Главная страница «Первого сентября»Главная страница журнала «Немецкий язык»Содержание №20/2007

Das liest man in Deutschland

Was bedeutet verfehltes Leben?

Der in Zürich lebende Schweizer Schriftsteller Urs Faes, Jahrgang 1947, begann wie viele seiner Kollegen mit Lyrik und hat sich dann vor allem als Theater- und Romanautor einen Namen gemacht. Ab 1989 erschienen von ihm etliche Romane, in beinahe regelmäßigen Abständen. Auch in diesem Jahr war er bei der Leipziger Buchmesse vertreten – mit seinem neuen Roman Liebesarchiv.

Der Text beginnt poetisch und geheimnisvoll: Der Ich-Erzähler, ein Schriftsteller wie der Autor, befindet sich kurz nach Allerheiligen an einem feucht-grauen Novembernebeltag auf einer Lesereise. Auf dem Weg zur Lesung macht er einen Abstecher in das Dorf seiner Kindheit und besucht das Grab seines Vaters. Der Vater war vor zehn Jahren «als hartnäckiger Protestant ausgerechnet am katholischen Totensonntag beigesetzt worden». Wieder einmal wurde das Grab von Mutter, Geschwistern und Verwandten reichlich geschmückt. Daneben liegt, wie Jahr für Jahr, ein weiterer Blumenstrauß von einer «Verehrerin», die dem Toten «ewige Ruhe und stilles Eingedenken» entbietet.

Der Gang über den Friedhof ruft im Erzähler Erinnerungen wach: an den Vater und den Bruder Michael, der immer Michi oder einfach der Kleine geblieben war bis zu seinem frühen Tod im Heim, ferner an Rosenzweig, der ihm von Rabbi Ben Elieser und vom Balschem-tow erzählte, ihn also offenbar mit dem Chassidismus vertraut gemacht hat. Als der Ich-Erzähler am Ort der Lesung ankommt, spricht ihn eine Frau vor dem Lokal an und gibt sich als die ehemalige Geliebte seines Vaters zu erkennen. Nach der Lesung steckt sie ihm einen Zettel mit ihrem Namen Anna Altmann und ihrer Telefonnummer zu und schlägt ihm vor, sie zu besuchen. Bevor es dazu kommt, erhält der Erzähler im Frühjahr die Mitteilung, dass Anna Altmann gestorben sei. Der Brief – er stammt von Annas Tochter Vera Altmann – enthält auch das Foto, das Anna ihm vor der Lesung gezeigt hatte, auf dem Anna und sein Vater zusammen abgebildet sind. Die Tochter teilt ihm weiter mit, dass die Mutter für ihn einige Sachen zusammengelegt hat, und bittet ihn, ein paar Dinge abzuholen: Fotos, Briefe, Liebeszeichen, die Anna über all die Jahre aufgehoben hatte, Zeugnisse der Liebe zwischen Anna und seinem Vater. Vera nennt sie das «Archiv», das «Liebesarchiv».

Doch erst einmal unternimmt er eine Lesereise nach Lettland und beschäftigt sich in seinen freien Minuten mit dem Leben seines Vaters, wobei er sich in erster Linie an jenen Sommer erinnert, in dem der Vater während der frühen fünfziger Jahre angeblich zu einer Expedition aufgebrochen war und seine Familie allein gelassen hatte – das Jahr, in dem der Bruder endgültig ins Heim musste und im Fluss ein unbekannter Toter gefunden worden war. Der Vater war, wie dem Sohn jetzt klar wird, zu Anna Altmann gegangen. Nur die Mutter schien damals den wahren Grund des väterlichen Verschwindens erahnt zu haben. Selbst zu Weihnachten war der Vater nicht nach Hause gekommen.

Die Vorträge und Gespräche in Riga drehen sich um das Thema Heimat und Herkunft, um Gedächtnis und Erinnerung. Die Stadt selbst ist dem Protagonisten durchaus vertraut, denn die Mutter hatte ihm schon oft von Riga erzählt, so lebhaft und genau, dass er die Stadt zu kennen glaubte, obwohl er bis dahin noch nie dort gewesen war – ebensowenig wie die Mutter. Denn auch sie kannte die Stadt nur aus Erzählungen eines jungen Mannes, den sie in ihrer Jugend als jüdischen Flüchtling aus dem Memelland kennengelernt hatte. Dieser Simon war 1938 in die Schweiz gekommen, aber dann später auf der Flucht in Frankreich verschollen. «Verschollen, hatte die Mutter gesagt und geweint.» Offenkundig hatte auch sie ein Geheimnis. Im Laufe der Zeit fragt sich der Erzähler sogar, ob nicht vielleicht Simon, der Flüchtling aus dem Baltikum, sein Erzeuger sein könnte. Vieles spricht dafür.

Vor allem aber geistert der Vater weiter durch die Geschichte. Der Sommer seines Verschwindens nimmt im Gedächtnis des Erzählers Formen an, ganz allmählich füllen sich die Bilder, bekommen Konturen, werden plastischer und deutlicher. Nach und nach lernt der Leser die näheren Familienumstände kennen.

Der Erzähler fährt nach langem Zögern doch zu Vera und lernt durch sie seinen Vater als einen ganz anderen Menschen kennen, fröhlich und unbefangen, ein eifriger Briefschreiber dazu. Zu Hause hatte er nur selten geschrieben. Am Ende fragen sich beide: Hatten Anna und Robert die falschen Partner geheiratet?

Viele Einzelheiten werden beiläufig mitgeteilt, beispielsweise wie sich Robert und Anna kennengelernt haben, als nämlich der Vater während des Krieges im Grenzdienst tätig war und die Schweizer Grenze zu Deutschland gegen jüdische Flüchtlinge «verteidigen» musste. Anna und Robert haben sich auch später noch getroffen, nachdem beide andere Partner geheiratet hatten. Der Kontakt war allem Anschein nach nie abgebrochen. Den letzten Brief erhielt Anna von Robert im August 1987, kurz vor seinem Tod.

Vera und der Erzähler fahren schließlich dorthin, wo die beiden einen Sommer lang miteinander gelebt haben und offensichtlich glücklich waren, ins sogenannte Schwarzbubenland. Sie schauen sich das Liebesnest von Robert und Anna an und ergehen sich in allerlei Vermutungen. Haben beide in den wenigen Wochen, in denen sie hier waren, «das leben können, was ihnen entsprach»? Warum sind sie in ein falsches Leben zurückgekehrt? Lag es daran, dass in dieser Zeit Veras Vater starb? Er war ins Wasser gegangen und er war jener Tote, der später im Dorf angeschwemmt worden war. Anna und Robert kehrten zu ihren Familien zurück. Robert ist allerdings im Grunde dort nie richtig angekommen. «Er blieb abwesend mitten unter uns», erinnert sich der Erzähler. Gleichwohl wurden noch zwei Schwestern geboren, Johanna und Elisabeth, drei Jahre nach der Rückkehr des Vaters. Doch blieb der Vater weiterhin ein Gast im Hause, eine Aussprache hat es in der Familie nie gegeben, nur «banales Weiterleben».

Nun sind alle tot. Auf der Beerdigung der Mutter kondoliert dem Erzähler eine Frau, die er nicht sofort wiedererkennt, es ist Isabelle, die ihm einmal für eine Nacht die Gewissheit verschafft hat, dass er geliebt werde. Die Mutter dagegen hat ihm die Gewissheit nie gegeben, «geliebt zu werden, einfach so». Hat der Vater diese Gewissheit bei Anna gefunden? Das Notizbuch der Mutter, das ihm die Schwester gegeben hatte, enthält nur Klagen, kein Aufbegehren.

Das Buch ist verhalten und sensibel erzählt. Feinnervig lotet Urs Faes die wechselnden Empfindungen und Befindlichkeiten der drei Hauptpersonen Robert, seiner Frau und Anna aus. Daneben tauchen stichwortartig bestimmte Themenfelder, Problemkomplexe und existentielle Fragen auf, die hellhörig machen und ihrerseits Fragen wecken: was heißt verfehltes Leben? Was hat es mit dem menschlichen Glück auf sich? Hat der Mensch ein Anrecht auf Glück, und wenn ja, auf wie viel Glück, auf schrankenloses Glück oder nur auf ein bescheidenes? Kann und darf man seinem Glück nachjagen, womöglich auf Kosten anderer, oder hat Sigmund Freud mit seiner Behauptung tatsächlich recht, dass menschliches Glück in der Schöpfung nicht vorgesehen sei? Gibt es überdies gelungene, glückliche Ehen? Und wie steht es mit unerfüllten Lebensträumen? Nicht jeder geht daran zugrunde, man kann auch daran wachsen und sich manches auf Umwegen erfüllen. Welchen Stellenwert können und dürfen Pflicht und Strenge im Familienleben beanspruchen? «Wo war die Freude?», fragt der Erzähler sich und seinen toten Bruder. Lohnt sich ein Leben ohne Lebensfreude?

Neben Heimat und Herkunft, Gedächtnis, Erinnerung und Spurensuche wird auch das Problem von Sprechen und Sprache immer wieder angetippt: Was ist Sprache? Der Sohn hält darüber einen Vortrag. Nach Rückkehr des Vaters hatte es keine Aussprache gegeben, der Vater war verstummt und förmlich an seinem Schweigen erstickt. Die Mutter wurde immer wortkarger und verstummte schließlich gleichfalls. Daneben kommt zwei Liebenden die gemeinsame Sprache abhanden, und sie trennen sich, Therese und der Ich-Erzähler, die für eine kurze Weile miteinander verheiratet waren. Das Sprechen ist mithin, so die unabwendbare Einsicht, wichtig. Es macht frei und wehrt Traumata ab.

Und worin besteht die Aufgabe der Literatur? Rosenzweig hat den Erzähler gelehrt, «dass man das Leben nur mit Geschichten überlebt».

Von Ursula Homann

Urs Faes: Liebesarchiv. Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2007.

Der Text ist entnommen aus:
http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=10606&ausgabe=200704