Literatur
Herta Müller: Barfüßiger Februar
(Fortsetzung aus Nr. 16, 17, 18/2007)
Die große schwarze Achse
Auf dem Weg durchs Dorf sang der Schmied La Paloma. Seine Hand tanzte in der Luft und sein Auge tanzte mit. Nur seine leere Augenhöhle konnte sich nicht drehn. Großvater lächelte, und schwitzte, und schwieg in seinem Glück. Und seinen Augen sah man an, daß sie zurückschauten in andre Jahre. Die häuften sich, weil sie schon in der Erde waren. Und seine Beine traten stelzend auf und gingen langsam.
Ionel warf seinen Acker übers Dorf, über die Dächer und fuhr hinter der Kirche in die Bäume.
Vor mir ging die Kantorin. Ihr Kleid flatterte mit blauen Blumensträußen. Einmal war sie bei einem Begräbnis mitten im Singen neben dem Pfarrer zusammengebrochen. Ihr Mund stand damals offen und schäumte weiß, daß es Meerrettich war, der ihr am Hals in den Kragen tropfte. Großvater knöpfte damals seinen schwarzen Rock auf und sagte mir ins Ohr: «Sie hat die Hinfallende. Gleich ist es vorbei.»
Ich sah die Mühle dreimal. Zweimal stand sie Kopf, einmal im Teich und einmal in den Wolken. Eine rote Wolke war die Königin. Sie hatte Glut im Kleid und schaute durch ihr graues Haar auf meine Kette.
Hinter mir gingen Schritte. Die hallten unters Pflaster und kamen hinter meinen Fersen aus dem Gehsteig heraus. Ich schaute mich nicht um. Die Schritte waren nicht so dicht und waren größer als die meinen. Meine Kette schlängelte neben den Hosenbeinen, als der Agronom mich überholte. Ich murmelte etwas, wie einen Gruß, etwas, was er mit hohen weißen Ohren in den blanken Schuhen gehend, überhörte.
Der Agronom hatte einen hellgrauen Anzug mit dunkelgrauem Muster an. Es war ein Fischgrätmuster, und es war hell an den Schultern und dunkel am Rückgrat. Der Agronom ging mit schwarzen Wirbeln in seinen Fischgräten hinter der Kantorin her. Sein Weg war kniehoch über der Erde, war nicht auf dem Pflaster. Sein Weg war auf den Waden der Kantorin, bleich und oval war sein Weg, und ein wenig zu schmal an den Fersen. Und er stürzte auch ab, an den Fersen, und er kam diesem flatternden Kleid nicht mehr nach. Und es blieb ihm der breitere tiefere Gang, vor mir, auf dem Pflaster.
Auf der anderen Straßenseite ging der Briefträger. Der Schirm seiner Mütze war wie ein Dach. Ich sah die Wurzeln seines Gesichts, ich sah seinen Schnurrbart. Seinen Mund sah ich nicht.
Meine Kette rasselte in meinen Sohlen. Ich ging nicht zur Schmiede. Ich ging auf den Bahndamm zu. Denn hinterm Bahndamm hörte ich ein Lied. Und das Lied war im Bahndamm drin, es war lang und hoch, daß es ins Dorf fließen mußte, das Lied. Und das Lied war weich und traurig, wie Regen im Sommer auf der Erde.
Das Lied kam aus einer Geige. Und die Saiten waren wie Drähte an den Telegrafenstangen übers Dorf gespannt. Und eine Männerstimme sang so tief wie aus der Erde. Sie sang von Pferden und vom Hungerleiden auf den großen Straßen.
Auf dem Bahndamm, neben den Schienen, auf denen schwarze Züge fuhren, wuchs viel Gras. Das Gras zitterte vom Sog der Züge, die lange schon vorbei waren, im Tal. Und von den Zügen zitterte das Gras, die niemals in die Nacht fuhren, die erst ins Dorf kamen am nächsten Tag.
Im Gras, das immer zitterte und eine Weile mit den Zügen fuhr, weideten Pferde. Eines der Pferde hatte rote Bänder in der Mähne. Die Pferde hatten knochige Gesichter. «Sie müssen dreißig Jahre wandern. Dann kommen sie zur Ruh.» Auch die Pferde der Zigeuner sind Zigeuner.
Hinterm Bahndamm standen zwei Zigeunerwagen mit runden, aufgespannten Planen. An den Rädern hingen staubige Laternen mit ertrunkenem und schwarzem Docht.
Neben den Wagen war ein offener Kreis aus Leuten. Die aus der letzten Reihe hatten Hosenbeine, und Waden, und Rücken, und Köpfe. Und die aus der vorletzten Reihe hatten Schultern, und Hälse, und Köpfe. Und die aus der ersten Reihe hatten Haarspitzen, und Hutränder, und Kopftuchenden.
Fortsetzung folgt
stel|zen <sw. V.; ist> [spätmhd. stelzenÿ= auf einem Holzbein gehen]: 1. auf Stelzen gehen. 2. sich mit steifen, großen Schritten irgendwohin bewegen: der Reiher stelzt durch das Wasser; <oft im 2. Part.:> ein gestelzter Gang; Ü eine gestelzte (abwertend; gespreizte) Ausdrucksweise.
flat|tern <sw.ÿV.> [frühnhd. flatern, mhd. vladeren, wohl verw. mit Falter]: 1. a) unruhig-taumelig irgendwohin fliegen <ist>: ein Vogel flattert durch das Zimmer; b) mit den Flügeln in kurzen Abständen schlagen [u. sich hin u. her bewegen] <hat>. 2. (von Blättern, Papierstücken o.ÿÄ.) vom Wind od. Luftzug bewegt weitergetragen werden <ist>: die Blätter flatterten durch die Luft; Ü eine Einladung ist mir auf den Tisch geflattert (ich habe sie unvermutet, unerwartet bekommen). 3. <hat> a) heftig vom Wind bewegt werden: die Fahne flattert im Wind; b) [aufgrund von innerer Unruhe od. Erregtheit] sich unruhig, zitternd bewegen: seine Hände flatterten nervös; Ü das Herz, der Puls beginnt zu f. (unregelmäßig zu schlagen); c) (ugs.) die [Boden]haftung verlieren u. dadurch unregelmäßig u. heftig vibrieren.
zu|sam|men|bre|chen <st. V.; ist>: 1. einstürzen; in Trümmer gehen: das Gerüst, die Brücke ist zusammengebrochen; Ü die Lügengebäude der Zeugen brachen zusammen; das ganze Unglück brach über ihr zusammen (brach über sie herein). 2. einen Schwächeanfall, Kräfteverlust erleiden u. in sich zusammenfallen, sich nicht aufrecht halten können u. niedersinken: auf dem Marsch, vor Erschöpfung, ohnmächtig, tot z.; der Vater brach bei der Todesnachricht völlig zusammen (war dadurch völlig gebrochen). 3. sich nicht aufrechterhalten, nicht fortsetzen lassen; zum Erliegen kommen: die Front, der Verkehr, der Terminplan brach zusammen; jmds. Kreislauf ist zusammengebrochen; an diesem Tag brach für ihn eine Welt zusammen (sah er sich in seinem Glauben an bestimmte ideelle Werte enttäuscht).
hinfallende Krankheit (südd., österr.): Epilepsie, Fallsucht, Morbus sacer (Med.).
ras|seln <sw. V.> [mhd. ²¡’’¥¬®, zu: ²¡’’¥®ÿ= toben, lärmen]: 1. <hat> a) in rascher Aufeinanderfolge dumpfe, metallisch klingende Geräusche von sich geben: der Wecker rasselt; rasselnd lief die Ankerkette von der Winde; Ü der Kranke atmet rasselnd; seine Lunge rasselt; b) [mit einer Rassel] ein Rasseln (1 a) erzeugen: sie rasselt mit dem Schlüsselbund. 2. <ist> a) sich mit einem rasselnden (1 a) Geräusch [fort]bewegen, irgendwohin bewegen: Panzer rasselten durch die Straßen; sie ist mit dem Wagen gegen einen Baum gerasselt (ugs.; gefahren); b) (salopp) (eine Prüfung) nicht bestehen: durchs Abitur r.
Schmie|de, die; -, -n [mhd. smitte, ahd. smitta]: 1. a) Werkstatt eines Schmieds: in dem Haus war früher eine S.; *vor die rechte S. gehen/kommen (sich an die richtige Stelle, Person wenden); b) Betrieb, in dem Metall durch Schmieden be-, verarbeitet wird. 2. Gebäude, in dem sich eine Schmiede (1 a, b) befindet.
Sog, der; -[e]s, -e [aus dem Niederd. < mniederd. soch, eigtl.ÿ= das Saugen, zu saugen]: 1. (in der nächsten Umgebung eines Strudels od. Wirbels od. hinter einem sich in Bewegung befindenden Gegenstand, z.ÿB. einem fahrenden Fahrzeug, auftretende) saugende Strömung in Luft od. Wasser: einen S. erzeugen; in den S. der Schiffsschraube geraten; Ü der S. (die starke Anziehungskraft) der großen Städte. 2. (Meeresk.) Strömung, die unter landwärts gerichteten Wellen seewärts zieht.
Pla|ne, die; -, -n [ostmd. Nebenf. von Blahe]: [große] Decke aus festem, Wasser abweisendem Material, die zum Schutz [von offenen Booten, Lastkraftwagen o.ÿÄ.] gegen Witterungseinflüsse verwendet wird: etw. mit einer P. abdecken.
Aus: Herta Müller: Barfüßiger Februar. Rotbuch Verlag, Berlin 1987. S. 5–23.