Главная страница «Первого сентября»Главная страница журнала «Немецкий язык»Содержание №21/2007

Das liest man in Deutschland

Die konkrete Utopie

Der wiederentdeckte Roman «Rummelplatz» von Werner Bräunig rehabilitiert einen in der DDR gescheiterten Autor

Dieses Manuskript erschlägt einen schier. 621 Seiten, die mit den Worten «Ende des ersten Bandes» schließen. Dem Schriftsteller Werner Bräunig (1934–1976) schwebte nichts Geringeres vor, als eine umfassende Chronologie der ersten DDR-Dekaden zu schreiben, ein Projekt, das an der Dogmatik der DDR-Oberen scheiterte. Wie sehr die Kaste um Honecker mit ihrer Kulturpolitik das Leben und den Idealismus von einzelnen Menschen zerstörte, wird an kaum einem anderen Künstler besser deutlich als an Werner Bräunig. Sechs Jahre seines Lebens hatte er in den Roman mit dem Arbeitstitel Der eiserne Vorhang gesteckt. Von der öffentlichen Denunziation seiner Person und seines Werks auf dem 11. Plenum der SED im Jahr 1965 erholte er sich nie wieder. 1976 starb Bräunig, gerade 42-jährig, einsam, alkoholkrank und verkannt in Halle an einer Lungenentzündung.

Nun, 40 Jahre später, erscheint das Manuskript im Aufbau Verlag unter dem Titel Rummelplatz zum ersten Mal. Der Roman ist ein Ereignis, weil er Geschichte an Menschen sichtbar macht und Werner Bräunig sein feines Sensorium auf den tiefsten Riss in der deutschen Historie richtet, dem zwischen Faschismus und Sozialismus. Die Traumatisierungen der Menschen durch den Zweiten Weltkrieg tauchen immer wieder in alptraumhaften Sequenzen und Erinnerungsfetzen auf: Liegestütze über einem offenen Dolch, nackte Männer im Schnee mit kaltem Wasser übergossen – «die Decke der Jahre war dünn zwischen Krieg und Gegenwart», heißt es an einer Stelle im Roman. Diese Brutalität, dieser temporäre Ausbruch des Tierischen im Menschen, lässt sich nur langsam wieder domestizieren. Indem Bräunig zurück und nach vorne, nach Osten und nach Westen schaut, gelingt ihm etwas viel Größeres als das bloße Porträt einer Übergangszeit: Er entwirft das Panorama eines Deutschlands, das sich verloren hat: «Da saßen sie nun und suchten den entgötterten Himmel ab und den gestohlenen Horizont, suchten die Abenteuer und den enormen Wind, und suchten in Wahrheit ein Vaterland.»

1949. Der junge Staat DDR beginnt sich gerade zu formieren, Strukturen festigen sich. Der zarte Aufschwung wird getragen von der Euphorie junger Menschen, die wirklich an den Anbruch einer neuen Zeit glauben: die Herrschaft der Arbeiterklasse. Für diesen Glauben sind sie bereit, ihre ganze Kraft und die besten Jahre ihres Lebens zu geben. Das Volk ist gespalten. Es gibt die Idealisten, die Opportunisten und es gibt die Gleichgültigen. Die Gegner schweigen oder haben das Land bereits verlassen. Es ist eine Zeit des Misstrauens. Wer ist Freund, wer Feind? Kommen die Sabotageakte aus den eigenen Reihen oder von «drüben»? Die Reibungen, die zwischen den Systemen entstehen, sind gewaltig. Was hat einer vor 1945 gemacht? Eben noch HJ, jetzt FDJ. Die Schmeichler, die Kriecher und die «Parteiabzeichenträger» sind Bräunig zuwider. Achtung verdienen bei ihm jene, die zu ihren Idealen stehen und das notfalls mit Gefängnis oder Arbeitslager bezahlen. «Genosse seit 1928», das ist die größte Auszeichnung, die er einer Figur verleihen kann.

Aber bisher war der Sozialismus nur eine Idee und bezog seine Kraft allein aus dem Widerstand. Nun muss tagtäglich verhandelt werden, wie eine konkrete Alternative aussehen soll. Darüber wird in jeder Arbeitspause und sogar nach Feierabend diskutiert. Von dieser politischen Leidenschaft ist man heute, in einer Zeit der politischen Gleichgültigkeit und der Dominanz der Idee vom persönlichen Glück, zugleich befremdet und fasziniert.

Im Zentrum des Romans steht die Wismut AG, jener «Staat im Staate», der um 1950 rund 200 000 Menschen beschäftigt und für 60 Prozent der Uranproduktion der Sowjetunion verantwortlich ist. Gute Verdienstmöglichkeiten ziehen Glücksritter und harte Burschen an. Die Sitten sind rau, die Planerfüllung Knochenarbeit. Der Bergbau in der Wismut AG kann auch als eine Metapher für die frühe DDR gelesen werden: harte Arbeit, Mangelwirtschaft, Irrwege, alte Schächte, Rückschläge, Enge, Klaustrophobie. Bräunig schildert die Ereignisse ungeschönt und radikal – Alkohol, Prostituierte, die allgegenwärtigen russischen Soldaten – und wendet damit den Realitätsanspruch der DDR-Oberen gegen sich selbst – vielleicht ist diese Ironie die eigentliche Kränkung, die die Parteiführer so gereizt hat.

Vor dieser Kulisse siedelt er seine jungen Figuren an, Christian Kleinschmidt, der Professorensohn, der vor seinem Studium zur «Bewährung in die Produktion» muss. Peter Loose, ein rauer, aber ehrlicher Bursche. Nickel, der überzeugte Funktionär, Ruth Fischer, die junge Aktivistin und Feministin, und noch einige andere, die nahezu gleichberechtigt nebeneinander stehen. Bräunigs Figuren sind wie Skulpturen aus einem Stamm gehauen, mit einigen fein ausgearbeiteten Stellen, an anderen noch roh und unfertig.

Hier weiß einer, wovon er redet. Kein Schnörkel, kein Adjektiv zu viel. Jeden Satz scheint Bräunig mit jeder Faser seines Körpers erlebt zu haben, das macht die ungeheure Authentizität seiner Sprache aus. Immer da, wo er versucht, fern von sich zu schreiben – etwa bei den Passagen, die im Westen spielen – ist er am schwächsten. Aber diese Passagen sind bei Weitem in der Minderheit, es überwiegt die griffige, packende Sprache. Das Vokabular des Bergbaus tut sein Übriges: «Der Junge wusste nur, dass er morgen wieder in den Abbau musste, Gestein sacken, Hunte schleppen, Luft aus rasselnden Lungen keuchen, niederbrechen, sich hochreißen erneut.»

Ein Bergwerk der Sprache, aus dem Bräunig mit jedem Satz glänzende Brocken herausschlägt. Und dann gibt es da noch diese philosophischen Momente, die immer wieder im Text aufblitzen wie der rote Kobalt im Abraum, ein plötzliches Innehalten in der Schicht, das es der Figur wie dem Leser erlaubt, sich für einen Moment über alles zu erheben und die ganz großen Fragen zu stellen: «Wir sind immer in Bewegung, also muss man da ein Antrieb sein, es muss eine Kraft wirken. Und wer nicht Antrieb ist, und wer nicht wirken will, und wer nicht wissen will, der bleibt immer Getriebener.»

Durch den ständigen Perspektivwechsel zwischen den Figuren entsteht weniger ein geschlossener Roman als ein gleitendes Charakterisieren. Oft betrachtet Bräunig dabei nicht nur die Figuren, sondern auch das Umfeld um sie herum, als treibe ihn der universelle Anspruch, alles ganz genau, mit allen Ursachen und Wirkungen zu beleuchten. Manchmal ist es, als verirre er sich in der Erinnerung seiner Figuren, dann wieder setzt Bräunig den Perspektivwechsel meisterhaft ein: Zwei stehen sich gegenüber, einer betrachtet den anderen, der Leser sieht in beide Köpfe und in diesem Dazwischen entsteht eine Ahnung von der Isoliertheit des Menschen, die hin und wieder in einem Gespräch überwunden wird. Auf der politischen Ebene wiederum entsteht in dieser Multiperspektivität, in diesem Nebeneinander der Stimmen jene Demokratie, die es im System DDR nie gegeben hat.

Wenn die Wismut AG die zentrale Kulisse des Romans ist, so ist Arbeit das zentrale Thema. Auch wenn sich Christian Kleinschmidt, der Intellektuelle, anfangs gegen sie wehrt, geht er doch schließlich in ihr auf, erlebt sie, in einer der stärksten Passagen des Romans, als Befreiung von den Qualen des Seins. «Und es geschah etwas Seltsames. Die Arbeit überkam ihn wie ein Rausch. Er setzte den Meißel an und stemmte ihn mit aller Kraft in den Berg, der Druck der Pressluft schüttelte seinen Körper, der Rückschlag lief wie ein Schauder durchs Fleisch. [...] Und er spürte den Berg nicht mehr und die Dunkelheit nicht und nicht die Einsamkeit. Er war ein anderer. Die Fremdheit war in sich selbst zurückgefallen für diese Nacht.»

Bräunigs Erzählen ist ein Erzählen des Körpers. Mit dem zähen Vorarbeiten Meter um Meter hat Bräunig nicht zuletzt seine eigene Situation des Schreibens benannt. Das ist die dritte und tiefste Ebene, für die die Wismut AG steht: Das kreative Arbeiten überhaupt. «Schreiben ist wie Bergmannsarbeit», sagt Bräunig im Aufruf zur Bitterfelder Konferenz, «tief in die Stollen des Lebens eindringen muss der Schriftsteller.»

Bräunig gelingt mit seinem Roman etwas äußerst Seltenes: Er macht eine Utopie greifbar und vermittelt eine Ahnung davon, wie eine neue Gesellschaft hätte aussehen können. Mit dem jungen Staat DDR ging für einen historischen Wimpernschlag ein Traum in Erfüllung, der große Traum von der anderen Gesellschaft, in der die Privilegien nicht vererbt werden, sondern die Macht tatsächlich in Hände gelangt, in denen sie noch nie lag. Die baldige Verhärtung der Strukturen führte zum Scheitern dieser Utopie – das Graben der Gänge und Schächte beschreibt eben jenen Prozess der Verhärtung und der Kanalisierung von Leidenschaft.

Ob es aus dieser scheinbaren Zwangsläufigkeit einen Ausweg gibt, ob also eine Utopie auf Dauer ohne Strukturen aufrechterhalten werden kann, lässt der Roman offen. In dem geplanten zweiten und dritten Teil hätte Bräunig sie vielleicht beantwortet. Das Schicksal wollte es, dass die, die am meisten für die neue Gesellschaft glühten, am tiefsten von ihrem Scheitern getroffen wurden. Christa Wolf fragt in ihrem Vorwort zu Rummelplatz: «Kann der Roman heute noch wirken, nach 40 Jahren?» Und sagt: Ja, er könne, wenn auch nicht auf dieselbe Weise, wie er damals gewirkt hätte. Aber eben das macht große Literatur aus, dass sie wirkt. In jeder Zeit.

Von André Hille

Werner Bräunig: Rummelplatz. Herausgegeben von Angela Drescher. Aufbau Verlag, Berlin 2007.

Der Text ist entnommen aus:
http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=10562&ausgabe=200704