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Sonderthema

Victor Klemperer: Leben und Werk

Victor Klemperer hat mit seinem Leben Geschichte geschrieben. Am neunten Tag des Herbstmonats Oktober 1881 wurde er als neuntes und letztes Kind seiner Eltern, Wilhelm und Henriette Klemperer, geboren.

Als Sohn eines Reformrabbiners kam Klemperer über Bromberg nach Berlin, da sein Vater dort eine Stelle als 2. Prediger der Berliner Reformgemeinde annahm. Wie auch seine älteren Brüder besucht er das Französische und später das Friedrichs-Werdersche Gymnasium. Jedoch verlässt er Letzteres frühzeitig ohne Abschluss und beginnt 1896 eine Kaufmannslehre bei der Kurz- und Galanteriewaren-Exportfirma Löwenstein und Hecht, die ihm von seinen Eltern aufgenötigt wurde.

Seine Jugend verbrachte er im Schatten seiner älteren Brüder, vor allem des bedeutenden Mediziners Georg und des gefragten Rechtsanwalts Berthold.

Da seine berufliche Entwicklung lange Zeit von Widersprüchen gekennzeichnet war, beschreibt er diese Jahre später als demütigend und geprägt durch die Ablehnung seiner Familie.

Auf eigenen Wunsch holte Victor Klemperer 1900 das Abitur nach und begann anschließend 1902 das Studium der Philosophie und der romanischen und germanischen Philologie, welches ihn im Zeitraum zwischen 1902–1905 nach Paris, Genf, München und Berlin führte.

Den darauf folgenden Jahren als freier Publizist in Berlin verdankt er seinen geschliffenen Stil und die Liebe seines Lebens (wenn auch nicht in dieser Reihenfolge). 1906 heiratete er die Konzertpianistin und Malerin Eva Schlemmer. In späteren Tagebuchaufzeichnungen schrieb Victor Klemperer über sie: «Immer war mir ganz wohl, wenn du bei mir warst.» Seine Tagebucharbeit war Grundlage für spätere Werke und wichtiges Zeugnis seines Lebens und seines inneren Widerstands gegen das Dritte Reich.

Er beschreibt in seinem berühmt gewordenen Buch LTI (Lingua Tertii Imperii – Sprache des Dritten Reiches), was ihn in all den Jahren zum Schreiben bewegt und den einzigartigen Wert seines Tagebuchs ausmacht: «In den Stunden des Elends und der Hoffnungslosigkeit, in der endlosen Öde mechanischer Fabrikarbeit, an Kranken- und Sterbebetten, an Gräbern, in eigener Bedrängnis, in Momenten äußerster Schmach, bei physisch versagendem Herzen – immer half mir diese Forderung an mich selber – beobachte, studiere, präge dir ein, was geschieht – morgen sieht es schon anders aus, morgen fühlst du es schon anders: halte fest, wie es eben jetzt sich kundgibt und wirkt.» Die Aufgabe, alles Erlebte, sogar Gerüchte, Witze und Nachrichten in Worten festzuhalten, wurde in den Nazijahren zur «Balancierstange» in seinem Leben, ohne die er abgestürzt wäre.

Nachdem Victor Klemperer versuchte, sich mit literarischen Arbeiten und Vorträgen in jüdischen literarischen Vereinen selbstständig zu machen, endet seine Zeit als Journalist und Schriftsteller. 1912 nimmt er das Studium in München wieder auf. Dies war vor allem Resultat des Drängens der Brüder, die ihn finanziell unterstützten.

Im gleichen Jahr konvertierte er zum Protestantismus. Der Übertritt zur evangelischen Kirche wurde von den Nazis später nicht akzeptiert. Als Victor Klemperer 1942 bei einer Befragung durch die Gestapo sagte: «Ich bin Protestant», erwiderte der ihn befragende Beamte: «Was sind Sie? Getauft? Das ist doch bloß getarnt.»

Nach dem Studium in München und zwei Jahren als Lektor in Neapel habilitierte er sich 1915 bei Karl Vossler mit einer Arbeit über Montesquieu. Diese erregte Aufsehen und festigte seinen Ruf als Wissenschaftler.

Im November 1915 meldete sich Victor Klemperer als Kriegsfreiwilliger und befand sich bis zum März 1916 an der Front. Er erlebte den Krieg hautnah mit und begann als Zensor im Buchprüfungsamt der Presseabteilung des Militärgouvernements Litauen in Kowno und Leipzig.

Nach den Wirrungen des 1. Weltkriegs kehrte er nach München zurück. Die großen Universitäten bleiben ihm jedoch verschlossen, und so nimmt er eine Stelle an der Technischen Hochschule in Dresden an, wo er bis zu seiner Entlassung 1935, aufgrund der rassistischen Gesetze des NS-Staates, tätig ist. In diesen Jahren veröffentlicht er wissenschaftliche Arbeiten zu französischer Literatur und Philologie und so werden die Dresdner Jahre für Victor Klemperer zu seiner äußerst schöpferischen Zeit.

Mit dem Jahr 1933 erfolgt der tiefe Einschnitt. Obwohl jüdischer Herkunft, blieb Victor Klemperer während der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland. Er war unmittelbar von Hitlers antisemitischem Programm betroffen, versuchte jedoch diesen Gedanken vorerst soweit wie möglich zu verdrängen.

«Ich flüchtete, ich vergrub mich in meinen Beruf, ich hielt meine Vorlesungen und übersah krampfhaft das Immer-leerer-Werden der Bänke vor mir.»
Er hatte die Illusion, dass man ihn als Kriegsteilnehmer verschonen würde, und klammerte sich an seine Arbeit. Die Realität wurde ihm bald bewusst gemacht, als er 1935 von Reichsstatthalter Mutschmann aus dem Amt gejagt wurde.

Die kommenden Jahre waren von Elend und Not gezeichnet. Seine nichtjüdische Ehefrau Eva Klemperer war mutig und ließ sich trotz großen Drucks nicht von ihm scheiden. Dies gab Victor Klemperer Kraft und wurde für ihn zur Überlebenschance. In seinem Tagebuch schrieb er: «Evakuierung hiesiger Juden am kommenden Mittwoch, ausgenommen, wer über 65, wer das EK I besitzt, wer in Mischehen, auch Kinderloser, lebt. Punkt 3 schützt mich – wie lange?»

Seine Zeit verbrachte er nun mit wissenschaftlichen Studien im Japanischen Palais in Dresden, bis ihm als Jude auch der Besuch der Bibliothek untersagt wurde.

Über den Angestellten, der ihm die niederschmetternde Nachricht überbrachte, schrieb er: «Der Mann war in fassungsloser Erregung, ich musste ihn beruhigen. Er streichelte mir immerfort die Hand, er konnte die Tränen nicht unterdrücken, er stammelte. Es kocht in mir...»

1940 müssen Eva und Victor Klemperer aufgrund der Nürnberger Rassengesetze ihr Haus verlassen und werden in ein «Judenhaus» eingewiesen. Die Stimmung war angespannt, die Ernährungsversorgung schlecht und ständige gewaltsame Haussuchungen der Gestapo machten das Leben unerträglich und deprimierten die beiden.

Gemeinsam mit ihrem Mann ertrug Eva Klemperer Isolierungen, Demütigungen und ein Leben in Angst und Gefahr. Sie brachte Manuskripte und Aufzeichnungen nach Pirna, um sie bei einer Freundin versteckt retten zu können. Victor Klemperer wurde zur Zwangsarbeit verpflichtet.

In der Zeit des Bangens setzt sich Victor Klemperer intensiv mit dem Judentum auseinander. Er liest viele Bücher, unter anderem Martin Buber, Franz Rosenzweig u. a. Trotz seines Unverständnisses in vielen Fragen des Judentums nimmt er tiefe Anteilnahme am Schicksal der Leidensgefährten. Er gibt auch die Hoffnung nicht auf: «Es fallen so viele rings um mich, und ich lebe noch. Vielleicht ist es mir doch vergönnt, zu überleben und Zeugnis abzulegen.»

Sein Wunsch wird wahr. Die Zerstörung Dresdens am 13. Februar 1945 bedeutete für ihn die Rettung vor der bevorstehenden Deportation, denn das Judenhaus, in dem er lebte, stand sofort in Flammen. Victor Klemperer rettete sich und floh mit seiner Frau bis nach Bayern, wo sie den Einmarsch der amerikanischen Truppen erlebten.

Nach Ende des Krieges kehren sie nach Dresden zurück, und im selben Jahr nimmt Victor Klemperer seine Tätigkeit als Professor an der Technischen Hochschule Dresden wieder auf. 1946 schrieb er alten Freunden: «Ich möchte gar zu gerne am Auspumpen der Jauchengrube Deutschlands mitarbeiten, dass wieder etwas Anständiges aus diesem Lande werde.»

1947 veröffentlichte er LTI. In den folgenden Jahren lehrte er an den Universitäten Halle und Greifswald, doch sagte er: «Nie mehr werde ich ungezwungen sein.» Zuvor tritt er 1945 zusammen mit Eva in die KPD ein. «Ich glaube, dass wir nur durch allerentscheidendste Linksrichtung aus dem gegenwärtigen Elend hinausgelangen und vor seiner Wiederkehr bewahrt werden können.» Am 8. Juli 1951 stirbt Eva Klemperer, die von Victor Klemperer als uneigennützig und niemals neidisch beschrieben wurde.

Klemperer wird Professor an der Universität in Berlin und heiratet ein Jahr später Hadwig Kirchner. Oft hat er das Gefühl, Eva mit Hadwig und Hadwig mit Eva zu betrügen. Dennoch gibt ihm die Beziehung neue Lebensenergie. 1953 wird er Mitglied der Deutschen Akademie der Wissenschaften in Berlin und setzt sich für die Erneuerung humanistischen Denkens ein.

Leider bleibt ihm nicht mehr allzu viel Zeit. Am 11. Februar 1960 stirbt Victor Klemperer im Alter von 79 Jahren.


Victor Klemperer
Zeittafel

1881 Victor Klemperer wird am 9. Oktober in Landsberg/Warthe geboren. Vater: Rabbiner Dr. Wilhelm Klemperer. Mutter: Henriette Klemperer, geb. Franke

1890 Die Familie übersiedelt nach Berlin, der Vater wird 2. Prediger der Berliner Reformgemeinde.

1893 Besuch des Französischen Gymnasiums in Berlin.

1896 Besuch des Friedrichs-Werderschen Gymnasiums.

1897 Kaufmannslehre bei der Kurz- und Galanteriewaren-Exportfirma Löwenstein & Hecht.

1900–1902 Besuch des Königlichen Gymnasiums in Landsberg/Warthe; Reifeprüfung.

1902–1905 Studium (Philosophie, romanische und germanische Philologie) in München, Genf, Paris und Berlin.

1905–1912 Schriftsteller in Berlin.

1906 Heirat mit Eva Schlemmer (Pianistin und Malerin).

1912 Wiederaufnahme des Studiums in München.

1913 Promotion bei Franz Muncker.
Zweiter Parisaufenthalt: Montesquieu-Studien für Habilitationsschrift.

1914 Habilitation bei Karl Vossler.

1914/1915 Lektor an der Universität Neapel (als Privatdozent der Universität München).
Montesquieu, 2 Bände.

1915 Kriegsfreiwilliger (November 1915 bis März 1916 an der Front).

1916–1918 Zensor im Buchprüfungsamt der Presse-Abteilung des Militärgouvernements Litauen in Kowno und Leipzig.

1919 Außerordentlicher Professor an der Universität München.

1920–1935 Ordentlicher Professor an der Technischen Hochschule Dresden.

1923 Moderne Französische Prosa.

1925–1931 Die Französische Literatur von Napoleon zur Gegenwart, 4 Bände (Neuauflage 1956 unter dem Titel Geschichte der französischen Literatur im 19. und 20. Jahrhundert).

1926 Romanische Sonderart. Geistesgeschichtliche Studien.

1929 Idealistische Literaturgeschichte. Grundsätzliche und anwendende Studien. Moderne Französische Lyrik.

1933 Pierre Corneille.

1935 «Entpflichtung» auf Grund des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsamtentums.

1945–1947 Ordentlicher Professor an der Technischen Hochschule Dresden.

1947 LTI. Notizbuch eines Philologen.

1947/1948 Ordentlicher Professor an der Universität Greifswald.

1948–1960 Ordentlicher Professor an der Universität Halle.

1951 Am 8. Juli stirbt Eva Klemperer.

1951–1954 Ordentlicher Professor an der Universität Berlin.

1951 Dr. h. c. paed. der Technischen Hochschule Dresden.

1952 Heirat mit Hadwig Kirchner.

1953 Mitglied der Deutschen Akademie der Wissenschaften in Berlin.

1954 Geschichte der französischen Literatur im 18. Jahrhundert, Band 1: Das Jahrhundert Voltaires.

1956 Vor 33/Nach 45. Gesammelte Werke.

1960 Victor Klemperer stirbt am 11. Februar in Dresden.

1966 Geschichte der französischen Literatur im 18. Jahrhundert, Band 2: Das Jahrhundert Rousseaus.

1989 Curriculum vitae. Erinnerung eines Philologen. 1881–1918.

Der Text ist entnommen aus:
http://www.judentum-projekt.de/persoenlichkeiten/geschichte/victorklemperer/