Sonderthema
Victor Klemperer: LTI.
Notizbuch eines Philologen (Auszug)
Die Sprache des Dritten Reiches hat aus neuen Bedürfnissen heraus der distanzierenden Vorsilbe ent einigen Zuwachs zuteil werden lassen (wobei es jedes mal dahingestellt bleibt, ob es sich um völlige Neuschöpfung handelt oder um die Übernahme in Fachkreisen bereits bekannter Ausdrücke in die Sprache der Allgemeinheit). Fenster mußten vor der Fliegergefahr verdunkelt werden, und so ergab sich die tägliche Arbeit des Entdunkelns. Hausböden durften bei Dachbränden den Löschenden kein Gerümpel in den Weg stellen, sie wurden entrümpelt. Neue Nahrungsquellen mußten erschlossen werden: die bittere Roßlcastanie wurde entbittert ...
Zur umfassenden Bezeichnung der notwendigsten Gegenwartsaufgabe hat man eine analog gebildete Wortform allgemein eingeführt: am Nazismus ist Deutschland fast zugrunde gegangen; das Bemühen, es von dieser tödlichen Krankheit zu heilen, nennt sich heute Entnazifizierung. Ich wünsche nicht und glaube auch nicht, daß das scheußliche Wort ein dauerndes Leben behält; es wird versinken und nur noch ein geschichtliches Dasein führen, sobald seine Gegenwartspflicht erfüllt ist.
[…] … ich weiß von einem … Heroismus, dem jede Stütze der Gemeinsamkeit mit einem Heer, einer politischen Gruppe, dem jede Hoffnung auf künftigen Glanz durchaus abging, der ganz und gar auf sich allein gestellt war. Das waren die paar arischen Ehefrauen (allzu viele sind es nicht gewesen), die jedem Druck, sich von ihren jüdischen Ehemännern zu trennen, standgehalten hatten. Wie hat der Alltag dieser Frauen ausgesehen! Welche Beschimpfungen, Drohungen, Schläge, Bespuckungen haben sie erlitten, welche Entbehrungen, wenn sie die normale Knappheit ihrer Lebensmittelkarten mit ihren Männern teilten, die auf die unternormale Judenkarte gestellt waren, wo ihre arischen Fabrikkameraden die Zulagen der Schwerarbeiter erhielten. Welchen Lebenswillen mußten sie aufbringen, wenn sie krank lagen von all der Schmach und qualvollen Jämmerlichkeit, wenn die vielen Selbstmorde in ihrer Umgebung verlockend auf die ewige Ruhe vor der Gestapo hinwiesen! Sie wußten, ihr Tod werde den Mann unweigerlich hinter sich herzerren, denn der jüdische Ehegatte wurde von der noch warmen Leiche der arischen Frau weg ins mörderische Exil transportiert. Welcher Stoizismus, welch ein Aufwand an Selbstdisziplin waren nötig, den Übermüdeten, Geschundenen, Verzweifelten immer wieder und wieder aufzurichten. Im Granatfeuer des Schlachtfeldes, im Schuttgeriesel des nachgebenden Bombenkellers, selbst im Anblick des Galgens gibt es noch die Wirkung eines pathetischen Moments, das stützend wirkt – aber in dem zermürbenden Ekel des schmutzigen Alltags, dem unabsehbar viele gleich schmutzige Alltage folgen werden, was hält da aufrecht? Und hier stark zu bleiben, so stark, daß man es dem andern immer fortpredigen und es ihm immer wieder aufzwingen kann, die Stunde werde kommen, es sei Pflicht, sie zu erwarten, so stark zu bleiben, wo man ganz auf sich allein angewiesen ist in gruppenloser Vereinzelung, denn das Judenhaus bildet keine Gruppe trotz seines gemeinsamen Feindes und Schicksals und trotz seiner Gruppensprache: das ist Heroismus über jeglichem Heldentum.
Nein: den Hitlerjahren hat es wahrhaftig nicht an Heldentum gefehlt, aber im eigentlichen Hitlerismus, in der Gemeinschaft der Hitlerianer hat es nur einen veräußerlichten, einen verzerrten und vergifteten Heroismus gegeben, man denkt an protzige Pokale und Ordensgeklingel, man denkt an geschwollene Worte der Beweihräucherung, man denkt an erbarmungsloses Morden...
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Aus: Victor Klemperer: LTI (Lingua Tertii Imperii). Notizbuch eines Philologen. Reclam, Leipzig 1975. S. 9–18.