen und sangen vielleicht noch ein Trinklied vor dem Nachhausegehen. Sie sprachen mich an – ich war zu betrunken, um sie zu verstehen, aber es war bestimmt freundlich gemeint. Ich glaube, einer von den Leuten hat mich beim Arm genommen – ich wollte weitergehen, er hielt mich fest, und obwohl ich keineswegs wütend, sondern eher überschwänglich glücklich war, gab ich ihm einen Stoß, so dass er über einen Tisch fiel. Dann stürzte ich frohlockend hinaus, wie ein Kind, das ein Fenster eingeworfen hat. Draußen regnete es heftig, ich stand auf dem Platz hinter einer der Festbuden und hörte Rufen und Schreien hinter mir. Als ich mich umdrehte, sah ich mehrere Männer hinter mir herlaufen. Einer hatte einen Klappstuhl aus dem Bierzelt bei sich, ein Ding aus Eisen und Holz …»
Das Ganze endet in der Arztstation der Polizeiwache. Wolfe hat in seinem Bierrausch eine Frau fast totgeschlagen und muss selbst mit gebrochener Nase und Kopfverletzungen ins Krankenhaus. Nach seiner Entlassung verlässt er fluchtartig die Stadt.
Oktoberfest 1960: Oberbürgermeister Thomas Wimmer zapft das erste Fass an – damit ist die Wiesn eröffnet. Die Zeremonie wirkt, als sei es nie anders gewesen.
Doch Wimmer selbst hat sie erst zehn Jahre zuvor «kreiert» – bei der zweiten «echten» Wiesen nach dem Krieg, 1950: «Aber warum hab ich das denn gemacht? München hat eine Zeit gehabt, wo das Braugewerbe das zweitstärkste Gewerbe war. Schottenhammel … jetzt wird praktisch der erste Hirsch von mir angestochen … ein bisschen hab ich das schon in Übung gehabt. Das war eine gesellige Sache … da fällt ihm keine Perle aus der Krone, wenn er die ersten sieben Maß herauslässt, und dann geht es weiter.»
Florian Dehring: «Das hat so eingeschlagen, dass dann danach jährlich wiederholt worden ist und dann erst durch den Bayerischen Rundfunk zuerst übers Radio und dann vom Fernsehen zu dieser großen Aufmerksamkeit gekommen ist. Also in jeder Kracherlgemeinde ist es jetzt so, dass der Bürgermeister immer anzapft, dieses Anzapfen kommt immer vom Münchner Oktoberfest.»
Was dereinst dem König oblag oder dem Prinzregenten, nämlich die offizielle Eröffnung mit Schau-Effekt, das übernimmt nun der Bürgermeister. Allerdings, ganz der Staatsform gemäß, auf handfestere Art und Weise als seinerzeit in der Monarchie.
Florian Dehring: «Es wäre vollkommen unmöglich gewesen, dass ein bayerischer König angezapft hätte. Geht ned. Sondern das ist ein neues Ritual, und das geht erst in unserer Demokratie. Da sieht man mal, wie sich in der Geschichte des Festes verändert und eine Zeremonie, wie das sich durch einen eher zufälligen Anlass entwickelt und zu einem neuen Festanfang gefunden hat, die es vorher in der Form gar nicht gegeben hat.»
Obwohl das Oktoberfest so selbstverständlich stattzufinden scheint wie Weihnachten und Ostern, gab es immer wieder Pausen – und stets sind sie ein Indiz für schlechte Zeiten, für Cholera-Epidemien zum Beispiel, wie 1854 und 1873 oder für Krieg, wie von 1914 bis 1918 und zwischen 1939 und 1948: die längste Pause auf der Theresienwiese. Als kleiner Ersatz fand in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg ein Herbstfest statt. Gegen Brot- und Fleischmarken gab es Dünnbier, Fischsemmeln und gebratene Würste. 25 Ball-Wurfbuden sollten die Schießbuden ersetzen, die die amerikanischen Besatzer verboten hatten.
Am Oktoberfest lassen sich das Entstehen von Traditionen, aber auch Veränderungsprozesse besonders gut beobachten. Beispiel Kleidermode: Mittlerweile ist es «in», sich extra für die Wiesnzeit in eine Art «Jodelkostüm» zu werfen, das nur noch entfernt an alte Trachten erinnert. Für den Volkskundler Florian Dehring kein Grund, die Nase zu rümpfen: «Das ist eine Bekleidung, die zumindest dazu beiträgt, dass man sagt, das ist was Besonderes und dazu ziehe ich mich besonders an. Wie das dann im Einzelnen ausschaut, das muss man nicht immer so genau anschauen und werten. Und wenn man den Begriff entwickelt, dass es auch eine Verkleidung sein kann, dann glaube ich, dass eine Verlagerung gibt in München. Dass der Fasching reduziert worden ist, also die Menschen gehen nicht mehr so viel in Fasching, und diese Ausgelassenheit, diese jährliche, findet in den zwei Wochen auf der Wiesn statt.
Und dieses besondere Geschehnis, zu dem man sicher auch viel Geld ausgibt, sonst tät ja das Ganze nicht funktionieren – denn das weiß man ja, wie schnell es einem da das Geld wegpfeift – dass man dann zu diesem Anlass sich auch kleidet, das seh ich als Verbindung, die durchaus interessant ist, dass man sagt, das Oktoberfest ist jetzt unser Fest für Ausgelassenheit.»
In den Jahren ab 1960 begann der Aufstieg – manche nennen es auch Abstieg – zum berühmten Massenfest. Auf der ganzen Welt gilt heutzutage: Das gute Deutschland, das ist Bier und Oktoberfest. Und so drängen sich in den entscheidenden zwei Wochen Spanier, Italiener, Japaner und Franzosen auf der Theresienwiese und konkurrieren mit den Einheimischen um die Plätze.
Wenn die Jugendlichen sich jetzt um neun Uhr treffen vor irgendeinem Zelt und da anstehen und dann mit Ach und Krach einen Tisch kriegen und bleiben dann bis am Abend sitzen, weil wenn sie rausgehen, dann kommen sie nicht mehr zurück. Aber für einen Jugendlichen ist das das Höchste. Weil er sich an Platz erkämpft hat und das ist ganz, ganz wichtig.
Das Oktoberfest hat zurzeit bei jungen Leuten Prestige wie noch nie – es ist in. Doch es kann durchaus sein, dass sich das wieder ändert. Dass die Jugendlichen in 10, 20 Jahren sagen, hör mir doch auf mit dem Schmarren. Und dann werden vielleicht auch die wieder aufs Oktoberfest gehen können, die es gerne ein bisschen gemütlicher haben.
Carola Zinner
Glossar
Ludwig I. (1786–1868)
Bayerischer König von 1825 bis 1848. Bestieg nach dem Tod seines Vaters Maximilian I. Joseph den bayerischen Königsthron und baute München nach griechischem und italienschem Vorbild (z.B. Königsplatz, Feldherrnhalle) zur Kunststadt aus. Ludwig I. war mit Therese von Sachsen-Hildburghausen verheiratet. Das Gelände, auf dem die Hochzeit stattfand, wurde ihr zu Ehren als «Theresienwiese» bezeichnet. Er verlor den Thron 1848 wegen der Affäre mit der Tänzerin Lola Montez.
Maximilian I. Joseph (1756–1825)
Bayerischer Kurfürst und König, der Bayern von 1799 bis 1805 als Kurfürst und von 1806 bis 1825 als erster König regierte, nachdem Bayern am 1. Januar 1806 zum Königreich wurde.
Wimmer, Thomas (1887–1964)
Oberbürgermeister der Stadt München, der von 1948 bis 1960 regierte. In der Zeit des Nationalsozialismus wurde der SPD-Politiker verfolgt und u. a. im KZ Dachau inhaftiert. Nach dem Krieg war er die Symbolfigur für den Wiederaufbau der Stadt München. Das erste Oktoberfest nach dem Krieg fand im Jahre 1949 statt. Ein Jahr später übernahm Thomas Wimmer als Erster seines Amtes das Anzapfen im Schottenhammel-Festzelt.
Wittelsbacher
Adelsgeschlecht, das nach der Burg Wittelsbach in der Nähe von Aichach benannt wurde, und aus dem über viele Jahrhunderte die bayerischen und pfälzischen Herrscher hervorgingen. 1180 wurde Pfalzgraf Otto I. von Kaiser Friedrich Barbarossa mit Bayern belehnt. Mit der Absetzung des letzten Königs von Bayern, Ludwigs III., im Jahre 1918 war die 738 Jahre dauernde Wittelsbacher Dynastie beendet.
Vogelschießen
Brauch aus dem Schützenwesen, der den mittelalterlichen Schießübungen der Männer entsprungen ist; dabei gilt es, einen hölzernen Vogel abzuschießen, wobei derjenige gewonnen hat, der das letzte Stück des Vogels trifft. In verschiedenen Modifikationen ist das Vogelschießen heute meist Teil eines Schützen- oder Volksfestes.
Fragen & Antworten
Aufgabe 1
Welches Ereignis stellt den Beginn des Oktoberfestes dar?
Aufgabe 2
Woher hat die Theresienwiese ihren Namen?
Aufgabe 3
Warum begrüßte König Maximilian I. Joseph ein Volksfest, das jedes Jahr stattfand?
Aufgabe 4
Wie muss man sich das Oktoberfest in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorstellen?
Aufgabe 5
Wie veränderte sich das Fest in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts?
Aufgabe 6
Welche Attraktionen konnte man auf der Wiesn des 19. Jahrhunderts bestaunen?
Aufgabe 7
Wann wurde nach dem 2. Weltkrieg das erste Oktoberfest gefeiert?
Aufgabe 8
Welche weiteren Pausen erlebte das Oktoberfest in seiner Geschichte?
Aufgabe 9
Wie wird seit 1950 das Oktoberfest jedes Jahr eröffnet?
Aufgabe 10
Inwiefern kann man am Oktoberfest gesellschaftliche Veränderungsprozesse abzulesen?
Mögliche Antworten im Überblick
Aufgabe 1: Die Hochzeit des Kronprinzen Ludwig am 12. Oktober 1810.
Aufgabe 2: Die Braut des Kronprinzen Ludwig war die Prinzessin Therese von Sachsen-Hildburghausen. Ihr zu Ehren wurde die Fläche, auf der die Hochzeitsfeierlichkeiten stattfanden, so benannt.
Aufgabe 3: Zum einen konnten die Besucher die Königsfamilie sehen, was zur Identifikation der Bevölkerung mit dem noch jungen Königshaus beitrug, denn Bayern war erst 1806 zum Königreich geworden. Zum anderen bot das bürgernahe Fest eine Möglichkeit, die verschiedenen Regionen Bayerns miteinander in Kontakt zu bringen.
Aufgabe 4: Das Oktoberfest war zu dieser Zeit eine Kombination aus Rummelplatz und Landwirtschaftsfest mit noch recht einfach gehaltener Verköstigung.
Aufgabe 5: Allmählich gab es verschiedene Attraktionen zu bewundern. Auch das Bier rückte mehr in den Mittelpunkt.
Aufgabe 6: Ballonfahrten, Vogelschießen, Tierschauen und Kinos.
Aufgabe 7: Nach 10 Jahren Unterbrechung fand im Jahre 1949 die erste Wiesn wieder statt.
Aufgabe 8: Wegen einer Choleraepidemie fand in den Jahren 1854 und 1873 kein Fest statt. Zudem mussten die Feierlichkeiten von 1914 bis 1918 und zwischen 1939 und 1948 wegen der beiden Weltkriege ausfallen.
Aufgabe 9: Der jeweilige Oberbürgermeister der Stadt München zapft das erste Fass mit den Worten «Ozapft is!» («Es ist angezapft!») an. Gleichzeitig werden Böllerschüsse abgefeuert.
Aufgabe 10: Das Oktoberfest als Fest für alle Bevölkerungsschichten ist natürlich auch ein Spiegel der Gesellschaft. Nicht nur die Kleidung ändert sich immer wieder, auch die politische Bedeutung des Festes ist heute v. a. wirtschaftlichen Interessen und dem Spaßbedürfnis der Gesellschaft gewichen, zudem ist aus dem bayerischen Volksfest eine internationale Massengaudi geworden.