Literatur
Herta Müller: Barfüßiger Februar
(Fortsetzung aus Nr. 16, 17, 18, 19, 20/2007)
Die große schwarze Achse
Die Kantorin summte in sich hinein. Der Agronom tanzte mit dem Knie. Ionel tanzte mit dem Finger. Der Schmied sang laut und heiser mit. Leni stand eine runde Träne auf der Wange. Die Schneiderin riß sich vom schwarzen Trauerstein und Lenis Träne los, war erbsengrün und in der Freude ihres weißen Spitzenkragens rief sie: «Bravo.»
Der Herzog ging über die Bühne. Hinter ihm gingen drei Diener, und hinter den Dienern ging ein Pferd. Die Diener waren kleiner als der Herzog und älter, und das Pferd hatte rote Bänder in der Mähne.
Ionel schaute auf die Beine des Pferdes. Seine Quaste streifte den Mund des Schmieds. Leni kaute am seidnen Zipfel ihres Kopftuchs.
«Euer Gnaden», sagte der älteste Diener, «der Jäger hat gestanden, daß Genoveva lebt.» Der kleinste Diener lief und zeigte mit der Hand auf ein Gestrüpp. Die Schneiderin flüsterte Leni etwas ins Ohr.
«Ists Traum, oder ists Wirklichkeit», rief der Herzog. Genoveva erhob sich aus dem Gestrüpp. Ihr Haar war lang und schwarz. Ihr Haar war an den schwarzen Enden in die Nacht geglitten. Ihr Kleid war leicht und war nicht welk.
Sie lief auf den Herzog zu. Hinter ihr lief ihr Kind. Das hielt einen großen Schmetterling in der Hand. Der zitterte vom Laufen und war bunt. Als das Kind hinter Genoveva stehenblieb, rief der Herzog: «Meine Genoveva» und Genoveva rief: «Mein Siegfried.» Sie umarmten sich und der Schmetterling zitterte nicht. Der Schmetterling war tot und war aus Papier.
Der Briefträger biß sich auf die Wurzeln seines Gesichts. Er hatte eine Lippe und Zähne hatte er. Und seine Zähne hatten eine Schneide. Die Kantorin lachte. Ihre Zähne waren weiß, waren Meerrettich und waren Schaum. Auf ihrer Schulter hing ein blauer Blumenstrauß und neigte sich auf ihren Arm.
Das Pferd mit den roten Bändern fraß Gras auf der Bühne. Siegfried hob das Kind gegen den Himmel. Die nackten Füße baumelten vor seinem Mund. Siegfrieds Mund stand offen. «Mein Sohn», sagte er, und sein Mund war so groß, als würde er die nackten Zehen seines Kindes atmen. Und zu den Dienern sagte Siegfried: «Jetzt feiern wir, jetzt wird es lustig sein, mein Volk, und tanzen.» Er hob Genoveva und das Kind in den Sattel. Das Pferd stampfte mit dem Hufe im Gras. Ich wußte, daß es oben auf dem Bahndamm von dem Gras gefressen hatte, das immer zitterte und immer eine Weile mit den Zügen fuhr. «Von diesem Gras muß es bald wandern», dachte ich.
Genoveva winkte mit der Hand und das Kind winkte mit dem toten Schmetterling. Ionel winkte mit dem dicken Ring, der Briefträger winkte mit der Schirmmütze, der Schmied winkte mit der leeren Flasche. Leni war schwarzeingeschlossen und winkte nicht. Die Schneiderin rief: «Bravo.» Der Agronom winkte mit dem Fischgrätenärmel und mein Onkel rief: «Deutsche Zigeuner sind Deutsche.»
Meine Kette war schwarz wie das Gras. Ich sah sie nicht. Sie war mit ihren Enden in die Nacht geglitten. Ich trat mit dem Fuß nach ihr und hörte sie. Ich schwenkte mein Taschentuch.
Der Sänger kam auf die Bühne und winkte mit der Geige. Er sang mit gebrochener Stimme und der Bauch seiner Geige war tief wie die Nächte und summte unter mir: «Das Schicksal ist manchmal so schwer/ und wenn man glaubt, es geht nicht mehr,/ kommt von irgendwo ein Lichtlein her.»
Die Kantorin weinte in ein zerknülltes Taschentuch. Neben den Sänger trat ein Mädchen. Es trug eine brennende Laterne. Es hatte eine große welke Rose im Haar. Und nackte Schultern hatte es, die waren durchleuchtet, und waren aus Glas. Der Agronom glitt mit den Augen über das Glas dieser Schultern und seine Fischgräten drängten ihn dicht neben mich, näher zur Bühne.
Der Sänger sang ein Lied von wenig Essen und wenig Geld. Die Arme des Mädchens waren durchsichtig vor glatter Haut und sie rasselten von den vielen wilden Armringen, die zu den Ellbogen hinauf und gleich wieder zurück über die Hände stürzten. Die Armringe zerbrachen schillernd und waren in der Flamme der Laterne wieder ganz, und heiß durchleuchtet waren sie vom Licht.
Das Mädchen hielt einen schwarzen Hut in der Hand und ging von Gesicht zu Gesicht, von Hand zu Hand.
Mein Onkel in der letzten Reihe hatte ein flammendes Gesicht und ließ eine handvoll Münzen in den Hut fallen. Der Kantorin fiel ein zerknüllter Geldschein aus der Hand. Die Laterne durchglühte ihren Hals und schwemmte ihn, bis das Geld im Hut versunken war, hinaus aus der Nacht.
Mäh|ne, die; -, -n [frühnhd. mene (Pl.), mhd. man(e), ahd. mana, urspr.ÿ= Nacken, Hals, dann übergegangen auf das den Nacken od. Hals bedeckende Haar]: 1. langes, herabhängendes Haar am Kopf u. bes. an Hals u. Nacken bestimmter Säugetiere: eine zottige M.; der Löwe schüttelt seine M. 2. (scherzh.) (beim Menschen) Haarschopf mit langem, dichtem, wallendem Haar: eine lange, lockige, blonde M.
Quas|te, die; -, -n [mhd. quast(e), queste, ahd. questaÿ= (Laub-, Feder)büschel, urspr.ÿ= Laubwerk]: 1. a) größere Anzahl am oberen Ende zusammengefasster, gleich langer Fäden, Schnüre o.ÿÄ., die an einer Schnur hängen: die -n an seiner Uniform; Hausschuhe mit -n; b) an eine Quaste (a) erinnerndes Büschel (Haare o.ÿÄ.): der Schwanz des Löwen endet in einer dicken Q. 2. (nordd.) Quast (a).
Ge|strüpp, das; -[e]s, -e [Kollektivbildung zu mhd. struppeÿ= Buschwerk]: wild wachsendes, fast undurchdringliches Gesträuch: etw. ins G. werfen; Ü das G. der Barthaare; sich im G. der Paragraphen verfangen.
welk <Adj.> [mhd. welc, ahd. welk, urspr.ÿ= feucht, Bedeutungswandel wohl unter Einfluss von ahd. arwelkenÿ= die Feuchtigkeit verlieren]: nicht mehr frisch u. daher schlaff, faltig o.ÿä.: -es Laub, Gemüse; die Blumen werden schnell w.; der Salat ist schon ganz w.;
Ü -e Haut.
nei|gen <sw. V.; hat>: 1. a) aus der senkrechten od. waagerechten in eine schräge Lage bringen, schräg halten: die Flasche n.; b) aus der senkrechten od. waagerechten Lage [leicht] nach unten beugen, biegen, senken: den Kopf zum Gruß n. 2. <n.ÿ+ sich> a) sich aus der senkrechten od. waagerechten in eine schräge Lage bringen; sich schräg legen: die Waagschale neigt sich (sinkt) [nach unten];
b) sich aus der senkrechten od. waagerechten Lage [leicht] nach unten beugen, biegen, senken: die Zweige neigten sich unter der Last. 3. <n.ÿ+ sich> schräg abfallen; leicht abschüssig sein: eine geneigte Fläche. 4. <n.ÿ+ sich> (geh.) (von einem Zeitabschnitt) zu Ende gehen: der Tag hat sich geneigt.
5. a) einen Hang zu etw. haben: sie neigt zu Erkältungen, zur/zu Schwermut; b) im Denken u. Handeln eine bestimmte Richtung einschlagen, vertreten: ich neige dazu, ihm Recht zu geben.
zer|knül|len <sw. V.; hat>: in der Hand (zu einer Kugel o. Ä.) zusammendrücken: einen Zettel, einen Brief z.
schil|lern <sw. V.; hat>: in wechselnden Farben, Graden von Helligkeit glänzen: ins Rötliche s.; eine [bunt] schillernde Seifenblase; Ü ein schillernder (schwer durchschaubarer) Charakter.
schwem|men <sw. V.; hat>: 1. (von fließendem Wasser) tragen, befördern, transportieren; spülen: die Flut hatte Tang an den Strand geschwemmt; eine Leiche wurde an Land geschwemmt. 2. (österr.) (Wäsche) spülen. 3. (Gerberei) einweichen, wässern: Felle, Häute s. 4. (österr.) (Holz) flößen: Baumstämme s.
Aus: Herta Müller: Barfüßiger Februar. Rotbuch Verlag, Berlin 1987. S. 5–23.