Главная страница «Первого сентября»Главная страница журнала «Немецкий язык»Содержание №19/2007

Sonderthema

Victor Klemperer: ein Jude erlebt das Kriegsende in Deutschland

«Wie völlig blind ist der Mensch. Er weiß nichts von der Vergangenheit, weil er nicht dabei war. Er weiß nichts von der Gegenwart, weil er dabei ist.» Mit seinen Tagebüchern 1933–1945 löste Victor Klemperer, zwangsemeritierter Professor für französische Literaturgeschichte, eine selbstgewählte Chronistenpflicht ein, um Zeugnis abzulegen für die Zeit danach. Doch schildern seine Aufzeichnungen nicht nur den alltäglichen Terror mit Schikanen, immer neuen Verboten und zunehmender Entrechtung der Juden. Sie lassen den Leser auch teilhaben an der verzweifelten Suche des Autors nach der historischen Wahrheit, die er in der erlebten Wirklichkeit mit all ihren Widersprüchlichkeiten nur so schwer ausfindig machen kann. So überliefern uns Victor Klemperers Tagebücher ein authentisches Bild vom Leben und Erleben unter Naziherrschaft und helfen uns, Vergangenheit und Gegenwart nicht blind zu begegnen. Die Bombardierung Dresdens im Februar 1945 rettete – so paradox es klingen mag – Victor Klemperer das Leben. In den Kriegswirren kann er gemeinsam mit seiner Frau vor der drohenden Deportation ins KZ nach München entfliehen. Seine bewegenden Berichte aus jenen Tagen des Kriegsendes lassen erahnen, wie viel Mut und Überlebenswille es all die Jahre bedurfte, um dem Naziregime nicht zum Opfer zu fallen.

«Man hörte sehr bald das immer tiefere und lautere Summen nahender Geschwader, das Licht ging aus, ein Krachen in der Nähe … Pause des Atemholens, man kniete geduckt zwischen den Stühlen, aus einigen Gruppen Wimmern und Weinen – neues Herankommen, neue Beengung der Todesgefahr, neuer Einschlag. Ich weiß nicht, wie oft sich das wiederholte. Plötzlich sprang das dem Eingang gegenüberliegende Kellerfenster der Rückwand auf und draußen war es taghell. Jemand rief: ‹Brandbombe, wir müssen löschen!› Eva war zwei Schritte vor mir. Dann ein Schlag am Fenster neben mir, etwas schlug heftig und glutheiß an meine rechte Gesichtsseite. Ich griff hin, die Hand war voller Blut, ich tastete das Auge ab, es war noch da. Ich konnte das Einzelne nicht unterscheiden, ich sah nur überall Flammen, hörte den Lärm des Feuers und des Sturms, empfand die fürchterliche innere Spannung. Ich hatte die Wolldecke – eine, die andere war mir wohl mit dem Hut verloren gegangen – um Kopf und Schultern gezogen, sie verdeckte auch den Stern.»

Dresden, 13. Februar 1945. Es ist Dienstagnacht. Eine Stadt versinkt im Flammenmeer. Für Tausende bedeutet die Bombardierung den sicheren Tod. So paradox es klingt: Für Victor Klemperer bedeutet die Bombardierung Rettung vor dem sicheren Tod. Als einem der wenigen Juden, die zuletzt noch in Dresden verblieben waren, hatte ihm die Deportation ins KZ bevorgestanden – nun trennt ihm seine Frau mit zitternder Hand den Judenstern vom Mantel. Im Chaos der Zerstörung beschließen die beiden zu entkommen, unterzutauchen. Ein älteres Ehepaar – er 63 und schwer herzkrank, sie ein Jahr jünger und ebenfalls von schwacher Gesundheit; diese beiden haben nur ein Ziel: Hinaus, weg, irgendwohin, wo den Professor Klemperer, den Juden Klemperer keiner kennt. Vor ihnen liegen 17 Wochen Flucht kreuz und quer durch Sachsen und Bayern. Sie haben nichts als das, was sie am Leib tragen und in den Händen halten können: Dazu gehört eine alte graue Tasche voller Papier. Es sind Klemperers Tagebuchaufzeichnungen, die er auch während der Flucht fortführt. Für ihn war das Schreiben «Gegengift gegen die Verzweiflung der Lage. Ich will aber, um einen Halt zu haben, genauso weiterarbeiten wie bisher. Vielleicht geschieht ein Wunder. Und wenn nicht – irgendwie muss ich doch über den Rest der Zeit wegkommen.»

Klemperer will aber auch schreiben, um festzuhalten, was sonst schnell in Vergessenheit gerät. Und das sind gerade die tausend kleinen Dinge des Alltags, das – wie er sagt – «eng Persönliche und konkret Tatsächliche». Das hat er die ganze Nazizeit hindurch getan. Wären die Aufzeichnungen von der Gestapo gefunden worden, hätte das für Klemperer unweigerlich den Tod bedeutet, doch das Risiko nimmt er auf sich: «Das ist mein Heldentum. Ich will Zeugnis ablegen, und exaktes Zeugnis! Es kommt nicht auf die großen Sachen an, sondern auf den Alltag der Tyrannei, der vergessen wird.»

Es sind Wochen des politischen Umbruchs und der sozialen Auflösung, diese letzten Kriegswochen im Frühjahr 1945. Durch Deutschland ziehen gewaltige Flüchtlingsströme aus dem Osten. Vieles, was die Klemperers erleiden, machen diese Menschen genauso durch. Doch für Klemperer kommt seine besondere Situation noch hinzu. Lange hält die Angst an, doch noch als Jude erkannt zu werden. Nur nicht jetzt noch sterben, jetzt, da Hitler bald besiegt sein muss – das ist der Gedanke, der Klemperer täglich bewegt, denn der Tod lauert überall.

«Der Hunger, die Bomben – ich wollte sie im doppelten Maße auf mich nehmen, wenn nur das immer stärker quälende Gefühl des Verfolgtseins wegfiele. Ich muss täglich mehrmals im Restaurant sitzen, und jede Minute dabei ist Tortur. Jeden Menschen fixiere ich daraufhin, wie weit er Funktionär oder Ähnliches sein dürfte. Ich sehe nicht, wie ich ein Vierteljahr verborgen bleiben soll. Wozu die Qual der ständigen Angst und des ständigen Hungerns, wenn ich zuletzt doch totgeschlagen werde?»

Zwölf Jahre der Diskriminierung, Entrechtung und Verfolgung lagen bereits hinter Klemperer und seiner Frau. Der einst geachtete Professor für französische Literaturgeschichte war nur deshalb lange vom Äußersten, von der Deportation verschont geblieben, weil er in sogenannter Mischehe lebte. Seine Frau war keine Jüdin. 1935 hatte er sein Amt verloren. Aber er war nicht nur in dieser Hinsicht ein Ausgestoßener geworden. 1940 hatten die Klemperers das eigene Haus verlassen müssen und seither in verschiedenen «Judenhäusern» gelebt, wo sie mit Schicksalsgenossen engsten Raum teilen mussten. Ständig wurden sie von immer neuen Schikanen gepeinigt. 1942 zieht Klemperer eine Art Zwischenbilanz der Verordnungen gegen Juden:

«Nach acht oder neun Uhr abends zu Hause sein. Kontrolle! Aus dem eigenen Haus vertrieben. Radioverbot, Telefonverbot. Theater-, Kino-, Konzert-, Museumsverbot.

Verbot, Zeitschriften zu abonnieren oder zu kaufen. Verbot, die Bannmeile Dresdens zu verlassen, den Bahnhof zu betreten. Seit dem 1. September der Judenstern. Verbot der Leihbibliotheken. Durch den Stern sind uns alle Restaurants verschlossen. Und in den Restaurants bekommt man immer noch etwas zu essen, wenn man zu Haus gar nichts mehr hat. Keine Kleiderkarte. Keine Fischkarte. Keine Sonderzuteilung wie Kaffee, Schokolade, Obst, Kondensmilch. Die Sondersteuern.

Ich glaube, diese Punkte sind alle zusammen nichts gegen die ständige Gefahr der Haussuchung, der Misshandlung, des Gefängnisses, Konzentrationslagers und gewaltsamen Todes.»

Schon früh hatte Klemperer erkannt, wie skrupellos die Nazis waren und welche Bedrohung von ihnen ausging. Doch Deutschland zu verlassen, dieser Gedanke empörte ihn maßlos. Sollte er vor den Nazis weichen, er, der sich vollkommen mit seinem Land identifizierte? «Ich bin für immer Deutscher, deutscher Nationalist.»

Auch glaubt Klemperer anfangs, wie viele, die Nazis würden sich nicht lange an der Macht halten. Die USA kamen für ihn als Emigrationsland nicht in Frage, konnte er doch kein Englisch, und die Arbeitsmöglichkeiten dort als Professor erschienen ihm in seinem Alter als zu schwierig. Und Palästina, das spätere Israel, lehnt er als eine ihm völlig fremde Lösung ab. So wird die Frage «Gehen oder bleiben?» so lange hinausgeschoben, bis es zu spät ist.

«Ich habe selber zu viel Nationalismus in mir gehabt und bin nun dafür bestraft», muss er bestürzt und enttäuscht erkennen. Für jede Rettung scheint es zu spät.

Im Judenhaus muss er mit ansehen, wie sich die Zahl der Bewohner ständig verringert: durch Selbstmord und durch Abtransport ins KZ. Als endlich im Chaos nach der Bombardierung Dresdens die Flucht gelingt, ist eine der ersten Stationen die Apotheke eines Bekannten in einem kleinen Ort im Vogtland. Herzlich werden die Klemperers aufgenommen, obwohl die Beherbergung schwierig und das Essen bereits knapp ist. Über die Situation seines Gastes macht sich der Apotheker freilich keine Gedanken. Voller Naivität stellt er das Ehepaar allen möglichen Leuten mit vollem Namen vor und versetzt dieses damit in höchste Angst: «Ich sagte Scherner die Gefahr, in der ich schwebe; er war erst ungläubig, er fragte ganz verwundert, ob denn die Nazis ‹solche Bestien› wären?»

In ihm porträtiert Klemperer den politisch gleichgültigen Menschen, der äußerlich mitläuft, innerlich völlig teilnahmslos ist, und dem Essen und Geldverdienen zum einzigen Lebensinhalt geworden sind.

«Scherner selbst trägt den Parteiknopf und im Privatkontor hängt das Hitlerbild. Unsere eigene Geschichte wird mit Rührung und Abscheu, aber doch auch wieder mit einiger Abgestumpftheit aufgenommen. Vielleicht aber ist die Stumpfheit nur das Nichtwissen, das Sich-nicht-vorstellen-Können. … er ist in diesen Dingen wie ein sechsjähriges Kind. Es gibt natürlich auch hier Gestapo. Und natürlich wird sie doch den Zuzug kontrollieren. Was weiß sie, wen sucht sie? Klemperer ist ein seltener und bekannter Judenname. Es ist ein entsetzliches Gefühl.»

Seine Ehefrau kommt schließlich auf die Idee, sich hinter falschen Personalien zu verbergen. Aus «Klemperer» wird «Kleinpeter», ein Studienrat aus Landsberg an der Warte. Für ihren Mann ist das ein «Seiltänzerplan, Mixtur aus Karl May und Sherlock Holmes. Ich bin mir bewusst, dass die Durchführung des von Eva gefundenen Planes von Eva abhängt: Sie muss überall die Handelnde und Sprechende sein, meine Geistesgegenwart oder Ruhe oder Tapferkeit reicht nicht aus, allein wäre ich bestimmt verloren. Ich bin mir durchaus bewusst, wie sehr sie ihr Leben aufs Spiel setzt, um meines zu retten.

Während wir das Tagebuch deponieren, behalten wir – wieder Evas Entscheidung – trotz der Gefahr einer Gepäckdurchsuchung unsere Pässe und einen J-Stern bei uns, weil wir diese Alibi-Zeugnisse für unsere Rettung ebenso nötig haben werden wie die arische Kleinpeterei.»

Obwohl seine Frau nicht sehr stabil ist – jahrelang hat sie mit schweren Depressionen und allerhand körperlichen Gebrechen zu kämpfen –, hält sie tapfer die Zeiten der Verfolgung durch. Das Kriegsende soll sie jedoch nur noch um wenige Jahre überleben. Für Klemperer bedeutet ihre Gegenwart Hoffnung auch in aussichtslosen Situationen. Auf der Flucht, am 18. März, als das eigene Schicksal völlig unsicher ist, schreibt er: «Kleine Morgenbetrachtung aus großer Liebe entstanden. Eigentlich ist doch die Hauptsache, dass wir uns vierzig Jahre so liebten und lieben. Wenn ich die Verfolgungen in Dresden, wenn ich den 13. Februar, wenn ich diese Flüchtlingswochen erlebt habe – warum soll ich nicht ebenso gut erleben (oder eben: ersterben), dass wir, Eva und ich, irgendwo uns mit Engelsflügeln oder in sonst einer schnurrigen Form wiederfinden?»

Die aufflackernde Hoffnung wird immer wieder durch die Wirklichkeit erstickt. Die Klemperers wollen nach Bayern, weil sie auch hier Bekannte haben. Der Weg dorthin aber wird immer beschwerlicher: «Zum Bahnhof zurück und sehr verspätet angetretene Fahrt; wie wir hofften, bis München. Stattdessen hieß es in Landshut, etwa um neun Uhr abends, jedenfalls bei völligem Dunkel: aussteigen, Strecke zerstört, Fußwanderung nach Altdorf, der nächsten Station, 4 km.

Rucksack und in jeder Hand eine schwere Reisetasche. Der Anschluss an die eilige Gruppe der Passagiere durfte um keinen Preis verloren gehen. Schlechtester Weg, stolpern, umknöcheln, rutschen, immerfort Gefahr, in einen Trichter zu stürzen.

Schwitzen, Schmerzen in Schultern und Armen, Vorwärtskeuchen, und nun sahen wir im Dunkeln einen Zug vor uns liegen. Etwa gegen elf Uhr setzte sich der Zug in Bewegung; ich dämmerte ein bisschen…»

Schließlich ist München erreicht. Klemperer fällt auf, dass hier kaum noch «Heil Hitler» gesagt wird, stattdessen sagt alle Welt «Grüß Gott». Das lässt hoffen. Doch erwartet die zwei Flüchtlinge auch das ganze Elend einer zerbombten Großstadt: «Gänzliche Trümmerfelder, halbe und ganze Ruinen mächtiger Gebäude und Palazzi, baufällige, irgendwo eingestürzte, angeschlagene, brettervernagelte Häuser. Die Wahrzeichenkirche steht, aber der eine Turm ist abgedeckt und der Dom selber zerschlagen, die Universität ist zum Teil eingeschlagen, die Tore sind teilweise beschädigt. Das Bahnhofsgebäude, die großen Hallendächer phantastisch-schauerlich zerstört. Darunter in großer Tiefe, die das Gefühl der Sicherheit gibt, ein ungeheurer Bunker, ganze Katakomben. Alles überfüllt von Liegenden, Sitzenden. Personal, Bahnpolizei oft sehr grob: ‹Aufwachen! Beine herunter! Die andern wollen auch sitzen…›»

Hier können die Klemperers nicht bleiben. Als unfreiwillige Vagabunden ziehen sie von einem Ort zum andern. Klemperer erzählt: «Wie wir in recht desolatem Zustand im Gasthof landeten und wie uns die junge Wirtin dort wortlos und mit beinahe spöttischem Kopfschütteln jeden Bissen und jeden Tropfen verweigerte, obwohl eine Gesellschaft einquartierter Soldaten ihr reichliches Essen erhielt. Während ich erbittert wartete, ging Eva zum Bürgermeister und kam mit einem Quartierzettel für den Bauern Joseph P. zurück.

Dieser P. ist nun das bösartigste Subjekt, dem wir auf unserer Flucht bisher begegnet sind. P. las den Zettel mürrisch, sagte dann, die Kammer mit nur einem Bett könnten wir haben, alles andere gehe ihn nichts an, er werde keine Hand rühren. Ich bat um Wasser. – ‹Wasser?› – Ja, zum Waschen, zum Trinken. Nein, er habe kein Wasser, die Pumpe sei in Unordnung.»

Aber solchen Fällen stehen auch Beispiele von Hilfsbereitschaft gegenüber. Und schließlich finden die Klemperers wohlwollende Aufnahme und Unterkunft für einen Monat.

«Wir kamen todmüde an, fragten uns zum Ortsbauernführer durch; von diesem Augenblick an ging es uns gut. Mit Selbstverständlichkeit wurden Strohsäcke, Kissen und Decken für uns auf den Boden der Wohnstube gelegt; dort sollten wir hausen, bis sich ein anderes Quartier für uns im Dorf gefunden habe. Wir legten uns erleichtert und beglückt.»

Hier erleben die Klemperers auch das Kriegsende. 28. April: Der Bürgermeister lässt am Giebel des Amtshauses das Hakenkreuz entfernen. 29. April: «Für hier ist der Krieg fraglos vorüber. Es ist, trotz aller momentanen Schwierigkeiten eine Freude zu leben.»

Doch am 8. Mai – nachträglich wissen wir, es ist der Tag der Kapitulation – kommen schon wieder Zweifel und Befürchtungen, denn es sind keine sicheren Nachrichten zu bekommen: «Um wirkliche Hilfe zu erfahren, müsste ich mich als Jude dekuvrieren. Das möchte ich aber erst dann tun, wenn ich aus der hiesigen Umgebung mit Bestimmtheit und sogleich fortkomme … es ist gar nicht zu lösen, so lange uns alle Nachrichten fehlen.»

Doch schließlich ist es gewiss: Der Krieg ist vorbei! Die Klemperers beschließen heimzukehren. Zunächst heißt das, nochmals zurück nach München, um von der amerikanischen Besatzung eine Reisegenehmigung in die sowjetisch besetzte Zone zu erhalten, in der Dresden liegt. Die Klemperers müssen noch weitere drei Wochen des Elends, der Demütigung und der körperlichen Strapazen erdulden, bevor sie ans Ziel gelangen. Die Tatsache, dass Klemperer unter den Nazis verfolgt worden war, hilft ihm wider Erwarten nichts. War der Deutsche namens Klemperer unter den Nazis diskriminiert worden, weil er Jude war, so wird der Jude namens Klemperer nun benachteiligt, weil er Deutscher ist: «Ich sei ja Jude, aber doch deutscher Staatsangehöriger. Und meine Frau sei Christin und Deutsche. Und eine Zivilperson dürfe nicht im Wagen weiterbefördert werden.

Wir, die Befreiten, schleichen zu Fuß, wir bücken uns nach den Stummeln, wir, die wir gestern noch die Unterdrückten waren, und die wir heute die Befreiten heißen, sind schließlich doch nur die Mitgefangenen und Mitgedemütigten.»

Da keine Hilfe zu erwarten ist, beschließen die Klemperers, sich illegal von München aus nach Dresden durchzuschlagen: «Man marschierte allmählich mehr mit zusammengebissenen Zähnen als mit den Füßen.»

Den dem Tode Entronnenen droht nun noch eine letzte Todesgefahr: das Verhungern. 70 Pfund Gewicht wird der ohnehin schon schlanke Klemperer schließlich verloren haben. Aber es geht vorwärts Richtung Sachsen, in das sowjetisch besetzte Gebiet, wenn auch mit gemischten Gefühlen: «Mir war recht übel zumute. Was ich bisher bei den Russen erlebt, sah nicht nach persönlicher Freiheit und Sicherheit aus.»

Und schon jetzt ahnt er, was er wenige Wochen später so formulieren wird: «Das Volk ist so rettungslos dumm und gedächtnislos. Es denkt nur immer: ‹Vorher haben wir weniger gehungert›, und alles andere ist vergessen. Es wird bald denken: All diese Hitlergräuel sind erfundene Propaganda.»

Aber die Sehnsucht nach dem eigenen und sicheren Zuhause treibt vorwärts. Und das Gefühl: «Ich möchte hier wieder aufbauen helfen.»

Am 10. Juni endlich ist das Ziel erreicht. Die Klemperers kehren in ihr Haus zurück, das sie fünf Jahre zuvor hatten verlassen müssen. Mit ihnen kehrt auch die graue Tasche mit den Tagebuchseiten zurück. Klemperer stirbt 1960. In seinen Aufzeichnungen aber bleibt lebendig, was er erlebte und wie er mit seinem Schicksal fertig wurde. So sind seine Tagebücher nicht nur ein fesselndes Geschichtsbuch, sondern auch das Zeugnis eines einzigartigen Überlebenswillens.

Autorin: Karla Müller

Hintergrundinformationen zu Person und Werk

Victor Klemperer wurde 1881 als Sohn eines Rabbiners geboren. Er trat als junger Mann – auf Drängen seiner strebsamen Brüder – zum Protestantismus über. Seine geistige Heimat waren allerdings die Aufklärung und die Werte des liberalen Bildungsbürgertums. Nach dem Studium der Germanistik und Romanistik und unterschiedlichen beruflichen Etappen lehrte er ab 1920 in Dresden als ordentlicher Professor französische Literaturgeschichte.

Schon als Schüler hatte Klemperer begonnen, Tagebuch zu führen. Im Laufe der Jahre wuchs ein gewaltiges Textkonvolut, für die Zeit von 1933 bis 1945 allein mehr als 5000 Seiten. Mehr als drei Jahrzehnte nach Klemperers Tod im Jahr 1960 hat nun ein kundiger Herausgeber die Textmasse gesichtet und gekürzt und so dieses unschätzbare Dokument der Öffentlichkeit zugänglich gemacht: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933–1945. 2 Bände. Aufbau-Verlag, Berlin 1995.

Zur Vorgeschichte

Die Tagebücher spiegeln die Etappen einer zunehmenden Diskriminierung, Entrechtung und Verfolgung: Entlassung aus dem Amt (April 1935); Pflicht, den Namenszusatz «Israel» zu führen (August 1938); Bibliotheksbenutzungsverbot (Dezember 1938); Vertreibung aus dem eigenen Haus und Einweisung in diverse «Judenhäuser» (ab Mai 1940); Gefängnis (Juni 1941); Pflicht, den Judenstern zu tragen (September 1941); mehrere Zwangsarbeitseinsätze (ab 1942) usw. Dies alles wird begleitet von einer dichten Folge geradezu aberwitziger Schikanen und von der ständigen Bedrohung mit dem Tod. Nach und nach leert sich das «Judenhaus» – durch Selbstmord oder durch Abtransport ins Konzentrationslager. Nur Klemperer bleibt zurück, durch seine Ehe mit einer nichtjüdischen Frau geschützt, und weil seine schwache Gesundheit (Angina pectoris) seine Arbeitskraft einschränkt. In dieser Situation erleben die Klemperers die Zerstörung Dresdens im Februar 1945.

Zum Erfolg der Tagebücher

Die Aufnahme der Tagebuch-Publikation im Jahr 1995 war sensationell. Die Rezensenten äußerten sich einhellig begeistert, Klemperer erhielt postum den Geschwister-Scholl-Preis (bei dessen Verleihung Martin Walser eine umstrittene Rede hielt), und im überfüllten Münchener Werkraumtheater wurde der Text eine Woche lang von morgens bis in die Nacht hinein von Schauspielern vorgelesen. Inzwischen hat der New Yorker Verlag Random House die amerikanischen Rechte an dieser «intellektuellen Variante zum Tagebuch der Anne Frank» für den unglaublichen Preis von 500 000 US-Dollar erworben.

Oberflächlich betrachtet könnte dieser Erfolg verwundern, gibt es doch Bücher über die Nazizeit und Dokumente aus der Epoche bereits in Hülle und Fülle. Was macht die Tagebücher so besonders interessant und anrührend? Vor allem fasziniert der authentische Charakter der Aufzeichnungen. Klemperer schreibt eben nicht aus der Position dessen, dem sich aus dem Abstand der Jahre alles Vergangene glatt zu bestimmten Schemata und Erklärungsmustern fügt, sondern er lässt den Leser teilnehmen an der verzweifelten Suche nach der historischen Wahrheit, die sich doch nur so schwer aus den teilweise widersprüchlichen Elementen der erlebten Wirklichkeit destillieren lässt. Nirgendwo ist bisher vergleichbar der Alltag im Nationalsozialismus so facettenreich dokumentiert worden. Gerade heute müssen wir uns nach wie vor intensiv mit der Nazizeit beschäftigen und dabei können Bücher wie die Aufzeichnungen Klemperers erhellend sein. Darüber hinaus sind die Tagebücher nicht zuletzt das Zeugnis einer eindrucksvollen menschlichen Haltung. Es kann keinen Zweifel geben, wie schwer die Klemperers an ihrem Leben trugen, wie sehr sie mit Gefühlen der Vergeblichkeit, der Einsamkeit und Todesnähe, mit Depressionen und körperlichen Gebrechen kämpften. Dass sie dennoch durchhielten, zeigt einen unbeugsamen Überlebenswillen, der noch heute beeindruckt.


Glossar

dekuvrieren
aus dem Französischen = entlarven, entdecken.

Deportation
Zwangsverschickung, Verschleppung, Verbannung von einzelnen Menschen (z. B. politischen Gegnern oder Kriminellen) oder ganzen Völkern. Hier: der Juden.

Dresden
Hauptstadt des Landes Sachsen, in einer von der Elbe durchflossenen Senke gelegen, von 1952–1990 Hauptstadt des gleichnamigen Bezirks der DDR. Durch seine prachtvollen Bauten aus Barock und Rokoko gilt Dresden als eine der schönsten Städte Europas, das Elbtal in Dresden wurde 2004 zum Weltkulturerbe erklärt. Dresden entstand aus dem slawischen Drezga (vor 1216) und entwickelte sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts zu einem bedeutenden Industriezentrum. Die Stadt hat ca. 477 000 Einwohner, ist katholischer Bischofssitz und verfügt über eine Technische Universität, Hochschulen für Technik und Wirtschaft, für bildende Künste und für Musik, Forschungsinstitute, Bibliotheken und Archive; Museen, mehrere Theater, eine Oper und ein Operettenhaus. Gegen Ende des 2. Weltkriegs wurde Dresden infolge dreier (britischer) Luftangriffe stark zerstört, mindestens 35 000 Menschen kamen dabei ums Leben. Von den bedeutenden Bauten wiederhergestellt bzw. wiederaufgebaut sind: Zwinger (1709–1728), Japanisches Palais, Hofkirche (1739–1755), Kreuzkirche, Semperoper (1871–1878), Stadtschloss (16. Jahrhundert). Die Ruine der Frauenkirche (1726–1734) blieb bis zu ihrem Wiederaufbau (1993–2005) als Mahnmal stehen.
(Quelle: http://www.wissen.de)

Emigration
aus dem Lateinischen = Auswanderung insbes. aus politischen oder religiösen Gründen.

Funktionär
aus dem Französischen = hauptberuflicher oder ehrenamtlicher Beauftragter in gesellschaftlichen Organisationen, z. B. in einer Partei. In der Regel auf der mittleren Ebene angesiedelt gehören Organisieren und Koordinieren zu den zentralen Aufgaben eines Funktionärs.

Geschwader
Verband von Kriegsschiffen oder wie hier: fliegender Verband aus mehreren Staffeln, auch Truppeneinheit der Luftwaffe.

Gestapo
Abk. für Geheime Staatspolizei. Im Nationalsozialismus politische Polizei und wesentliche Stütze des Terrorregimes. Die Gestapo trat nicht uniformiert auf, war von Justiz und Verwaltung unabhängig und bediente sich skrupelloser Fahndungs- und Verhörmethoden (Folter, Mord). 1946 wurde sie vom Nürnberger Kriegsverbrechertribunal zur verbrecherischen Organisation erklärt.

Judenhaus
Mit dem «Gesetz über die Mietverhältnisse mit Juden» (30.04.1939) wurde verfügt, dass Juden und «Arier» nicht mehr unter einem Dach wohnen sollten. In der Folge und mit Hilfe der Stadtverwaltung wurden jüdische Familien erfasst und zwangsweise in sogenannte «Judenhäuser» einquartiert. Dies waren in der Regel Häuser, die sich in jüdischem Eigentum befanden. Die Erfassung der jüdischen Bevölkerung und ihre Konzentration in den «Judenhäusern» war eine wichtige Vorstufe für die im Herbst 1941 bzw. Januar 1942 einsetzenden Deportationen in die Konzentrations- und Vernichtungslager in Osteuropa.

Katakombe
aus dem Italienischen = unterirdische Begräbnisstätte.

KZ/Konzentrationslager
Massenlager, das die Elemente des Arbeits-, Kriegsgefangenen- und Internierungslager sowie Elemente des Gefängnisses und Ghettos vereinigt. Im nationalsozialistischen Staat wurden auf der Grundlage der Notverordnung vom 28. Februar 1933 politische Gegner (Kommunisten, Sozialdemokraten u. a.) ab März 1933 in «polizeiliche Schutzhaft» genommen. Ab 1935 wurde nicht nur die Ausschaltung aller Regimegegner angestrebt, sondern auch aller Personen, die aus ideologischen, rassischen und nationalen oder sozialen Gründen zu «Volksschädlingen» erklärt wurden.

Palazzi
italienisch = Paläste (Palast = Palazzo).

Tortur
aus dem Lateinischen = Qual, Folter.

Tyrannei
aus dem Griechischen = Gewalt-, Willkürherrschaft.

Vagabund
aus dem Französischen = Landstreicher.


Judenverfolgung im NS-Staat

Fragen & Antworten

Aufgabe 1
Wann fand die Bombardierung Dresdens statt?

Aufgabe 2
Wann war das offizielle Kriegsende?

Aufgabe 3
Von welchen Verordnungen gegen Juden berichtet Victor Klemperer in seinen Aufzeichnungen?

Aufgabe 4
Welchen Beruf übte Victor Klemperer im Laufe seines Lebens aus?

Aufgabe 5
Aus welchen Gründen hat Victor Klemperer von 1933 bis 1945 Tagebuch geführt?

Aufgabe 6
Was stand Victor Klemperer kurz vor der Bombardierung Dresdens bevor?

Aufgabe 7
Wodurch gelang ihm und seiner Frau die Flucht?

Aufgabe 8
Wohin flohen sie?


Mögliche Antworten

Aufgabe 1. Wann fand die Bombardierung Dresdens statt?
Lösungshinweis: Am 13. Februar 1945.

Aufgabe 2. Wann war das offizielle Kriegsende?
Lösungshinweis: Am 8. Mai 1945, dem Tag der Kapitulation.

Aufgabe 3. Von welchen Verordnungen gegen Juden berichtet Victor Klemperer in seinen Aufzeichnungen?
Lösungshinweis: Ausgehverbot nach acht oder neun Uhr abends; Vertreibung aus Haus oder Wohnung in ein sogenanntes «Judenhaus»; Verbot, Zeitschriften zu abonnieren oder zu kaufen; Verbot, die Bannmeile Dresdens zu verlassen; Tragen des Judensterns und dadurch Ausschluss aus dem öffentlichen und gesellschaftlichen Leben; Zahlen von Extra-Steuern, keine Sonderzuteilungen wie Kaffee, Schokolade.

Aufgabe 4. Welchen Beruf übte Victor Klemperer aus?
Lösungshinweis: Er war Professor für französische Literaturgeschichte und wurde im Zuge der zunehmenden Entrechtung der Juden zwangsemeritiert.

Aufgabe 5. Aus welchen Gründen hat Victor Klemperer von 1933 bis 1945 Tagebuch geführt?
Lösungshinweis: Er hat schon als Schüler Tagebuch geschrieben. Über die Zeit des Nationalsozialismus wollte er aber vor allem Zeugnis ablegen für die Zeit danach. Damit der «Alltag der Tyrannei» nicht in Vergessenheit gerät.

Aufgabe 6. Was stand Victor Klemperer kurz vor der Bombardierung Dresdens bevor?
Lösungshinweis: Die Deportation ins KZ. Er war einer der wenigen Juden, die noch in Dresden waren. Da seine Frau Nicht-Jüdin war und er in einer sogenannten Mischehe lebte, wurde er bislang verschont.

Aufgabe 7. Wodurch gelang ihm und seiner Frau die Flucht?
Lösungshinweis: Als im Chaos der Zerstörung Dresdens niemand mehr auf den anderen achtete, entfernte Frau Klemperer den Judenstern vom Mantel ihres Mannes. Nun konnte sich das Ehepaar frei bewegen und Dresden verlassen. Später auf der Flucht nahmen sie außerdem mit Hilfe von falschen Pässen eine neue Identität an.

Aufgabe 8. Wohin flohen sie?
Lösungshinweis: Quer durch Sachsen und Bayern nach München.

Der Text ist entnommen aus:
http://www.br-online.de/wissen-bildung/collegeradio/medien/geschichte/klemperer/